Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»So eine Schönheit!« wurde in der Menge gerufen.

»Sie ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein!«

»Der Brautkranz deckt alles zu, ihr Dummköpfe!«

»Nein, so eine Schönheit kann man lange suchen; hurra!« riefen die Nächststehenden.

»Eine Fürstin! Um einer solchen Fürstin willen würde ich meine Seele verkaufen!« rief ein Kanzlist. »Mein Leben gäbe ich hin für eine Nacht ...!«

Nastasja Filippowna war, als sie heraustrat, wirklich bleich wie Leinwand; aber ihre großen schwarzen Augen funkelten die Menge an wie glühende Kohlen; diesem Blick konnte die Menge nicht widerstehen; die Entrüstung verwandelte sich in ein enthusiastisches Geschrei. Schon war der Wagenschlag geöffnet, schon bot Keller der Braut den Arm, als sie plötzlich aufschrie und sich von den Stufen vor der Haustür gerade in die Volksmenge hineinstürzte. Alle ihre Begleiter standen starr vor Staunen; die Menge trat vor ihr auseinander, und fünf oder sechs Schritte von der Haustür entfernt erschien plötzlich Rogoschin. Sein Blick war es gewesen, den Nastasja Filippowna in der Menge aufgefangen hatte. Sie lief wie eine Wahnsinnige zu ihm hin und ergriff seine beiden Hände.

»Rette mich! Schaffe mich weg! Wohin du willst, sofort!« Rogoschin nahm sie beinahe auf die Arme und trug sie fast zum Wagen hin. Darauf zog er in einem Augenblick aus seinem Portemonnaie einen Hundertrubelschein und reichte ihn dem Kutscher hin.

»Nach dem Bahnhof, und wenn du noch zum Zug hinkommst, bekommst du noch einen Hunderter!«

Damit sprang er selbst hinter Nastasja Filippowna her in den Wagen und warf den Schlag zu. Der Kutscher bedachte sich nicht einen Augenblick und schlug auf die Pferde los. Keller schob nachher alles auf das Überraschende des Vorgangs: »Noch eine Sekunde, und ich hätte mich gefaßt gehabt, und dann hätte ich es nicht geschehen lassen!« erklärte er, als er das Begebnis erzählte. Er nahm sich schnell mit Burdowski einen andern Wagen, der zufällig dort stand, und machte sich auf die Verfolgung; aber er wurde, als sie schon unterwegs waren, andern Sinnes. »Es ist jedenfalls zu spät!« sagte er. »Mit Gewalt kann man sie nicht wiederholen!«

»Auch der Fürst würde es nicht wollen!« bemerkte der tief ergriffene Burdowski.

Rogoschin und Nastasja Filippowna kamen noch rechtzeitig zum Bahnhof. Nachdem sie aus dem Wagen ausgestiegen waren, fand Rogoschin, fast schon im Begriff, in den Zug zu steigen, doch noch Zeit, ein vorübergehendes Mädchen in einer alten, aber anständigen, dunklen Mantille und einem Kopftuch anzuhalten.

»Wollen Sie mir für fünfzig Rubel Ihre Mantille überlassen?« fragte er, indem er dem Mädchen das Geld hinhielt.

Während das Mädchen noch staunte und vergeblich den Zusammenhang zu begreifen suchte, hatte er ihr schon einen Fünfzigrubelschein in die Hand geschoben, ihr die Mantille nebst dem Tuch abgenommen und beides Nastasja Filippowna über die Schultern und den Kopf geworfen. Ihre so prächtige Toilette fiel in die Augen und würde im Waggon die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben; und erst nachher verstand das Mädchen, warum ihr jemand mit solchem Profit für sie ihre alten geringwertigen Kleidungsstücke abgekauft hatte.

