Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater

Tekst
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Bei aller Arbeit schreibt Walter jetzt in der „Neuen Zeitung“ auch noch eine Artikelreihe über „Thüringische Landespolitik“. Er ist jetzt „die rote Seele Thüringens“141. Im November 1921 verlegt die Partei die Bezirksorganisation nach Jena. Walter meldet sich in Erfurt ab und beschäftigt sich in Jena am Lutherplatz ganz mit der Leitung der KPD. Offiziell arbeitet er hier ein Jahr lang für die „Neue Zeitung“. Seine Hauptaufgabe sieht er, ganz der Parteilinie folgend, darin, die KPD aus der Isolation herauszubringen, in der sie steckt. Er führt in der Bezirksleitung neue Methoden ein. Jede Sitzung wird von ihm vorbereitet, straff durchgeführt. Er lebt schlicht und ohne viel Aufsehen, wandert und treibt Sport.142 Trotz der vielen Arbeit kehrt er an Wochenenden regelmäßig zurück zu Frau und Tochter in Leipzig.143 Er schreibt und versucht den Spagat zwischen Partei und Familie.144 Indes steigt er schnell in der Parteiführung auf. Immer öfter muss er zu Sitzungen nach Berlin und immer seltener schafft er es zu seiner Familie. Im Januar 1922 schreibt er an Martha, dass er am Sonnabend gut in Weimar angekommen sei, mittags aber gleich wieder nach Jena fahren müsse und am Sonntag zum Zentralausschuss nach Berlin weitermüsse. Er hat gemerkt, dass es mit Martha in den Ferien schöner ist als hier auf der Bahn. Er ist trotzdem frohen Muts.145 Sein Enthusiasmus ist ansteckend, auch sein Vater tritt jetzt der KPD bei.

Schon im Februar 1922 verwirft die Komintern die gerade erst zaghaft erprobte Einheitsfront erneut als opportunistisch. Moskau weist die Zentrale an, eine offensivere Linie durchzusetzen. Walters Jugendfreund Jacob Herzog schreibt ihm aus Moskau, wo er die nach Moskau verlegte Jugendkonferenz vorbereitet. Das Wetter sei angenehm und lange nicht so kalt wie Ende Januar in Berlin.146

Genau wie Herzog ist Walter sehr an der Jugendpolitik interessiert. Er will nutzen, dass die Jugend eine aktivere Rolle als je zuvor in der Politik spielt. Er unterstützt so auch den ersten KPD-Reichsjugendtag zu Pfingsten in Jena.147 Tanz, Gesang und Vorträge sollen das Interesse von politisch gleichgültigen Jugendlichen wecken.

Sechs Monate nach seinem Umzug aus Leipzig legt das Thüringische Innenministerium mit dem Gesetz zum Schutze der Republik Walters Akte an. Er wird jetzt ständig von „persönlichen Beauftragten“ überwacht. So wissen die Behörden schon Tage im Voraus, wann die nächsten KPD-Treffen stattfinden werden. Walter geht in seiner Arbeit auf, aber beliebter macht ihn das auch bei vielen in der Partei nicht. Auf der Rückfahrt von einer Konferenz von Gera nach Jena sitzt er mit anderen Delegierten in einem offenen Wagen der vierten Klasse. Die meisten kommen aus der Jugendbewegung und sind froh, der Konferenz entkommen zu sein. Walter aber redet über Politik und ermüdet seine Mitreisenden mit politischen Fragen, die sie „zum Überdruss“ besprochen haben. „Das ist aber ein Knochen!“, meinen die Jugendlichen.148

Doch seine Arbeit zeigt Resultate. Im Herbst ist sein Bezirk auf Vordermann. Seine Bilanz kann sich sehen lassen. Nach zwei Jahren Neuaufbau existiert eine stabile Organisation mit 110 Ortsgruppen und 30 000 Mitgliedern. Im Sommer nimmt Walter an seinem ersten Parteitag teil. Im Anschluss wählt die Thüringer Parteiorganisation ihn zum Delegierten für den IV. Weltkongress der Komintern in Petrograd und Moskau. Es ist seine erste Reise in die Sowjetunion. Die Fahrt ist kompliziert, Sowjetrussland ist von den Spuren des Bürgerkriegs gezeichnet. Genossen vor Ort warnen: „Sagt jedem Delegierten, der hierherkommt, er soll sich ein Paar Gummischuhe mitbringen. Hier kann er sich keine kaufen, und er ersäuft sonst im Straßendreck. Auch müssen die Genossen unbedingt genügend warme Kleidung mitbringen. Es sollen unbedingt warme Reisedecken mitgenommen werden, die auch als Bettdecke dienen können. Desgleichen kleines Geschirr (Kaffeekanne aus festem Material – nicht Porzellan), Teelöffel, Teesieb, feste Tassen, Besteck, etc.“149

