Krumholz

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VERLOREN STEHT DAS KIND mit seinem Bündel unter dem eisernen Bogendach vor der verschlossenen Eingangstür des Anstaltshauses zum Fang und wartet. Es hat bei sich Sonntags- und Werktagskleider, Tüchlein zum Waschen und Schnäuzen, wollene Strümpfe, ein Paar Armstöße aus Libet croisé, einen Kamm, weit und eng, Hemdlein und Schürzen. Unterkleider und die Nachthaube, so hat der Amtsvormund im beigelegten Brief zum Heimatschein höflichst geschrieben, möge ihm die Anstalt auf ihre eigenen Kosten besorgen.

Der kleine Einspänner, mit dem man es hergebracht hat, ist seit einer Weile schon abgefahren. Der Mann auf dem Bock hat vor der Treppe angehalten, das Kind wortlos abgesetzt, ist wieder aufgesessen, das Pferd hat auf sein Schnalzen hin angezogen, ist losgetrabt, und das leichte Fuhrwerk ist durch das Tor in der hohen Mauer verschwunden, umgedreht hat der Karrknecht sich nie.

Das Kind ist nicht so früh erwartet worden.

Wie ein gewebter schwarzer Wall sitzen die Schwestern, eine neben der andern, vor dem besonnten Seitenflügel des weitläufigen Gebäudes auf einer alten Kirchenbank. Die Gesichter unter den gestärkten Voluten der Hauben sind wie bleicher Salzteig gehärtet, hinter kleinen, spiegelnden Brillengläsern lauern verkühlte Blicke. Die Hände sind in den weiten Ärmeln, die auf ihrem Schoß aneinanderstoßen, wie in einem leinenen Muff versteckt, ihre Arme scheinen zu einem Ring verwachsen.

Am äußeren Ende, neben der Jüngsten im Novizenkleid, hat sich der Hauskaplan hingestellt – sein weißer Kragen, als wäre er ein Halseisen, ragt als heller Ring aus der Soutane. Er richtet sein Birett und hält dann mit beiden Händen ein chagrinledernes Mäppchen vor seinen Schritt.

Etwas entfernt steht auf einem Dreibein aus Eschenholz eine große Reisekamera, der Wanderphotograph, ein schnauzbärtiger Mann mit stechendem Blick und einem eigenartig weichen Kauderwelsch, fährt den Balg auf dem Schlitten aus, verschwindet mit seinem Kopf unter dem schwarzen Tuch und dreht an den messinggefassten Linsen, hebt alsdann, nachdem er die gläserne Platte eingeschoben hat, die linke Hand und schnippt mit den Fingern.

Mienen und Leiber erstarren.

Lachend und die buschigen Brauen hochgezogen quetscht er mit der Rechten den Gummiball am dünnen Schlauch, lässt ihn mit leichter Geste schwungvoll fallen, so dass er am Kasten baumelt, klatscht nickend in die Hände, und die dunklen Gestalten lösen sich eine nach der anderen aus dem raschelnden Glied.

Wortlos kehren die mergeligen Wesen zurück in ihre Gemächer und binden sich wieder die grauen Zwirnkettenschürzen mit den schwarzen Nadelstreifen und Sprenkeln um, mit denen sie sich alsbald bis zu den Laudes an ihre häuslichen Werke machen.

Die Vorsteherin und der Priester sind noch für eine Weile stehen geblieben und sprechen mit dem ambulanten Photographen, der seine Utensilien in eine Reisekiste mit einem langen ledernen Trageriemen packt und auf den Umschlag wartet, den man für ihn dem abgewetzten Mäppchen entnommen hat.

Dann erst geht die Oberin, die das Fuhrwerk längst gehört hat, die Spalierwand entlang und um die Ecke des Hauses zum Kind. Sie schaut es an und nimmt sein Bündel unter den Arm. Am Ärmel zieht sie es durch Gänge und über Treppen zu einer Kammer. Die Schwester öffnet die Tür und greift unter dem Gurt durch einen Schlitz in ihre Tracht; sie legt das Bündel auf das Bett und ein hartes Stück Brot darauf, dann nimmt sie den Brief. Ihre faltige Hand ist fleckig und von dicken blauen Adern überzogen. Bevor sie sich umdreht, küsst sie mit dürren Lippen das Kruzifix, das vom steifen Tellerkragen auf ihre Brust hängt. Dann tritt sie ohne umzublicken hastig durch die Türe auf den Flur und steckt von außen den Schlüssel ins Loch. Das Kind riecht noch das Eiweiß der gestärkten Haube, dann sieht es, wie das kugelige Ende des Schafts sich im Schlosse dreht.