Das Gerücht von dem merkwürdigen Ereignis gelangte mit außerordentlicher Schnelligkeit nach der Kirche. Als Keller zum Fürsten hinkam, stürzten eine Menge ihm ganz unbekannter Leute auf ihn zu, um ihn auszufragen. Man redete laut über die Sache, schüttelte den Kopf und lachte sogar; niemand verließ die Kirche; alle warteten sie darauf, wie der Bräutigam die Nachricht aufnehmen werde. Er wurde etwas blaß, hörte aber die Mitteilung mit Ruhe an und sagte kaum hörbar: »Befürchtungen hatte ich; aber ich hatte doch nicht gedacht, daß gerade dies ...« Und dann fügte er nach kurzem Stillschweigen hinzu: »Übrigens ... bei ihrem Zustand ... ist das durchaus erklärlich.« Eine solche Äußerung nannte nachher Keller selbst »beispiellos philosophisch«. Der Fürst verließ die Kirche, anscheinend ruhig und gefaßt; wenigstens hatten viele diesen Eindruck und erzählten es nachher. Wie es schien, verlangte es ihn, nach Hause zu kommen und möglichst bald allein zu sein; aber dieses letztere vergönnte man ihm nicht. Hinter ihm her traten mehrere der Eingeladenen ins Zimmer, unter andern Ptizyn, Gawrila Ardalionowitsch und mit ihnen auch der Arzt, der ebenfalls noch nicht fortzugehen gedachte. Außerdem war das Haus von einer Schar von Müßiggängern buchstäblich belagert. Als der Fürst noch in der Veranda war, hörte er, wie Keller und Lebedjew in heftigen Streit mit einigen ganz unbekannten, aber anscheinend dem Beamtenstand angehörigen Leuten gerieten, die um jeden Preis in die Veranda einzudringen suchten. Der Fürst trat zu den Streitenden hin, erkundigte sich, um was es sich handle, schob Lebedjew und Keller höflich beiseite, wandte sich liebenswürdig an einen schon grauhaarigen, behäbigen Herrn, der auf den Stufen der Freitreppe an der Spitze mehrerer anderer Neugieriger stand, und lud ihn ein, ob er nicht die Güte haben und ihm die Ehre seines Besuches erweisen wolle. Der Herr wurde verlegen, trat aber doch näher; ihm folgte ein zweiter und ein dritter. Unter dem ganzen Haufen fanden sich sieben bis acht Menschen, die zu einem Besuch Lust hatten und eintraten, wobei sie sich Mühe gaben, es möglichst ungeniert zu tun; aber weiter bekundete niemand mehr Verlangen, und in der Menge selbst begann man bald, die Vorwitzigen zu tadeln. Die Eingetretenen wurden gebeten, Platz zu nehmen; ein Gespräch kam in Gang; es wurde Tee gereicht: alles vollzog sich in sehr anständigen, gesitteten Formen, zu großer Verwunderung der Eindringlinge. Allerdings wurden von diesen einige Versuche unternommen, dem Gespräch eine heitere Wendung zu geben und es auf das »richtige Thema« zu bringen; auch wurden einige indiskrete Fragen gestellt und einige »geschickte« Bemerkungen gemacht. Aber der Fürst antwortete allen so schlicht und freundlich und gleichzeitig in so würdevoller Weise, mit solchem Vertrauen auf die Anständigkeit seiner Gäste, daß die unbescheidenen Fragen ganz von selbst verstummten. Allmählich begann das Gespräch beinah einen ernsten Charakter anzunehmen. Ein etwas streitsüchtiger Herr beteuerte plötzlich mit großer Entrüstung, er werde sein Gut jetzt nicht verkaufen, was auch immer geschehen möge; er werde vielmehr den richtigen Zeitpunkt abpassen; Unternehmungen seien besser als ruhendes Kapital: »Sehen Sie, mein Herr, darin besteht meine wirtschaftliche Methode; ich mache kein Geheimnis daraus.« Da er sich mit seiner Bemerkung an den Fürsten gewandt hatte, so spendete dieser ihm warmen Beifall, trotzdem Lebedjew ihm ins Ohr flüsterte, daß dieser Herr weder Haus noch Hof besitze und niemals ein Gut gehabt habe. So war beinah eine Stunde vergangen; der Tee war ausgetrunken, und nun wurde es den Gästen doch endlich peinlich, noch länger dazubleiben. Der Arzt und der grauhaarige Herr nahmen von dem Fürsten herzlichen Abschied; und auch alle andern empfahlen sich freundlich und geräuschvoll. Gute Wünsche wurden ausgesprochen sowie Ansichten von folgender Art: »Deswegen braucht man den Kopf noch nicht hängenzulassen«, und: »Vielleicht ist es so am besten«, und so weiter. Es wurden allerdings auch Versuche gemacht, Champagner zu verlangen; aber die älteren unter den Gästen hielten die jüngeren zurück. Als alle weggegangen waren, bog sich Keller zu Lebedjew hin und sagte zu ihm: »Wir beide, du und ich, hätten ein großes Geschrei erhoben, eine Schlägerei veranstaltet, uns unwürdig benommen und uns die Polizei auf den Hals gezogen; aber er, siehst du wohl, hat sich neue Freunde erworben, und noch dazu was für welche; ich kenne sie!« Lebedjew, der ziemlich »fertig« war, seufzte und erwiderte: »Er hat es den Weisen und Klugen verborgen und den Unmündigen offenbart; das habe ich schon früher mit Bezug auf ihn gesagt, und jetzt füge ich hinzu: Gott hat auch diesen Unmündigen selbst bewahrt und vom Abgrund errettet. Er und alle seine Heiligen!«