In Petrograd besucht Walter unter anderem das Putilow-Traktorenwerk, einen Ausgangsort der Februarrevolution von 1917. Mit dem polnischen Genossen Marchelewski hält er von einem Podest auf einer Betriebsversammlung als Delegierter des Weltkongresses eine Rede vor den Arbeitern.150

Weiter in Moskau wird er am Nikolaevsky Bahnhof auf dem Bahnsteig von einem Komintern-Mitarbeiter empfangen.151 Ein einfaches Pappschild bittet ihn mehrsprachig, sich zu melden. Ein Bus bringt ihn in das Hotel Lux, das für die Komintern reserviert ist. Das verstaatlichte Hotel liegt zentral an der geschäftigsten und lautesten Hauptstraße Moskaus. Ein „geschmackloses dreistöckiges Monster mit schweren Säulen, rotem Marmor und goldgerahmten Spiegeln“152. Verwaiste Lounges sind zu Gruppenzimmern umfunktioniert. In einem Glaskasten am Treppenabsatz vor dem Fahrstuhl überprüft ein Wächter die Passierscheine und weist Zimmer und Lebensmittelkarten zu.

Trotz aller Ideale ist das Leben im Hotel von Hierarchien und Regeln dominiert. Es gibt es drei Kategorien von Genossen: Unten stehen das technische Personal und Mitarbeiter der Jugendinternationale; in der Mitte Kader, Redakteure und Assistenten. An der Spitze Parteiführer und Vertreter ausländischer Parteien. Die höheren Ränge bekommen größere und hellere Räume, mehr und bessere Nahrung, Kleidung und Toilettenartikel. Walter ist noch ein kleiner Kader unter vielen und muss sich mit mageren Rationen abgeben. Die Hierarchien sind klar und werden starr beachtet. Unmöglich, daran zu rütteln.

Die Büros der Komintern sind nur einen kurzen Fußmarsch vom Lux entfernt, Ecke Mochowaja Straße und Wosdwischenka Straße nahe dem Alexandergarten des Kremls. Jede Parteidelegation hat hier ein bis zwei Zimmer. Im Eingang steht eine Wache mit Polizisten, die Fremdsprachen verstehen. Besucher kommen nur ins Haus, nachdem eine Wache mit dem Büro telefoniert hat und die Delegation ihre Besucher abgeholt hat.153 Für Walter führen jetzt alle Wege zu dem dreistöckigen neoklassizistischen Gebäude im Herzen der Stadt. Alle wichtigen Institutionen sind in Sichtweite. Der Kreml, der Rote Platz, die Staatsbibliothek und das Marx-Engels-Institut sind um die Ecke, das Haus der Gewerkschaften auf der anderen Straßenseite. Nicht ohne Stolz schickt er Martha „herzliche Grüße aus dem Lande der proletarischen Herrschaft“154. Außerhalb des Kremls ist Moskau noch stark vom Bürgerkrieg gezeichnet. Obdachlose Kinder und Flüchtlinge der Hungersnot an der Wolga und im Ural streifen bettelnd durch die Stadt, machen Feuer, um sich zu wärmen. Auch Walter ist nicht gleichgültig. Um zu helfen, kauft er einen Stapel Postkarten der Internationalen Arbeiterhilfe für die Notleidenden – „der Reinertrag fließt den Hungernden zu“155.

Gleichzeitig verknüpft er die Situation mit dem politischen Kampf. Noch aus Moskau schreibt er für die „Neue Zeitung“ in dem Artikel „Die Taktik der Kommunistischen Internationale“, dass „die Tätigkeit der Kommunistischen Parteien in dieser Periode besonders schwierig [ist]. […] Gerade in dieser Situation haben die kommunistischen Parteien die Aufgabe, […] die proletarischen Massen unter Anknüpfung an ihre täglichen Nöte zu aktivieren“156. Auf dem Weltkongress selber arbeitet er an Programm-, Gewerkschafts-, Genossenschafts- und Jugendfragen. Höhepunkt ist die Rede Lenins „Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektive der Weltrevolution“157.