Wenn die Nacht über dem Tal des Fangs auf die waldigen Hügel fällt und Hochwürden Helferich mit seinem hornigen Daumennagel dem Kind vor dem Schlafengehen das Heilige Kreuzzeichen in die Stirne kerbt, klemmt er sein dünnes Becken in der offenen Soutane zwischen die Schenkel. Den Bauch an seinen Hosenlatz gepresst, sieht es ganz nah die aufgereihten Kugelknöpfchen unter dem Kollar und riecht die zigerige Haut seines Halses. Streicht der Hauspriester ihm dann über das Haar, spürt es das Reiben des glänzenden Hosenstoffs an seinen nackten Beinen und die spitzen, knochigen Knie. Helferich bewegt wie im Schmerz die Lippen, während sein Kehlkopf wild auf- und abhüpft, sucht mit seinem seltsamen Blick die verschreckten Augen, aber das Kind schaut an ihm vorbei an die Wand. Packt er es dann mit beiden Händen am Kopf und zwingt ihm das Schauen gewaltsam auf, versteinert sein kleiner Leib, bis das Klammern endlich nachlässt. Dann windet es sich mit zugedrückten Lidern aus seinen Armen. Es reißt die Türe des Studierzimmers, die abzuschließen er vergessen hat, auf und flüchtet durch den Vorraum hinaus auf den steinernen Flur.

Vom plüschigen Ohrensessel brüsk erhoben, lauscht Helferich den im milchigen Lampenlicht schnell weghallenden Schrittchen nach, schüttelt den Kopf und lacht ein trauriges Lachen, während er den Priesterrock vom Bauchgurt bis zu den Füßen wieder schließt und die Knopfleiste richtet. Als er die Tür hinter sich mit einem Zug am Messingknopf ins Schloss fallen lässt und den verschwitzten Kragen mit dem Zeigefinger weitet, streift er mit seinen Augen das gerahmte Bild der Schwesternschar; er ist es, Hochwürden Helferich, der ihre Beichten abnimmt, jede kennt er, von jeder weiß er jede Sünde.

Im Esssaal, aus dem sich der Geruch von Zwiebelschwitze und gerülpstem Kohl nicht mehr vertreiben lässt, sitzt das Kind am niedrigen Klappbrett der Anrichte und schaut zum Männertisch.

Grotwohls Hand, die linke wie die rechte, ist nichts anderes als ein einziger armdicker Finger, der Nagel, faustbreit wie eine kleine Schaufel über den Stumpf gebogen, ein Panzer aus Schildpatt – horngelb mit bräunlichen Riefen.

Mit dem winzigen Wurm von Daumen kann er kein Streichholz halten, Feuer für sein Rauchzeug muss er von der Glut im Herd nehmen oder von einer brennenden Kerze, den Zehnerstumpen, wenn er ihn zu den versprödeten Lippen führt, hält er dabei zwischen beide Stummelenden geklemmt wie das Murmeltier einen Stängel.

Unterwäsche trägt Grotwohl keine, die Knöpfe an seinen zu weiten Soldatenhosen sind immer geschlossen – auf dem Abort streift er die Träger von den Schultern und lässt den Bund über die Beine gleitend auf die Schuhe fallen; will er sie nach verrichteter Notdurft wieder hochziehen, greift er unter die breiten Gummibänder und bringt sie unter Verrenkungen zurück auf die Schultern.

Um, wenn er es vor dem Waschtag wechseln muss, in das Bauernhemd mit dem hohen Bund zu schlüpfen, behilft er sich mit seinen Zähnen; die kleinen Knöpfe, auch an der Joppe voller Krusten verschütteten Breis, bleiben, wenn niemand sie ihm schließt, stets offen und lassen den Blick frei auf eine spärlich behaarte, kindhaft weiße Hühnerbrust.

Ludian, der von allen Männern am längsten im Anbau des Fangershauses wohnt, trägt den Schnallgurt seiner Holzprothese wie einen Trommelriemen schräg über der Brust des kragenlosen Hemds.