Endlich um halb elf ließen alle den Fürsten allein; der Kopf tat ihm weh; als letzter von allen ging Kolja weg, nachdem er ihm noch behilflich gewesen war, den Hochzeitsanzug mit der Hauskleidung zu vertauschen. Sie nahmen voneinander sehr herzlichen Abschied. Kolja redete nicht über das Geschehene, versprach aber, morgen recht früh wiederzukommen. Er bezeugte später, der Fürst habe ihm bei diesem letzten Abschied nichts von der Zukunft gesagt, also auch vor ihm seine Absichten geheimgehalten. Bald war im ganzen Haus fast niemand mehr zurückgeblieben: Burdowski war zu Ippolit gegangen; Keller und Lebedjew hatten sich zusammen irgendwohin begeben. Nur Wjera Lebedjewa blieb noch einige Zeit in den Zimmern und versetzte sie mit möglichster Beschleunigung aus dem festtäglichen wieder in ihren gewöhnlichen Zustand. Als sie wegging, blickte sie zum Fürsten hinein. Er saß am Tisch, auf beide Ellbogen gestützt, das Gesicht in den Händen verborgen. Sie trat leise an ihn heran und berührte ihn an der Schulter; der Fürst blickte sie verständnislos an und schien sich eine ganze Weile zu besinnen; als er sich dann aber an alles erinnert und sich alles vergegenwärtigt hatte, geriet er plötzlich in große Aufregung. Das Ende war übrigens, daß er Wjera dringend bat, sie möchte doch morgen früh zum ersten Zug um sieben Uhr an seine Tür klopfen. Wjera versprach es; der Fürst bat sie inständig, niemandem etwas davon mitzuteilen; sie versprach auch dies, und zuletzt, als sie schon die Tür geöffnet hatte, um hinauszugehen, hielt der Fürst sie noch ein drittes Mal zurück, ergriff ihre beiden Hände, küßte ihr diese, küßte dann auch sie selbst auf die Stirn und sagte mit einem »ganz besonderen« Gesichtsausdruck zu ihr: »Auf morgen!« So berichtete wenigstens Wjera nachher. Sie ging in großer Angst um ihn fort. Am Morgen fühlte sie sich einigermaßen beruhigt, als sie um sieben Uhr der Verabredung gemäß an seine Tür geklopft und ihn benachrichtigt hatte, daß der Zug nach Petersburg in einer Viertelstunde abgehe; es schien ihr, er habe, als er die Tür öffnete, ganz frisch ausgesehen und sogar gelächelt. Er hatte sich in der Nacht fast gar nicht ausgekleidet, aber doch geschlafen. Er äußerte, möglicherweise werde er noch an demselben Tag zurückkommen. Somit war sie die einzige, der er in diesem Augenblick für möglich und notwendig befunden hatte mitzuteilen, daß er nach der Stadt fahre.

 

XI

Eine Stunde darauf war er bereits in Petersburg, und zwischen neun und zehn Uhr klingelte er bei Rogoschin. Er hatte das Haus durch den Haupteingang betreten, und es wurde ihm lange nicht geöffnet. Endlich öffnete sich die Tür zur Wohnung der alten Frau Rogoschina, und es erschien die alte, ehrbare Dienerin.

»Parfen Semjonowitsch ist nicht zu Hause«, benachrichtigte sie ihn, in der Tür stehend. »Zu wem wollten Sie?«

»Zu Parfen Semjonowitsch.«

»Er ist nicht zu Hause.«

Die Dienerin betrachtete den Fürsten mit sonderbarer Neugier.

»Sagen Sie mir wenigstens, ob er die Nacht über zu Hause gewesen ist! Und ... ist er gestern allein zurückgekommen?«

Die Dienerin fuhr fort, ihn anzusehen, gab ihm aber keine Antwort.

»War nicht gestern ... gegen Abend ... Nastasja Filippowna mit ihm zusammen hier?«

»Gestatten Sie die Frage, wer Sie selbst sind!«

»Fürst Ljow Nikolajewitsch Myschkin; wir sind sehr gut miteinander bekannt.«

»Er ist nicht zu Hause.«

Die Dienerin schlug die Augen nieder.