Zur allgemeinen Überraschung besucht Lenin nach seiner Rede die deutsche Delegation. Er ist überarbeitet, sein Gesicht blass und eingefallen, von Krankheit gezeichnet. Er muss sich zusammennehmen und spricht nicht lange. Trotzdem schüttelt er nach dem Gespräch Walter und der restlichen Delegation die Hand und wünscht alles Gute. Die meisten bleiben noch eine Weile in Moskau, um bei Tee und Brot privat zu sprechen.158 Ende Dezember kehrt Walter nach Jena zurück, wo die Polizei längst wieder nach ihm fahndet. Kaum zurück stürzt sich Walter mit gewohntem Fleiß in die Funktionärsarbeit und wertet auf dem Bezirksparteitag in Erfurt den Weltkongress aus.

Den Entschlüssen des Kongresses folgend, beginnt er mit einer Arbeit, die ihm den Spitznamen „Genosse Zelle“ einbringt: die Gründung von Betriebszellen. Anders als die traditionelle Gliederung nach Wohngebieten soll die KPD fest in Betrieben verwurzelt werden, in kleinen, straff geführten und disziplinierten Betriebszellen. Die Kommunisten sollen nach Lenins Doktrin die Avantgarde der Arbeiterklasse sein und so den Kampf gegen die Bourgeoisie vorantreiben.

Wie erwartet bestätigt der Bezirksparteitag Walter als Delegierten Thüringens für den VIII. Parteitag im Februar 1923 in Leipzig. Der Parteitag wird für ihn ein großer Erfolg: Noch keine dreißig Jahre alt, wird er in die Zentrale und zum Sekretär des Politbüros gewählt. In einem kurzen Diskussionsbeitrag stellt er sich als Anhänger der herrschenden Rechten, als „Brandlerianer“ vor und kritisiert die Parteilinken um Ruth Fischer. Noch kennen ihn lediglich wenige Delegierte und er erhält nur 112 Stimmen. Wenig, verglichen mit den 166 Stimmen für den Parteivorsitzenden Brandler. Aber die Wahl ist ein weiterer wichtiger Schritt auf der Karriereleiter. Zwar hat Walter eigentlich wenig Lust, Jena zu verlassen und nach Berlin weitab seiner Familie zu ziehen, doch Beschluss ist Beschluss.

Der Parteitag findet in einer Atmosphäre extremer politischer Spannungen statt. Nur drei Wochen zuvor haben alliierte Truppen das Ruhrgebiet, Deutschlands industrielles Herz, besetzt, um 269 Millionen Goldmark ausstehender Reparationen einzufordern. Die Regierung hat darauf zum passiven Widerstand aufgerufen, niemand soll mit den Besatzern zusammenarbeiten. Der Generalstreik soll Frankreich daran hindern, sich aus den Zechen und Stahlwerken der Ruhr zu bedienen. Das gelingt nur teilweise. Vor allem hat der Streik aber Folgen für Deutschland. Die Gelddruckmaschinen werden angeworfen, um den Streik zu bezahlen. Die Inflation wird zur Hyperinflation, die bereits geschwächte Mark fällt ins Bodenlose. Bald ist das neugedruckte Geld das Papier nicht mehr wert, auf dem es gedruckt ist. Streiks, Plünderungen und Hungerunruhen erschüttern das Land. Rechte Politiker, Militärs und Unternehmer denken über eine „nationale Diktatur“ nach. Angesichts des Chaos ringen die Delegierten auf dem Parteitag um die richtige Strategie. Teile des Exekutivkomitees glauben, dass die Zeit für einen Aufstand reif ist. Wie soll man weiter vorgehen? Ist es Zeit für eine Revolution? Soll die KPD mit der SPD zusammenarbeiten oder ist nur ein Umsturz nach sowjetischem Vorbild erlaubt?

 

Auf der Linie der Komintern argumentiert Walter gegen die Mehrheit der Delegierten, man dürfe sich erst an einer Regierung beteiligen, wenn das Reich direkt vor der Diktatur des Proletariats stehe.159 Zwei Tage nach dem Ende des Parteitags zieht Walter zurück zu seiner Familie nach Leipzig.160 Als Mitglied der Zentrale pendelt er ab jetzt von dort nach Berlin. Die Polizei fahndet nach ihm, doch sein Aufenthaltsort lässt sich nicht feststellen. Ein Foto von ihm ist nicht vorhanden und es ist nicht möglich, eines zu beschaffen. Martha wird verhört und behauptet, auch kein Foto von ihrem Mann zu besitzen. Von den Nachbarn wird Walter sehr allgemein als etwa 1,65 Meter groß, schlank, bartlos, mit gesunder Gesichtsfarbe und blondem, welligem Haar beschrieben.161 Ansonsten hat die Polizei kaum Informationen zur Fahndung.