Sein richtiges Bein, die Knochen zumindest, grölt er, wenn er den versteckten Schnaps gefunden hat und angetrunken ist, sein richtiges Bein liege unter einem Erdhaufen, weit weg vom Fang, bei den Franzosen fast, auf den Spicherer Höhen nämlich, wo es ihm dieser verdammte Algerier, ein Zuave in roten Pluderhosen, mit seinem Chassepotgewehr so gründlich abgeschossen habe, dass es nur noch an einer Sehne gehangen und es der Feldarzt, nachdem sie beide einen doppelten Korn getrunken, ohne viel Federlesens kurzerhand mit einem Bajonetthieb abgetrennt und in die Grube zu anderen Gliedern und auch ganzen Leibern geworfen habe. Wenn, wie man oft höre, das Leben dazu da sei, das Sterben zu lernen, sei ihm dies ganz gut gelungen, wenngleich ein Viertel seines Leibs ein hoher Preis gewesen sei, um dem Franzmann die gallische Heiterkeit auszutreiben.

Dann grinst er mit seinem Froschmaul, so dass es lustig aussieht, aber eigentlich auch traurig, kneift sein linkes Auge mit verzogenen Lippen zu, zielt mit dem Krückstock zuerst wild in die Luft und alsdann dem Grotwohl auf den Schenkel, während er am Quersteg abzieht und mit aufgeplusterten Backen ein Schussgeräusch von sich gibt. Der jüngere Krüppel spielt aufschreiend den Getroffenen, greift sich mit seinen zwei behornten Stumpen an das Hosenbein, macht ein schmerzverzerrtes Gesicht und humpelt, als täte es ihm richtig weh, einmal im Kreis herum.

Das Kind, wenn es dem Tun der Männer zuschaut, versteht nichts, weil aber alle lachen, lacht es auch.

Lumière, den niemand mit seinem richtigen Namen kennt, hat lange weiße Haare, die ihm keiner schneiden darf; der Armenscherer, der es partout nicht glauben wollte, hat den Versuch mit einem herausgeschlagenen Schneidezahn bezahlt.

Sein Bart, ein struppiger Kranz, der den Mund überwachsen hat, reicht bis auf die Brust. Die gestrickte Jacke mit den losen Maschen an den Borten und um die Mottenlöcher trägt er über dem bloßen Leib.

Seine wässerig blauen Augen, als blende ihn das Leben, sind immer zugekniffen, die vielen Fältchen an den Augenwinkeln lassen ihn lustig aussehen.

Lumière photographiert alles. Seine Hände mit der vertrockneten Karrenschmiere unter den Fingernägeln halten den Apparat wie ein Wickelkind schützend im Arm. Er besteht aus einer hölzernen Cigarrenkiste, auf deren fünf Sichtseiten verblichen der Brandstempel BIBUNDI Deutsch Westafrika angebracht ist. Am Werktisch in der dunklen Remise hat Lumière mit Schiffskitt, Teer und Gazebinden Röhren aus gepresster Pappe daran befestigt und mit Streifen aus Pantoffelfilz umwickelt, die vordere Linse ist ein grünlicher Butzen, die hintere der ringsum mit einem Dachdeckerhammer abgeschlagene Boden eines Einmachglases. An der Feder einer Wäscheklammer baumelt an ihrem Bändchen eine lederne Augenklappe, sie dient für die Linsen als Deckel und Verschluss. Ein ausgeleiertes Elastikband mit geringelten Enden läuft straff über zwei hölzerne Fadenspulen, die mit Knochenleim am Gehäuse befestigt sind, und hält, durch eine Vielzahl von Kupferdrähten geschlungen, die kuriose Apparatur zusammen.

 

Schaut Lumière mit dem noch nicht getrübten rechten Auge durch die Löcher, die er mit einem glühenden Zimmermannsnagel durch Deckel und Boden des Zedernholzkistchens gebrannt hat, sieht er einen grünen Schummer und manchmal darin dunkle Schemen, als schwämme er als Fisch durch das algige Wasser eines Karpfenteichs.

Hängt das Holzbein mit seinem durchgeschwitzten Gurt beim Abort des Männertrakts am Mauerhaken, haben sie Ludian, weil er in den Schnapskeller gelangt ist, in der Krankenkammer eingesperrt. Dann liegt er Tag und Nacht stinkend wie ein Tresterfass im Bett, starrt, weil kein Gesicht da ist, an dem er sich festhalten könnte, vor sich hin und redet, sich unruhig wälzend und aufbäumend, fiebriges Zeug.

Dem Menschengeschlecht sei das Totschlagen ein Wollen und Müssen, man brauche ihm bloß etwas zum Hauen oder Stechen in die Hand zu geben, noch besser aber einen Hinterlader oder gar eine Kartätsche – und einen aufzuziehen, der mit Siegerhand eine Fahne recke und es führe.

Der Mensch gehe auf einem Grat, obwohl es an Denkern auf dieser Welt noch nie gefehlt habe. Allein – es gebe kein Wissen, das ihn wirklich tröste, jeder nehme, und jedem werde genommen, und so, wie einer messe, so werde auch ihm gemessen.