»Und Nastasja Filippowna?«

»Davon weiß ich nichts.«

»Warten Sie, warten Sie! Wann wird er denn wiederkommen?«

»Das weiß ich auch nicht.«

Die Tür schloß sich.

Der Fürst beschloß, nach einer Stunde wiederzukommen. Als er auf den Hof blickte, fand er dort den Hausknecht.

»Ist Parfen Semjonowitsch zu Hause?«

»Jawohl, er ist zu Hause.«

»Wie kommt es denn, daß mir soeben gesagt wurde, er wäre nicht zu Hause?«

»Ist Ihnen das in seiner Wohnung gesagt worden?«

»Nein, eine Dienerin hat es mir von der Wohnung der Mutter aus gesagt; bei Parfen Semjonowitsch habe ich geklingelt, aber es wurde nicht geöffnet.«

»Vielleicht ist er auch ausgegangen«, meinte der Hausknecht. »Er meldet es nicht an. Manchmal nimmt er auch den Schlüssel mit; dann bleibt die Wohnung drei Tage lang verschlossen.«

»Daß er gestern zu Hause war, weißt du bestimmt?«

»Ja, er war zu Hause. Manchmal kommt er vom Haupteingang her; dann sieht ihn unsereiner gar nicht.«

»Und Nastasja Filippowna kam gestern nicht mit ihm?«

»Das weiß ich nicht. Sie pflegt nicht oft zu kommen; ich meine, wenn sie gekommen wäre, würde ich es wissen.«

Der Fürst ging hinaus und wanderte eine Weile in Gedanken versunken auf dem Trottoir hin und her. Die Fenster der von Rogoschin bewohnten Zimmer waren sämtlich geschlossen; die Fenster der von seiner Mutter bewohnten Seite standen fast alle offen. Es war ein heller, heißer Tag; der Fürst ging quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Trottoir hinüber, stellte sich dort hin und blickte noch einmal nach den Fenstern: sie waren nicht nur geschlossen, sondern es waren auch fast bei allen die weißen Rouleaus heruntergelassen.

Er stand ein Weilchen da, und (seltsam!) auf einmal schien es ihm, als ob der Rand eines Rouleaus ein wenig zur Seite geschoben und Rogoschins Gesicht einen Augenblick sichtbar würde und sofort wieder verschwände. Er wartete noch eine kurze Zeit und wollte schon hingehen und noch einmal klingeln, änderte aber dann seine Absicht und verschob es um eine Stunde: »Wer weiß«, dachte er, »vielleicht ist es mir nur so vorgekommen ...« Vor allen Dingen eilte er jetzt nach der Ismailowskaja-Straße, nach der Wohnung, welche Nastasja Filippowna noch unlängst innegehabt hatte. Es war ihm bekannt, daß sie, als sie auf seine Bitte vor drei Wochen aus Pawlowsk weggezogen war, sich in der Ismailowskaja-Straße bei einer früheren guten Bekannten von ihr einquartiert hatte, einer Lehrerwitwe und achtbaren Familienmutter, die einen Teil ihrer Wohnung gut möbliert weitervermietete und davon fast ganz lebte. Das Wahrscheinlichste war, daß Nastasja Filippowna, als sie wieder nach Pawlowsk übersiedelte, die Wohnung weiterbehalten hatte; wenigstens war sehr wahrscheinlich, daß sie jetzt in dieser Wohnung übernachtet hatte, wohin sie gestern wohl von Rogoschin gebracht worden war. Der Fürst nahm eine Droschke. Unterwegs kam ihm der Gedanke, daß er hiermit hätte anfangen sollen, da es unwahrscheinlich sei, daß sie in der Nacht direkt zu Rogoschin gefahren wäre. Dabei mußte er auch an die Bemerkung des Hausknechts denken, daß Nastasja Filippowna nicht häufig ins Haus gekommen sei. Wenn sie überhaupt nicht häufig hinkam, aus welchem Grund sollte sie dann gerade jetzt bei Rogoschin eingekehrt sein? Indem er sich mit diesen Tröstungen ermutigte, gelangte der Fürst endlich in einem Mittelzustand zwischen Leben und Tod nach der Ismailowskaja-Straße.