Parteiarbeiter

Die bürgerliche Republik scheint sich vorerst durchgesetzt zu haben. Errungenschaften der Revolution werden zurückgerollt und Sowjetdeutschland scheint für viele wenig mehr als eine ferne Hoffnung. Trotz aller Rückschläge kämpft die KPD zusammen mit der zunehmend bürokratisierten Komintern weiter für die Diktatur des Proletariats im Reich.

In Deutschland tobt der Ruhrkampf. Weil die deutschen Arbeiter streiken, kommen französische, um Kohle aus den Zechen zu fördern und nach Frankreich abzutransportieren. Die Lage wird immer heikler, mehr und mehr setzt sich der Eindruck durch, dass der Ruhrkampf weder zu gewinnen noch zu finanzieren ist. Die Mark verliert völlig an Wert: Am Zahltag fangen Frauen und Kinder die Väter an den Fabriktoren ab, um mit dem Lohn zum nächsten Laden zu rennen und ihn auszugeben, bevor sich die Preise wieder vervielfacht haben. Ist die Zeit reif für eine Revolution?

Walter arbeitet dazu weiter an den Betriebszellen: In kurzer Folge schreibt er in der Roten Fahne „Verwurzelt die Partei in den Betrieben!“ und „Jede Fabrik soll unsere Burg sein.“ In der Neuen Zeitung ruft er dazu auf, die „Regierung der nationalen Schmach [zu] beseitigen und eine Arbeiterregierung im Reich [zu] erkämpfen, die gemeinsam mit der Arbeiter- und Bauernregierung Sowjetrusslands den Entente-Imperialismus abwehrt“162.

Moskaus neuer starker Mann, Generalsekretär Stalin, will von so einem Aufstand nichts wissen und mahnt: „Wenn heute in Deutschland die Macht sozusagen stürzt und die Kommunisten sie aufheben, dann werden sie mit Pauken und Trompeten scheitern. Im besten Falle. Im schlechtesten wird man sie in Stücke hauen und weit zurückwerfen.“163 Auch Walter glaubt nicht an einen raschen Umsturz, wird aber Mitglied des Militärrats, den die Parteiführung mit sowjetischen Militärberatern ins Leben gerufen hat. Angesichts der Lage organisiert und bewaffnet der Militärrat in Sachsen und Thüringen proletarische Kampfeinheiten.

Walter ist unruhig. Am 20. Juli 1923 ist er mit Familie Heyden am Timmendorfer Strand auf Urlaub, reist aber schon am nächsten Tag wieder ab. Seine Familie bleibt noch eine Woche.164 Kaum zurück, erhebt der Oberreichsanwalt Anklage. Der neue Haftbefehl bleibt bis 1928 in Kraft. Der Landtagsabgeordnete hat zwar Immunität, sie gilt aber nur während der Sitzungsperioden. Bei Vertagungen oder Ferien gilt der Haftbefehl, er muss dann wieder untertauchen, täglich sein Quartier wechseln.

Walter setzt seine Arbeit unbeeindruckt fort, erklärt in der Roten Fahne die Umstellung der Partei „von einer Propagandapartei zu einer Aktionspartei“165. Gegen den Widerstand vieler Genossen, aber im Sinne des Weltkongresses, arbeitet er daran, die Partei in Großbetrieben zu verankern und Betriebszellen aufzubauen. Ihm geht es um Grundsätzliches: Die KPD müsse fest in den Betrieben verwurzelt sein, die Betriebszellen müssen das Fundament der Partei bilden. Die KPD müsse endlich straff organisiert und diszipliniert sein. Das entspricht Lenins Bild der Partei, erfordert ein völliges Umkrempeln der Parteistruktur. Wo er kann, spricht Walter auf Betriebs­­­­ver­sammlungen, um die revolutionären Betriebsorganisationen zu stärken und den Arbeitern Lenins Idee zum Parteiaufbau zu erklären. Die Gewerkschaften sind strikt gegen diese Organisation und geben Anweisung, ihn nicht auftreten zu lassen. Nicht zuletzt, da Walter vorschlägt, die Betriebsrätebewegung zu nutzen, um eine kommunistische Kampfbasis zu schaffen. Walter ist mit Thälmann der Vater der bolschewistischen Organisation der KPD, der Partei neuen Typus.