Das Gewicht, das ihm jede Nacht auf die Brust falle und ihn erdrücken wolle, das seien die Leiber der toten Pferde, die bei Besançon inmitten brennender Felder, gebläht und aufgerissen, herumgelegen hätten.

Hat es von der Kapelle zur Mitternacht geschlagen, hört man ihn, schon nahe am Delirium, brüllen. Nur wer schon einmal mit jeder Faser seines Körpers die Schläge auf das Kalbfell mitgetrommelt habe und im Takt marschiert sei, kenne den Rausch, der vom Spielmannszug eines Regiments ausgehe, Preußens Gloria, den Marsch aller Märsche, habe er bis an sein Ende im Ohr.

Dann stellt er sich an der Bettkante wankend auf das verbliebene Bein und trompetet mit geblähten Backen und schrägem Maul in seine linke Faust, die er zum Mundstück geformt hat, schlägt mit dem Fersenknochen auf den Tannenriemen den Trommeltakt, dass das Nachtgeschirr aufhüpft und scheppernd den Zimbelklang dazugibt, und dirigiert mit seinem Krückstock wild fuchtelnd durch die abgestandene Luft der Kammer.

Hat er sich mit seinem Tun übernommen, fällt er wie tot zurück in die tranigen Kissen und ist für eine Weile still, fährt aber, kaum ist er zu Atem gekommen, lallend und krakeelend fort.

Wenn es dem Menschen zu friedlich geworden sei, werde er wieder etwas anzetteln, denn das, was lebe, sei etwas anderes als das, was denke. Es genüge, wenn einer komme und verkünde, worüber er in seinen alten Tagen als Kenner der Heldenverkrüppelung nur noch bitter lachen könne – es müssten nämlich die Mütter eines Landes, wenn die Trommeln riefen, ein großes Glück empfinden, mit ihren Söhnen der Heimat Gebende zu werden, sie, die als Gebärende das Trennende längst kennten.

Ja, bloß so daherreden müsse einer, fährt der unselige Säufer prustend fort, und predigen, der glühende Gott reiße das Wachstum aus dem wurzelnden Volk, um mit der Ernte der Söhne zu beginnen. Deren heiliger Schwur von Erz verblase kein Wind, und nur wer hasse, sei im Kampfe hinter dem ehernen Schild vereint. Jeder Schuss auf den Feind sei ein Gebet, Blut und Eichenreiser seien in diesen ruhmreichen Zeiten umrauscht von tausend Fahnen, und mit jedem Schritt unter dem Banner stärke und schärfe man den Sinn für der Vorväter Tat und Glauben.

Dann erstickt Ludian beinahe vor Grunzen und Glucksen und wiehert, ein wahrer Mann, ein schlanker Bursche jungen Geblüts mit treuen Augen blau und klar ersehne sich den Tod am Opferhügel und im Ehrenkleid, denn nur mit seinem Blute könne man das Land reinwaschen von den fremden Bruten und Welterneuerer aller Völker sein.

Alle Männer im Haus sind mittlerweile wach geworden, und Ludian, dem die Krücke aus der erschlafften Hand gleitet und über Bettkante und Nachttopf schlitternd auf den Boden kracht, fällt erschöpft und röchelnd in seinen traumlosen dünnhäutigen Trinkerschlaf.

Wenn in der Kapelle eine Hochzeit gefeiert wird, schließen die Schwestern alle Fensterläden und Schieber, und der Gutsknecht sperrt das schwere Tor der Umfriedungsmauer zu. Kein gaffendes Anstaltsvolk soll die festliche Stunde stören. Nur das Kind mit seinen schmalen Schultern vermag den Kopf durch die enge Luke hoch oben im Treppenhaus zu stecken, wo es, weit hinausgelehnt, das prächtige Geschehen verfolgt.

Zwei Fiedler vor der Wagonnette, wenn es Bauern sind, und das Brautpaar in der Tracht – die noblen Städter dagegen begleitet von Turmbläsern mit Fanfaren und in edles Tuch gekleidet. Und jedesmal die fröhlichen, herausgeputzten Gäste, die blumengeschmückt in Kaleschen und Chaisen folgen.

Mit traurigen Augen schaut es zu, wie die glückstrahlenden Hochzeitsleute die bunt verpackten Naschereien haufenweise unter die wartende Dorfjugend werfen, die übermütig dem süßen Regen hinterherspringt und alle Taschen füllt.