Zu seiner großen Überraschung hatte man bei der Lehrerwitwe weder am vorhergehenden noch an diesem Tag etwas von Nastasja Filippowna gehört; aber alle kamen herausgelaufen, um ihn selbst wie ein Wundertier anzustaunen. Die ganze zahlreiche Familie der Lehrerwitwe, lauter Mädchen, immer ein Jahr auseinander, im Alter von fünfzehn bis zu sieben Jahren, strömte hinter der Mutter her heraus und umringte ihn mit offenem Mund. Hinter ihnen kam auch ihre hagere, gelbe Tante mit einem schwarzen Kopftuch heraus, und endlich erschien die Großmutter der Familie, eine alte Dame mit einer Brille. Die Lehrerwitwe bat ihn dringend, einzutreten und sich zu setzen, was der Fürst auch tat. Er merkte sofort, daß ihnen vollständig bekannt war, wer er war, und daß sie genau wußten, daß gestern seine Hochzeit hatte sein sollen, und nun den brennenden Wunsch hatten, ihn nach der Hochzeit zu befragen und eine Erklärung des wunderlichen Umstands zu erhalten, daß er sich jetzt bei ihnen nach derjenigen erkundigte, die jetzt nirgends sonst als in Pawlowsk mit ihm hätte zusammen sein sollen, daß aber ihr Taktgefühl sie von diesen Fragen zurückhielt. In kurzen Zügen befriedigte er ihre Neugier hinsichtlich der Hochzeit. Nun fingen sie an, ihr Erstaunen zu äußern und »ach!« und »oh!« zu rufen, so daß er sich genötigt sah, auch fast alles übrige zu erzählen, natürlich mit Beschränkung auf die Hauptpunkte. Endlich kam das Konsilium der weisen, aufgeregten Damen zu dem Schluß, der Fürst müsse unter allen Umständen und vor allen Dingen sich den Zutritt zu Rogoschin erzwingen und sich von ihm über alles positive Auskunft geben lassen. Wenn Rogoschin nicht zu Hause sei (was zuverlässig festgestellt werden müsse) oder nichts sagen wolle, so müsse der Fürst nach der Semjonowskaja-Straße fahren, zu einer deutschen Dame, einer Bekannten von Nastasja Filippowna, die dort mit ihrer Mutter wohne; vielleicht habe Nastasja Filippowna in ihrer Aufregung und in dem Wunsch, sich verborgen zu halten, bei denen übernachtet. Der Fürst erhob sich in sehr bedrückter Stimmung; die Damen erzählten später, er sei »furchtbar blaß« geworden; tatsächlich konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Endlich hörte er aus einem schrecklichen Durcheinanderreden heraus, daß sie sich verabredeten, ihm behilflich zu sein, und ihn nach seiner Adresse in der Stadt fragten. Eine Adresse, unter der er zu erreichen gewesen wäre, hatte er gar nicht, und so rieten sie ihm denn, in einem Gasthaus Quartier zu nehmen. Der Fürst überlegte ein Weilchen und gab ihnen dann die Adresse seines früheren Gasthauses an, desselben, wo er vor fünf Wochen den Anfall gehabt hatte. Dann begab er sich wieder zu Rogoschin. Dieses Mal wurde nicht nur bei Rogoschin nicht geöffnet, sondern auch die Tür zur Wohnung der alten Mutter blieb geschlossen. Der Fürst begab sich zum Hausknecht und fand ihn mit Mühe auf dem Hof; der Hausknecht war irgendwie beschäftigt und antwortete kaum, sah den Fürsten sogar kaum an; aber er erklärte doch mit Bestimmtheit, Parfen Semjonowitsch sei ganz früh weggegangen; er sei nach Pawlowsk gefahren und werde heute nicht mehr nach Hause kommen.

»Ich werde warten; vielleicht kommt er am Abend?«

»Vielleicht bleibt er auch eine Woche weg; wer kann das wissen?«

»Also hat er doch heute hier übernachtet?«

»Übernachtet hat er hier schon ...«

All dies war verdächtig und unglaubwürdig. Gut möglich, daß der Hausknecht in der Zwischenzeit neue Instruktionen erhalten hatte; vor kurzem war er geradezu redselig gewesen, und jetzt wandte er sich einfach vom Fürsten ab. Aber der Fürst beschloß, nach zwei Stunden noch einmal heranzukommen und, wenn es nötig sein sollte, sogar bei dem Haus Wache zu halten; jetzt aber blieb noch die Hoffnung auf die Deutsche, und er fuhr eiligst nach der Semjonowskaja-Straße.