Am 12. August 1923 ist die deutsche Regierung am Ende. Nach Massenprotesten tritt das Kabinett geschlossen zurück. Die Lage hat sich durch den Ruhrkampf so verschärft, dass der Vorsitzende der Komintern Sinowjew meint, dass die „zweite, wirklich proletarische Revolution“166 unmittelbar bevorstünde und alles zu deren Unterstützung getan werden müsse. Moskau selbst steht unter enormen Druck, das durch den Bürgerkrieg verwüstete Land aus seinem desolaten Zustand ins 20. Jahrhundert zu holen. Eine Revolution in Deutschland, immer noch die stärkste Industrienation des Kontinents, könnte auch bei den eigenen Problemen helfen. Das Politbüro der russischen KP schwenkt schließlich um und befürwortet die Vorbereitungen für den Aufstand. Stalin meint, „entweder scheitert die Revolution in Deutschland und erschlägt uns, oder die Revolution gelingt dort, alles läuft gut, und unsere Lage ist gesichert“167. Die KPD setzt ein Revolutionskomitee ein, um den Aufstand zu planen. Walter ist für die organisatorische Vorbereitung zuständig. Gemeinsam mit dem Parteivorsitzenden Brandler reist er nach Moskau, um Bericht zu erstatten. Die Erwartungen sind hoch, die Führung steht unter Erfolgsdruck. Er meint, dass die Bewaffnung der Arbeiter in Thüringen abgeschlossen sei. Brandler lässt sich zu der Bemerkung hinreißen, jeder Thüringer Arbeiter habe ein Gewehr hinterm Ofen stehen. 253 000 Arbeiter stünden bereit, in ein paar Wochen könnte er fünfzehn Divisionen bilden. Er irrt sich.

In der Zwischenzeit überschlagen sich die Ereignisse. Nach Monaten der Hyperinflation und dem Zusammenbruch der Wirtschaft verkündet der neue Reichskanzler Stresemann am 26. September 1923 das Ende des Widerstands gegen die französische Besatzung im Ruhrgebiet. Seine Große Koalition aus SPD, DDP, Zentrum und DVP bereitet eine Währungsreform vor. Doch bevor es dazu kommt, putscht in Bayern die Staatsregierung und ernennt den oberbayrischen Regierungspräsidenten zum „besonderen Generalstaatskommissar“.

Nach diesem Hochverrat verhängt Reichspräsident Ebert den Ausnahmezustand, während in Sachsen und Thüringen die KPD in die SPD-geführten Landesregierungen eintritt. Die Koalition der „republikanischen-proletarischen Verteidigung“ soll den angekündigten „Marsch auf Berlin“ stoppen und die Feindschaft zwischen den Arbeiterparteien überwinden. Für die KPD ist die Koalition ein Ausgangspunkt für den „Deutschen Oktober.“ Man stehe unmittelbar vor der Diktatur des Proletariats. Es kommt anders.

Während die Regierung beim illegalen Rechtsputsch hilflos reagiert hat, fackelt sie mit den legalen rot-roten Koalitionsregierungen nicht lange und beginnt „geordnete Verhältnisse wiederherzustellen“. Um die Landesregierung zum Rücktritt zu zwingen, marschiert die Reichswehr in Sachsen, kurz darauf auch in Thüringen ein. Es gibt mehrere Dutzend Tote und Verletzte. Als Reaktion soll eine Konferenz zum Generalstreik aufrufen, doch die Mehrheit der 450 Delegierten stimmt gegen revolutionäre Aktionen. Die proletarischen Hundertschaften sind nicht zum Aufstand bereit, sie wollen nicht einmal streiken. Die Zentrale entscheidet darauf einstimmig gegen den Aufstand. Nur in Hamburg erfährt Thälmann zu spät von der Entscheidung, und es kommt zu Barrikadenkämpfen mit 100 Toten.

Reichspräsident Ebert und Reichskanzler Stresemann halten Kommunisten in Ämtern jetzt für komplett untragbar. Der Reichspräsident ordnet gegen Sachsen und Thüringen die Reichsexekution an: Die Regierungen werden abgesetzt, die Minister vom Militär aus ihren Büros vertrieben. Der Deutsche Oktober ist beendet.