Was versteckt im halbhohen Gras oder eingeklemmt zwischen Pflastersteinen liegen bleibt, sammeln die Schwestern, sobald wieder Ruhe eingekehrt ist, in ein flaches Seegraskörbchen und stellen es im Giebelfach der Kredenz unter dem Kruzifix aus.

Hat das Kind gestohlen, von den süßen Feuersteinen oder vom Brot, bei Gelegenheit auch ein gesottenes Ei, sperren sie es im Estrich ein, eine Stunde oder zwei, dieses Mal aber, weil es ihnen danach ist, ihm den Meister zu zeigen, einen ganzen Tag und die Nacht hindurch bis zum nächsten Morgen.

Durch ein blindes Glas im Ziegeldach dringt schmutziges Licht, an den Fichtenlatten, die sie in runden Kuhlen tief angefressen haben, kleben grau die Nester von Wespen und Hornissen. Unter der mächtigen Pfette, die aus einem einzigen Eichenbaum gehauen ist, hängen in einer langen Reihe die gefalteten Bündel der Fledermäuse, umschleiert von wehenden Bärten aus verrotteten Emballagen, Spinnweben und Hanf. Ein rotdunkler, verstaubter Schiffsbauch liegt kieloben über dem Kind und wird ihm zu einem staubigen Himmel aus Schindeln und bröckelnden Biberschwanzziegeln.

Ringsum findet sich die Welt des Gerümpels, die Ruhestatt des Ungebrauchten und Nutzlosen, des Vergessenen und all der Dinge, die man aus den Augen haben will und dennoch halten und besitzen.

Das Kind sucht eine Schneise durch die Gebirge aus Koffern und Körben, durchforscht alle Haufen und Stapel, es schaut unter die bodenlangen Abdecktücher, um ihre Geheimnisse zu lüften, es öffnet jedes schiefe Türchen und jede klemmende Lade. Es lässt sich betören von all dem Hergebrachten und nicht mehr Mitgenommenen, das auf alle Zeiten Zurückgelassene zieht es in seinen Bann. Das zerbeulte Hörrohr, der Spucknapf und die Stöcke der Verstorbenen, die vergessenen Schachteln voller Kragen und Hemdenbrüste, die niemand mehr tragen wird, der rollende Stuhl mit dem eingelassenen Topf aus emailliertem Blech, dessen sie sich wieder entsinnen werden, wenn einer nach einem Schlaganfall für immer erlahmt.

Und erst im rötlichen Schein des späten Abendlichts, das flach durch das Dachfenster fällt, entdeckt das Kind die geheimnisvolle Ecke. Am Gemäuer lehnt unnütz eine herrschaftliche Eingangstür aus gefügtem Nussbaumholz, in der geschnitzten Rosette am Mittelteil des Blatts, aus feinem Guss gearbeitet, glänzt matt ein wunderliches Gerät.

Der linke Arm der Frau im langen Faltenkleid, der sich an einem versteckten Stift bewegen lässt, hält einen abgetrennten Männerkopf am Schopf, derweil die Rechte ein kurzes Schwert lotrecht in die Höhe reckt.

Das Kind steht rätselnd und zaudernd vor diesem Ding, das es nicht kennt. Dann spielt es daran herum, hebt langsam das schwere Haupt mit dem offenen Mund und den leeren Augen an und lässt es wie einen klopfenden Hammer mit dem bärtigen Kinn auf den eisernen Frauenschoß schlagen, das erste Mal zögerlich und dann beherzt stets von Neuem.

Erst beim Eindunkeln wird es dem Kind bange. Es hat sich auf dem Lager aus alten Kartoffelsäcken niedergelassen, über denen eine löcherige Schabracke liegt, und sieht, als der feinhaarige Pelz des Marders huschend wie ein unwirklicher Schatten im Gebälk verschwunden ist, die Dinge langsam in einem ängstigenden Schwarz versinken. Es tastet, weil es zu frieren beginnt, nach der schäbigen Satteldecke, zieht sie sich bis zum Hals und wartet, nachdem es nach einem unruhigen Schlaf früh erwacht ist, unter den mit Birkenpech gedichteten Ritzen verängstigt und sehnsüchtig auf das erste Licht.