Aber bei der Deutschen fand er überhaupt kein Verständnis für seine Wünsche. Aus einigen flüchtigen Andeutungen konnte er sogar entnehmen, daß die schöne Deutsche sich vor ungefähr vierzehn Tagen mit Nastasja Filippowna überworfen hatte, so daß sie all diese Tage her von ihr nichts gehört hatte und jetzt ausdrücklich zu verstehen gab, es interessiere sie gar nicht, wieder von ihr zu hören, »und wenn sie alle Fürsten der Welt heirate«. Der Fürst beeilte sich wegzugehen. Es kam ihm unter anderm der Gedanke, sie sei vielleicht wie damals nach Moskau gefahren und Rogoschin selbstverständlich hinter ihr her, vielleicht aber auch mit ihr zusammen. »Wenn man wenigstens irgendwelche Spuren finden könnte!« dachte er. Er erinnerte sich jedoch, daß er in dem Gasthaus Quartier nehmen müsse, und eilte nach der Litejnaja-Straße; dort wies man ihm sogleich ein Zimmer an. Der Kellner fragte ihn, ob er etwas essen wolle; er antwortete in seiner Zerstreutheit: »Ja!« und war, als er dann seine Gedanken gesammelt hatte, sehr ärgerlich auf sich selbst, weil das Essen ihn unnötigerweise eine halbe Stunde aufhielt; erst nachher fiel ihm ein, daß ihn ja nichts gehindert hätte, das bestellte Essen im Stich zu lassen. Eine sonderbare Empfindung bemächtigte sich seiner in diesem halbdunklen, heißen Korridor, eine Empfindung, die qualvoll danach strebte, sich in einen Gedanken zu verwandeln; aber er konnte absolut nicht erraten, worin dieser neue, sich aufdrängende Gedanke eigentlich bestand. Als er endlich das Gasthaus verließ, war er kaum bei Sinnen; der Kopf war ihm schwindelig; aber wohin sollte er fahren? Er eilte wieder zu Rogoschin.

Rogoschin war nicht zurückgekehrt; auf sein Klingeln wurde nicht geöffnet; er klingelte bei der alten Frau Rogoschina; es wurde geöffnet und ihm gesagt, Parfen Semjonowitsch sei nicht da und werde vielleicht drei Tage wegbleiben. Auffällig war dem Fürsten, daß die Dienerin ihn wie früher mit einer seltsamen Neugier musterte. Den Hausknecht fand er diesmal überhaupt nicht. Nachdem er das Haus verlassen hatte, ging er wie das vorige Mal auf das gegenüberliegende Trottoir, sah nach den Fenstern und wanderte in der drückenden Hitze eine halbe Stunde, vielleicht auch noch länger, auf und ab; aber dieses Mal bewegte sich nichts; die Fenster öffneten sich nicht; die weißen Rouleaus waren unbeweglich. Er sagte sich endgültig, daß es ihm gewiß auch vorhin nur so vorgekommen sei, und daß die Fenster allem Anschein nach so trübe und so lange nicht geputzt seien, daß man es schwer erkennen könne, wenn wirklich jemand durch die Scheiben sähe. Erfreut über diesen Gedanken, fuhr er wieder nach der Ismailowskaja-Straße zu der Lehrerwitwe.

Dort erwartete man ihn bereits. Die Lehrerwitwe war schon an drei, vier Stellen gewesen und sogar selbst zu Rogoschin gefahren, hatte aber nicht die geringste Spur gefunden. Der Fürst hörte schweigend zu, trat ins Zimmer, setzte sich auf das Sofa und blickte alle an, wie wenn er gar nicht verstände, wovon sie zu ihm redeten. Sonderbar: bald war er außerordentlich aufmerksam, bald auf einmal wurde er wieder in unglaublichem Maße zerstreut. Die ganze Familie erklärte später, er sei an diesem Tag »ein ganz erstaunlich sonderbarer Mensch« gewesen, so daß sich vielleicht damals schon alles bei ihm »angedeutet« habe. Er stand schließlich auf und bat, man möchte ihm die früher von Nastasja Filippowna bewohnten Zimmer zeigen. Dies waren zwei große, helle, hohe, sehr anständig möblierte Zimmer, deren Mietpreis nicht billig war. Alle diese Damen erzählten später, der Fürst habe in den Zimmern jeden Gegenstand betrachtet; er habe auf einem Tischchen ein aufgeschlagenes Buch aus der Leihbibliothek gesehen, den französischen Roman »Madame Bovary«, habe an der aufgeschlagenen Stelle die Ecke eines Blattes umgebogen, um die Erlaubnis gebeten, das Buch mitnehmen zu dürfen, und ohne auf den Einwand zu hören, daß es Eigentum der Leihbibliothek sei, es sofort in die Tasche gesteckt. Er habe sich an das offene Fenster gesetzt und, als er den mit Kreide vollgeschriebenen Spieltisch bemerkt habe, gefragt, wer da gespielt habe. Sie hätten ihm erzählt, Nastasja Filippowna habe jeden Abend mit Rogoschin Schafskopf, Préférence, Müller, Whist, Eigene Trümpfe und alle möglichen Spiele gespielt; das Kartenspielen sei bei ihnen erst in der letzten Zeit, nach der Übersiedlung von Pawlowsk nach Petersburg, aufgekommen; denn Nastasja Filippowna habe immer geklagt, sie langeweile sich, und Rogoschin sitze die ganzen Abende schweigend da und wisse über nichts zu reden; sie habe sogar häufig darüber geweint; da habe Rogoschin eines Abends auf einmal ein Spiel Karten aus der Tasche gezogen; Nastasja Filippowna habe laut aufgelacht, und sie hätten angefangen zu spielen. Der Fürst fragte, wo die Karten seien, mit denen sie gespielt hätten. Aber die Karten waren nicht zu finden; die Karten hatte Rogoschin immer selbst in der Tasche mitgebracht, jeden Tag ein neues Spiel, und dann wieder mit fortgenommen.