Für Walter hat die Episode noch Konsequenzen, wegen Vorbereitung zum Hochverrat erlässt auch der Staatsgerichtshof Schutzhaftbefehl gegen ihn.168 Die Polizei versucht, über seine Familie an ihn heranzukommen. Beim Verhör sagt Martha, er sei im Ruhrgebiet. Tatsächlich bespricht er dort mit anderen Funktionären den Widerstand gegen die Besatzung. Auch Rosa Michel arbeitet hier für die Komintern. Walter reist viel, taucht auch in Thüringen auf. Nach einer anonymen Anzeige soll er in Warschau sein. Tatsächlich ist er ab Dezember in Berlin Mitarbeiter des Organisationsbüros der Zentrale.

Statt der KPD revoltieren andere. Am 9. November 1923 zieht der Führer der Nationalsozialisten Adolf Hitler mit dem ehemaligen Ersten Generalquartiermeister Erich Ludendorff in München vor die Feldherrnhalle und erklärt die Regierung in Berlin für abgesetzt. Die Polizei greift ein, es gibt Tote und Verletzte. Ludendorff wird verhaftet, aber später freigesprochen, Hitler wird zu „milder Festungshaft“ verurteilt und nach einem halben Jahr entlassen. General von Seeckt verbietet daraufhin ohne große Reaktionen die KPD und die NSDAP. Für Walter ist es ein tiefer Einschnitt; Viele Genossen wenden sich von der eben noch so erfolgreichen Partei ab, er selbst muss weiter im Untergrund bleiben. Wieder ist die Revolution erfolglos.

1923 finden die Nachkriegskrisen gleichzeitig ihren Höhepunkt und ihr Ende. Die Währungsreform stoppt die Hyperinflation, Deutschland erlebt zum ersten Mal Zeichen eines wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Lage beruhigt sich, die Republik leckt ihre Wunden. Am 21. Januar 1924 stirbt schließlich Lenin in Gorki bei Moskau. Die „Troika“ aus Stalin, Sinowjew und Kamenjew übernimmt die Staats- und Parteileitung.

Viel Zeit zum Trauern bleibt der deutschen Parteiführung nicht. Parteichef Brandler wird jetzt als Sündenbock für das Debakel abqualifiziert. Schon direkt nach dem Aufstand hat das EKKI der KPD-Führung vorgeworfen, die Lage bewusst falsch dargestellt zu haben. Stalin weist jede Schuld von sich und nutzt seine Kritik an der „rechten“ Brandler-Gruppe, um gegen seine eigenen Kritiker in der Partei vorzugehen.

Die KPD ist wieder verboten, Brandler angezählt, viele Genossen sind enttäuscht und die Partei gespalten. Die Ungewissheit ist lähmend. Walter trifft sie auch existenziell. Seit seiner Wahl in die Zentrale hat er nicht mehr als Tischler gearbeitet, sondern sich ganz der Politik gewidmet. Neben der Parteiarbeit war er teils arbeitslos, teils als Redakteur beschäftigt.169 Wie es weitergehen soll und wie er seine Familie ernähren soll, weiß niemand. Dazu wird er jetzt auch noch per Steckbrief gesucht.

Kaum zwei Wochen später werden sowohl der Ausnahmezustand als auch das KPD-Verbot wieder aufgehoben. Eine Zeit lang glaubt Walter, dass er sich jetzt wenigstens wieder frei bewegen kann, und ist wieder offiziell in Leipzig. Doch die Freiheit währt nur kurz: Trotz Aufhebung des Parteiverbots bestätigt der Untersuchungsrichter den Haftbefehl. Er zwingt ihn die nächsten vier Jahre in die Illegalität. Die Fahndung nach ihm läuft zwar intensiv, er kann aber nicht gefasst werden, da nicht einmal ein Foto für den Steckbrief existiert, wie sich der Landesgerichtsdirektor beklagt. Walter lebt im Untergrund und nutzt zusammen mit Franz Dahlem das Büro eines sympathisierenden Architekten in Berlin als konspiratives Versteck.170

 