Im Morgengrauen, als es den zerknüllten Zementsack aus der zugestopften Luke in der Mauer zieht und sich davor mit dem geplatzten Seegraskeil auf den Bauch legt, sieht es auf dem Wiesenstück beim Brunnenplatz ein Gerüst aus frisch geschälten Fichtenstämmchen stehen. Der Gutsknecht, den das Kind hasst, weil er die jungen Ferkel schneidet, hat die graue Kuh mit einem Strick am Querholz festgebunden. Ludian steht in einem kuriosen Mantel daneben und hält die Krücke waagrecht ausgestreckt bereit. Dann sucht er mit seinem Holzbein einen sicheren Stand, greift dem Tier, die Arme angewinkelt, mit dem Schaftstück unter den Schwanz und hebt ihn hoch in die Luft.

Der Knecht richtet seine Stallbluse, verschwindet für eine Weile aus dem Bild und kommt dann mit dem Stier zurück, den er mit einem kurzen Strick am Nasenring führt. Der Bulle steht für einen Augenblick still, dann schießt er los und schleift den kräftigen Mann ein Stück weit mit.

Der hellrote Stock des massigen Tiers glänzt im Morgenlicht, als er ihn beim Aufreiten mit Wucht in die Kuh stößt. Seine mächtigen Vorderbeine hampeln über die Flanken der Färse, als suche er festen Boden, er zittert und hopst, rutscht auf alle Viere ab, noch einmal springt er und bockt wie wild. Dann gleitet er zurück, bleibt einen Augenblick wie benommen stehen und beriecht lange das Loch der Kuh. Jetzt lachen beide, Ludian tätschelt den fleischigen Nacken, dann treibt der Gutsknecht den krausen Koloss mit einem Stecken ein paar Schritte zurück; den Strick locker in der Hand lässt er ihn zurück in den Stall trotten.

Am Nacken des Kinds sind wieder die kleinen Tierchen, sie laufen über alle Glieder bis zu den Fingern und Zehen.

All den Augen im Anstaltshaus kann das Kind nicht entkommen.

Sie schauen – riesenhaft vergrößert – von früh bis spät missbilligend durch butzendicke Brillengläser, sie folgen seinen Schritten versteckt unter buschigen Brauen. Es spürt ihr Starren von überall her durch Ritzen und Risse – ein Drohen, ein Rollen, ein Blitzen – und weiß nicht, wie ihnen entfliehen.

Ist es am Essen, sind die Blicke vom Schwesterntisch schräg über Tassenränder schielend auf jeden seiner Bissen geheftet, durchstechen, wenn es vor verschlossenen Kammern warten muss, sein dünnes Hemd bis auf die Haut; kommt es vom Abort, ist es ein Glotzen aus dem Flur, geht es allein die Treppen hoch, fühlt es sie zwischen den Geländerstäben klebrig stierend unter Rock und Strümpfe gleiten, sie brennen sich durch aufgehängte Tücher, durchbohren mit scheinbarer Leichtigkeit die Hölzer der Türenblätter und Täferwände.

Streift das Kind Schutz suchend an den Hecken entlang, durchdringen sie Laub und Geäst, es weiß sie zu jeder Stunde sperbernd hinter Jalousien und Gardinen, aus jedem Winkel spähend und versteckt in Nischen, durch alle Spalten und Schlitze linsend, in Kellerlöchern lauernd und luchsend hinter jeder angelehnten Tür.

Hält man Andacht oder Messe und muss es in der Kapelle knien, ist es für das Kind ein hundertfaches schweigendes Betrachtetwerden.

Auge neben Auge hängen sie ringsum an jeder Wand, man hat sie mit Bleistiften oder Tuschefedern gezeichnet, mit Girlanden vignettiert und verziert mit Rosetten, hinter Glas in Medaillons gesetzt oder in polierte Ovale. Mit Schülerfarben kindhaft ausgemalt, die Iris braun, grün oder blau, schauen sie unbeholfen auf das Kind, in dunkle Hölzer gerahmt, manchmal hell und grazil, zuweilen schwulstig und dick vergoldet.

Es muss sie vergreist in Krankenbetten ertragen, die Welt mit hohlwangigen Gesichtern ein letztes Mal sehend, man hat sie aquarelliert und aufgeklebt auf Stanniol, Leinwand oder Seide, die einen wie Schmetterlinge als Paare mit der Schere ausgeschnitten, andere wieder zyklopenhaft allein und verloren auf weißem Grund.

 

Das Kind weiß sie in Staffeln hinter sich, mit Perlen umrandet auf golden besticktem Gewebe; zu Dutzenden hängen sie, getrieben aus Silberblech und fein ziseliert, blicklos an den vier Seiten fialenartiger Pyramiden, wie Broschen auf samtenes Purpurtuch gesteckt. Schaut es hinauf zum lichten Tambour, greift eine Hand durch graue Rosenwolken nach einem schwebenden gipsweißen Augenpaar.