 

Die Damen rieten ihm, noch einmal zu Rogoschin zu fahren und noch einmal möglichst stark zu klingeln und zu klopfen, aber nicht sogleich, sondern erst am Abend; vielleicht stelle sich heraus, daß er da sei. Die Lehrerwitwe erbot sich, selbst unterdes vor dem Abend nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna zu fahren, ob dort irgend etwas bekannt sei. Sie baten den Fürsten, jedenfalls um zehn Uhr abends noch einmal zu ihnen zu kommen, damit sie für den nächsten Tag Verabredungen treffen könnten. Obwohl sie ihn auf alle Weise zu trösten und ihm Hoffnung zu machen suchten, hatte sich doch völlige Verzweiflung der Seele des Fürsten bemächtigt. In unbeschreiblichem Kummer ging er zu Fuß nach seinem Gasthaus zurück. In dem sommerlichen, staubigen, stickigen Petersburg fühlte er sich wie in einem Schraubstock; er drängte sich zwischen grobem oder betrunkenem Volk durch, betrachtete ohne Zweck die Gesichter und machte vielleicht einen weiten Umweg; es war schon beinah Abend, als er im Gasthaus in sein Zimmer trat. Er beschloß, sich ein Weilchen zu erholen und dann wieder zu Rogoschin zu gehen, wie ihm geraten worden war, setzte sich auf das Sofa, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und dachte nach.

Gott weiß, wie lange er so dasaß, und Gott weiß, woran er dachte. Vieles war es, was ihn ängstigte, und mit Schmerz und Qual war er sich dieser Angst bewußt. Es fiel ihm Wjera Lebedjewa ein; dann dachte er, daß Lebedjew vielleicht etwas von dieser Sache wisse oder, wenn er nichts davon wisse, vielleicht schneller und leichter als er etwas darüber in Erfahrung bringen könne. Dann dachte er an Ippolit und daran, daß Rogoschin zu Ippolit gefahren war. Dann dachte er an Rogoschin selbst: an dessen neuliche Anwesenheit bei der Seelenmesse; dann an die Begegnung im Park; dann auf einmal an die Begegnung hier im Korridor, als er sich damals im Winkel versteckt hatte und mit dem Messer auf ihn wartete. Jetzt fielen ihm seine Augen ein, die Augen, die ihn damals in der Dunkelheit angeschaut hatten. Er fuhr zusammen: der Gedanke, der sich ihm vorhin hatte aufdrängen wollen, kam ihm jetzt plötzlich in den Kopf.

Dieser Gedanke bestand zum Teil darin, daß Rogoschin, wenn er in Petersburg war, mochte er sich auch zeitweilig vor ihm verbergen, dennoch unter allen Umständen schließlich zu ihm, dem Fürsten, kommen werde, sei es in guter, sei es in schlechter Absicht, vielleicht in derselben wie damals. Jedenfalls konnte Rogoschin, wenn er aus irgendeinem Grund zu ihm kommen wollte, nirgend anderswohin gehen als hierher, wieder nach diesem selben Korridor. Eine Adresse hatte der Fürst bei Rogoschin nicht hinterlassen; also konnte dieser sehr wohl denken, daß der Fürst wieder in dem früheren Gasthaus abgestiegen sei. Jedenfalls war zu erwarten, daß er versuchen werde, ihn hier zu finden ... wenn er großes Verlangen nach ihm trage. Und wie konnte man es wissen, vielleicht trug er wirklich schon großes Verlangen nach ihm.