Die Mitgliederzahl der Partei hat sich von 267 000 auf 121 394 mehr als halbiert. Viele Funktionäre sind in Haft und nach dem Debakel im Oktober erhoffen sich etliche der verbliebenen Genossen einen Neuanfang. Der Parteitag, der im April noch illegal in Frankfurt stattfindet, wird dagegen zum radikalen Umbruch. Gegen Stalins Willen und gegen den Einspruch Manuilskis, der extra für den Parteitag angereist ist, übernehmen die Ultralinken um Ruth Fischer die Führung. Fischer ist gefürchtet wegen ihrer aggressiven Reden. Bei Stalin und der Komintern ist sie wenig beliebt, denn mit ihrer Führungsspitze um Scholem, ihren Geliebten Maslow, Thälmann und Rosenberg will sie die KPD unabhängig von Moskau führen. Die Zeit der von der Komintern diktierten Einheitsfront ist erst einmal vorbei. Für Walter wird der Parteitag kein Neubeginn, sondern ein politisches und persönliches Desaster. Noch einmal darf er vor den Delegierten sprechen, bekommt aber gerade einmal zehn Minuten und wird von Zwischenrufen und abfälligen Bemerkungen unterbrochen. Seine Referate werden ersatzlos von der Tagesordnung gestrichen. Die Komintern-Delegation tritt vergebens für seine Kandidatur ein, als vermeintlicher Anhänger Brandlers wird er nicht wieder ins ZK gewählt.

Es ist eine vernichtende Niederlage. Die Partei, für die er Tag und Nacht gearbeitet hat, will ihn nicht mehr. Er wird per Haftbefehl gesucht, lebt im Untergrund. Trotzdem verweigert ihm der Parteitag einen Platz auf der Liste der Reichstagskandidaten. Als auch noch die Organisationsabteilung, für die er arbeitet, aufgelöst wird, ist er gänzlich arbeitslos und ohne Einkommen. Nach seinem unaufhaltsam erscheinenden Aufstieg droht ihm jetzt der Absturz ins Nichts. Aber Walter ist zäh, fleißig und hat einen Ruf als glänzendes Organisationstalent. Seine Rettung ist der Kominternbeauftragte Manuilski, der seit Februar unter dem Decknamen Samuely in Berlin ist. Er soll eine Bestandsaufnahme der Parteiorganisation vornehmen. Was er findet, erschüttert ihn.

Die KPD ist geschwächt, die neue Führung vertritt Sinowjews ultralinke Politik und isoliert die KPD. Manuilski hat aber noch einen weiteren Auftrag, von dem nur wenige wissen: Er soll Kader für einen Neuanfang im Sinne Stalins suchen. Der neue starke Mann im Kreml will mit den Fraktionen aufräumen und die Partei autoritär neu ordnen. Er will aus der KPD endlich eine straffe Kaderpartei machen: Parteiführer sollen nicht mehr auf Mitgliederversammlungen gewählt, sondern von oben bestimmt werden. Manuilski wird schnell klar, dass Walter für seine Zwecke ein idealer Kandidat ist. Schon kurz nach seinem Scheitern auf dem Parteitag beginnt Walter seine neue Arbeit als bezahlter Mitarbeiter der Komintern. Manuilski lässt ihn mit falschen Papieren ausstatten und schickt ihn nach Moskau. Anfang Juni reist Walter im Zug für die Jugendkommission zum V. Komintern-Weltkongress ab.

Ungestört und ausgeschlafen passiert Walter die ostpreußisch-litauische Grenze und steigt in Dünaburg zusammen mit August Thalheimer und Albert Schreiner in einen russischen Zug um.171 Während der endlosen Fahrt auf der einspurigen Strecke nach Moskau versucht er stundenlang, Thalheimer zu überzeugen, dass jetzt Kommunalpolitik, Steuern und Tagespolitik die Arbeiter zur KPD bringen. Trotz der Niederlage im April erscheint er als eifriger Funktionär.172 In Moskau wohnt er wieder im Lux, keine Viertelstunde vom Kreml und den Büros der Komintern entfernt. Das Hotel hat sich seit dem III. Weltkongress sehr verändert. Es ist zweckmäßig, verfügt über große Essensräume, einen Bäckerei, Wäscherei, Arztpraxis, Gemeinschaftstoiletten und Kindergarten.

Ansonsten bietet seine verblassende Art-déco-Eleganz schlichte Bedingungen. Wenige Zimmer sind größer als 20 Quadratmeter, heißes Wasser gibt es nur ein- bis zweimal pro Woche. Im Juli 1924 kehrt Walter wieder nach Deutschland zurück. Seine Frau und Tochter sind inzwischen ohne ihn auf Urlaub bei Naturfreunden im Berchtesgadener Land und wandern zusammen durch die Wimbachklamm, das Münchener Haus, den Watzmann, St. Bartholomä, den Königssee und die Almbachklamm.