Und immer steht schwarz und golden gekleidet die Frau vor dem Gitter des Altars. Sie hält ein Buch, als wäre es ein Kissen, auf den flachen Händen. Zwei Augäpfel sind darauf gebettet; ohne Lider, Brauen und Wimpern schauen sie unbewegt auf das Kind.

Der Duft der Nelken auf den weißen Tüchern wird zum süßlichen Geruch ausgestochener Augen, und der feste Boden unter den Füßen will ihm entschwinden.

Schlägt es die Hände vor sein Gesicht, taucht der geheimnisvolle Kalender auf, von dem die Schwestern nichts wissen. Er liegt verstaubt in der Schublade des verwurmten Nachttischs mit dem abgebrochenen Bein, der schief vor dem Kaminschacht auf dem Estrichboden steht. Auf der Seite, die das Kind stets ohne zu blättern findet, ist das seltsame Bild.

Wie magisch angezogen fällt sein Blick stets von Neuem auf den weißfleischigen Muskelleib des nackten Mannes, der verrenkt und reglos auf dem Boden liegt, und dann auf das Rad des Pfaus, mit dessen Federkleid die unverhüllten blonden Pummelkinder spielen. Was aber tun die zwei Frauen? Die reich geschmückte im roten Bauschekleid trägt fünf Augäpfel auf ihren Händen, welche eine blau gekleidete mit einer Klinge aus dem Männerkopf in ihrem Schoß geschnitten hat. Beide zeigen ihre hellen Brüste, Sonnenlicht fällt durch ein Wolkenloch, das Gold des Wagenrads und der Decken glänzt, am grau verhangenen Himmel steht ein Regenbogen. Ob die rosigen Engelchen dem wartenden Vogel zu ihren Füßen die blau schimmernden Augen in die Federn der Schleppe setzen?

Sooft Helferich an schönen Abenden im späten Herbst mit dem punzierten Buch aus der verborgenen Tür des Knabenhauses tritt und alsdann beim Brevieren hin und her über den Hof schreitend seinen Schatten fast bis zur hohen Mauer wirft, steht das Kind versteckt hinter dem dichten Eibenbusch beim Spalier. Es wartet, bis der dunkle Fleck sich den groben Steinen der Pflästerung nähert, und stampft dann Mal für Mal mit dem Fuß heftig auf das überlang verzogene Abbild des vorüberhuschenden Kopfs mit dem aufgesetzten vierhörnigen Birett, bis der Geistliche das speckledrige Brevierbuch schließt und der Goldschnitt, wenn er es bald links, bald rechts an die Lenden schlenkert, im tiefen Sonnenlicht ein letztes Mal matt aufblinkt.

Bevor sie eines späten Abends, kurz vor der Kartoffelernte, für immer an einen andern Ort verbracht wurden, hatte das Kind die verbotenen Türen geöffnet und die Knaben gesehen. Sie standen, alle kurzgeschoren, in groben schenkelkurzen Zwilchhosen und barfuß, die angeknöpften Träger auf beiden Seiten bis zu den Knien baumelnd, an einem langen Trog und mussten sich Gesicht, Ohren und den nackten, mageren Oberkörper mit einem Seifenlappen waschen.

Helferich, die vom Schwitzen angelaufene Brille zusammengeklappt in der Hand, lehnte die ganze Zeit beim verzinkten Bottich am Vorsprung der feuchtenden Klinkerwand und schaute ihnen zu.

Auf einmal ging am Ende des schmalen Raumes die Schiebetüre mit den Scheiben aus honiggelbem Kathedralglas, wie von unsichtbarer Hand gestoßen, langsam auf. In langen, weißen Spitalhemden, die Haare wirr und mit hohlen Augen, waren zwei weitere Knaben hinter einem Netzgeflecht aus dicken Gummiseilen in ihren Betten eingesperrt, die Zähne mit verdrehtem Kopf ins emaillierte Rohrgestell geschlagen, als wäre es ein Beißring, und die Hände wie gefangene Circusaffen in den Maschen verkrallt.

Bevor es vom gestielten Schöpfeimer getroffen wurde, den Helferich wutschäumend nach ihm geworfen hatte, war das flinke Kind durch die schmale Eisentür entwischt und über das gewendelte Kaminfegertreppchen auf den gekiesten Hofweg geflüchtet.

Am Tag vor St. Barbara, als der Störmetzger mit dem zerschlissenen Waffenrock über der Blutschürze das kurze Messer mit dem Stahl abgezogen hat und mit drei Fingern die Schlagader tastet, zieht sich das Kind in seinem Versteck hinter dem Fensterkreuz des Abkalbstalls hoch und schaut durch die trüben Scheiben mit den Eisblumen zu, wie er die Sau absticht.