So dachte er, und diese Vermutung schien ihm durchaus möglich. Er würde, wenn er sich in diesen Gedanken vertieft hätte, nicht imstande gewesen sein, manche Fragen befriedigend zu beantworten: zum Beispiel warum Rogoschin so plötzlich Verlangen nach ihm bekommen solle, und warum es unmöglich sein solle, daß sie schließlich überhaupt nicht zusammenkämen. Aber der Fürst sagte sich in sehr gedrückter Stimmung weiter: »Wenn es ihm gutgeht, wird er nicht kommen; eher, wenn es ihm schlechtgeht; und es wird ihm gewiß schlechtgehen ...« Infolge dieser Überzeugung hätte er nun allerdings auf Rogoschin zu Hause, in seinem Gasthofszimmer, warten sollen; aber es war, als könne er seinen neuen Gedanken nicht ertragen; er sprang auf, ergriff seinen Hut und lief hinaus. Auf dem Korridor war es schon fast ganz dunkel. »Wie, wenn er jetzt plötzlich aus jenem Winkel heraustritt und mich auf der Treppe anhält?« ging es ihm durch den Kopf, als er sich der bekannten Stelle näherte. Aber niemand trat heraus. Er stieg die Treppe hinunter, ging unter dem Tor hindurch, trat auf das Trottoir hinaus, wunderte sich über den dichten Menschenschwarm, der mit Sonnenuntergang auf die Straße hinausströmte (wie das in Petersburg zur Hundstagszeit immer der Fall ist), und schlug die Richtung nach der Gorochowaja-Straße ein. Als er sich von seinem Gasthaus fünfzig Schritte entfernt hatte, berührte bei der ersten Straßenkreuzung auf einmal jemand in der Menge seinen Ellbogen und sagte halblaut dicht an seinem Ohr:

»Ljow Nikolajewitsch, komm mit mir mit, Bruder; ich bedarf deiner.«

Es war Rogoschin.

Sonderbar: der Fürst begann auf einmal so erfreut, daß er stammelte und die Worte kaum zu Ende sprach, ihm zu erzählen, wie er ihn soeben im Gasthaus auf dem Korridor erwartet habe.

»Ich war dort«, erwiderte Rogoschin zu seiner Überraschung. »Komm mit!«

Der Fürst wunderte sich über diese Antwort; aber er wunderte sich erst mindestens zwei Minuten später, nachdem er die Antwort überlegt hatte. Bei dieser Überlegung erschrak er und begann Rogoschin aufmerksam zu betrachten. Dieser war ihm schon fast einen halben Schritt vorausgekommen; er schaute gerade vor sich hin und blickte keinen der Passanten an, wich aber allen mit mechanischer Vorsicht aus.

»Warum hast du mich nicht auf meinem Zimmer aufgesucht ... wenn du doch im Gasthaus warst?« fragte der Fürst auf einmal.

Rogoschin blieb stehen, sah ihn an, dachte ein Weilchen nach und sagte dann, wie wenn er die Frage nicht verstanden hätte:

»Weißt du was, Ljow Nikolajewitsch, geh du hier geradeaus bis dicht an unser Haus, verstehst du? Aber paß auf, daß wir nicht auseinanderkommen ...!«

Nach diesen Worten ging er quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Trottoir hinüber, sah sich um, ob der Fürst auch weitergehe, und als er bemerkte, daß dieser stehengeblieben war und mit weitgeöffneten Augen nach ihm hinblickte, machte er ihm mit der Hand ein Zeichen nach der Gorochowaja-Straße zu und ging dann weiter, indem er sich alle Augenblicke nach dem Fürsten hinwandte und ihn zum Nachkommen aufforderte. Er war augenscheinlich beruhigt, als er sah, daß der Fürst ihn verstanden hatte und nicht von dem andern Trottoir zu ihm herüberkam. Dem Fürsten ging der Gedanke durch den Kopf, daß Rogoschin wohl nach jemand Ausschau halten und ihn nicht auf der Straße unbemerkt vorbeipassieren lassen wolle und darum nach dem andern Trottoir hinübergegangen sei. »Aber warum hat er denn nicht gesagt, nach wem er Ausschau hält?« fragte er sich. So gingen sie etwa fünfhundert Schritte, und auf einmal begann der Fürst aus irgendeinem Grund zu zittern; Rogoschin sah sich immer noch um, wiewohl jetzt seltener; der Fürst konnte seine Angst nicht mehr ertragen und winkte ihm mit der Hand. Der kam sofort über die Straße zu ihm herüber.