Walter ist währenddessen als Referent auf der Betriebszellenkonferenz der KPD in Jena, kaum einen Monat später referiert er als „Lothar“ auf dem Reichsausschuss des Kommunistischen Jugendverbands über den IV. Weltkongress der Kommunistischen Jugendinternationale in Moskau.173 Anschließend reist er als Partei-Instrukteur in spezieller Mission nach Wien. Da die deutsche Polizei ihn wegen Hochverrats sucht, rät die Komintern, dass es besser sei, wenn er vorerst nicht im Reich bleibe. In Wien trifft Walter wieder mit seiner Frau und seiner inzwischen vierjährigen Tochter Dora zusammen. Gemeinsam mieten sie ein kleines Zimmer im siebten Stock in der Kirchengasse. Zusammen mit Georgi Dimitroff, der in Wien die Balkan-Arbeit leitet, soll Walter die KPÖ auf Linie bringen. Die Partei ist eine einflusslose Splittergruppe. Fraktionskämpfe paralysieren die Arbeit, und ihre Führer zerfleischen sich gegenseitig. Nach Parteiausschlüssen ganzer Ortsverbände stehen die Kommunisten in Österreich vor dem Aus.

Auf dieser Mission nutzt Walter einen auf den Namen Stefan Subkowiak gefälschten Pass. Er sei Zeichner aus Potsdam und Mitarbeiter der Leipziger Arbeiterzeitung. Er sei ein politischer Flüchtling, der sich über Österreichs politische Verhältnisse informieren wolle. So nimmt Walter an „offiziellen“ Sitzungen der KPÖ-Parteiführung teil. Gleichzeitig ist er als Vertreter der Komintern auf konspirativen Treffen im Büro eines Genossen in der Steinergasse174. Er kann nicht ahnen, dass seine Mission von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Der Wiener Polizeipräsident ist längst über seine Ankunft und seine Aufgabe informiert.175 Schon nach drei Wochen Beobachtung verhaftet die Polizei ihn in seiner Wohnung und führt ihn dem Richter vor. Er kennt die Instruktionen wie man sich beim Verhör verhalten soll und hält sich beharrlich an sie. Er bestreitet immer wieder, politisch tätig zu sein: Als beste Taktik beim Verhör muss die Verweigerung jeglicher Aussage über die Partei, ihre Zusammensetzung, ihre Organisation, über alles was die Organisation und einzelne Personen betrifft, betrachtet werden. Die Polizei braucht nur ein Ende des Fadens, um das ganze Knäuel aufzuwickeln, um das gesamte Netz der Organisation zu entdecken.176

Die Parteikorrespondenz, die bei der Hausdurchsuchung gefunden wird, zeigt aber klar, dass Walter bei der Neuordnung der zerrütteten KPÖ und dem gleichzeitigen Metallarbeiterstreik177 eine führende Rolle innehat.178 Dass er nicht auf Urlaub in Wien ist, beweisen auch die 400 Dollar, die er bar bei sich führt,179 sowie ein Beleg über 30 Dollar für „Handzettel zum Metallarbeiterstreik. 18. September 1924“. Walter gesteht zwar, den Beleg erhalten zu haben, will sich aber an die genauen Umstände nicht mehr erinnern. Ende September wird er verurteilt. Wegen fehlender Beweise ist die Strafe vergleichsweise mild – sechs Wochen Haft und Abschiebung wegen Urkundenfälschung und Benutzung eines gefälschten Reisepasses. Nach seinem Einspruch verschärft das Gericht die Strafe zu zwei Monaten Kerker. Nach der Haft wird Walter nach Prag abgeschoben. Hier trifft er Martha und Dora wieder, die über die Dächer Wiens knapp entkommen konnten und über die Grenze geschmuggelt wurden.180 Ohne davon zu wissen, wünscht Walters Freund Jacob Herzog aus Zürich der Familie in Leipzig zu Weinachten „Viel Glück im Neuen Jahr“181. Sein Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen. Nach seiner Abschiebung aus Österreich arbeitet Walter ab Januar 1925 für zwei Monate in Prag als EKKI-Organisationsinstrukteur. Auch hier ist seine Hauptaufgabe der Aufbau von Betriebszellen. Im Anschluss reist die Familie gemeinsam weiter nach Moskau, wo Walter seine Arbeit in der Org-Abteilung beginnt. Das Lux ist bis unter das Dach belegt, die Zimmer reichen nicht aus. Gäste werden gemeinsam einquartiert oder schlafen auf Stühlen.182 Die Ratten sind eine Plage. Im Zimmer 27 werden die Beine der Betten in Konserven voll Wasser gestellt, damit die Kakerlaken zumindest nachts nicht in die Betten kommen. Trotz allem ist die Kameradschaft gut.