Die Männer vom Fangershaus haben, schon seit es hell geworden ist, die Hände auf dem Rücken oder in den Hosentaschen, in einem halben Kreise wartend um das Tier gestanden. Zuvorderst der zapplige Kanarin, der für einmal still gehalten hat, sonst aber stets mit gerecktem Hals und vorgestrecktem Kopf seiner dünnen Tabakspfeife hinterherrennt, einem brennenden Stecken in seinem Mäusegesicht mit den winzigen Zähnchen und den verstreuten weichen Stoppeln von unrasierten schwarzfädigen Haaren.

Die zwei Kräftigsten haben das blass gescheckte Tier, das ahnungslos schnüffelnd vor dem rauchenden Feuerbottich an den Brunnenstock gebunden war, unvermittelt an den Beinen gepackt und seitwärts zu Boden geworfen, Kanarin kniet auf der Flanke des verzweifelt strampelnden Mutterschweins, während Ludian, der sich nicht bücken kann, mit dem Krückstock das blauweiß emaillierte Becken unter das Loch am Hals schiebt, aus dem ein Blutstrahl schießt. Derweil drückt der Schlächter, bis das Zucken zum Erliegen kommt, mit seinen kräftigen Händen Kopf und Schulter des Tiers auf die Pflästerung, die sich in den Fugen nach und nach karminrot färbt.

Lumière, der sich in einem aufgeregten Geschwänzel nähert und wieder entfernt, schaut photographierend durch seine Cigarrenkiste, während der Metzger, ein untersetzter Mann mit quellenden Froschaugen im gedunsenen Kopf, noch einmal zwei Buchenscheiter ins aufglühende Feuer legt und, ohne hinzuschauen, eine Flasche aus seiner Kiste zieht. Dann gibt er den Männern aus großen Gläsern, die er bis zum Rand füllt, Kartoffelschnaps zu trinken.

Er klatscht in die Hände, und auf sein Zeichen hin zerren sie den schweren Körper an zwei Ketten über den dünnen Schnee zu einem hölzernen Trog, hieven ihn mit Hilfe eines abgebrochenen Bindbaums hinein und überschütten den leblosen Koloss eimerweise mit kochendem Wasser aus dem Bottich des Wäscheherds.

Der Mann in der schräg aufgebundenen Schürze hat seinen Soldatenrock ausgezogen und an einen rostigen Nagel gehängt. Mit der Borstenglocke und einem scharfen Messer säubert er das dampfende Tier, das jetzt auf den Sprossen einer Trage liegt, bis es in einer fremden weißen Sauberkeit, vom Rüssel bis zum Schwanz gebleicht, von den Männern, die währenddessen immerfort getrunken haben, mit Hauruck und mit Holdrio auf ein Schlachtbrett umgebettet werden kann.

Als der Metzger von Neuem mit dem Daumen die Schärfe einer Klinge prüft, zwischen Bauch und Brust energisch zum gekonnten Schnitt ansetzt und das Gekröse grau und rosa aus dem geöffneten Leib heraus in eine Tanse quillt, schließt das Kind seine Augen, lässt sich vom Fensterkreuz zurück auf den Stallboden sinken und setzt sich in der Ecke frierend auf einen Ballen Stroh. Es will nicht mehr sehen, wie der Mann ohne Zögern und Zaudern den verkniffen grinsenden Kopf zerlegt.

Draußen tollen sie.

Lumière hat den Photoapparat auf den Brunnenrand gestellt und hält sich die großen Schweineohren an seine geäderten Schläfen, während er grunzend an allem schnüffelt, Grotwohl hat sich mit Gewalt die ungehäutete Zunge zwischen die Zähne gezwängt, so dass sie über sein Kinn baumelt, Kanarin stolpert mit der augenlosen blutigen Schädelschwarte auf seinem Nacken vornübergeneigt in einem taumelnden Tanz rund um das ausgeweidete Tier und zieht wie wild an der Pfeife, bis der dürre Stumpentabak knistert und es aussieht, als rauche es aus den großen Rüssellöchern, derweil Ludian mit dem wippenden Ringelschwanz, erst vorn im Schritt, dann am Steiß, mit Krücke, Holzprothese und unversehrtem Bein auf dem glitschigen Mus aus Blut, Schleim und Schnee sich in einem hinkenden Walzertakt torkelnd um die eigene Achse dreht.

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