Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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VI

Was Warwara Ardalionowna ihrem Bruder von der Abendgesellschaft gesagt hatte, die im Jepantschinschen Landhaus stattfinden sollte, und zu der die alte Bjelokonskaja erwartet wurde, erwies sich ebenfalls als völlig richtig; die Gäste wurden wirklich am Abend eben dieses Tages erwartet; aber auch bei dieser Mitteilung hatte sie sich etwas bestimmter ausgedrückt, als sie hätte tun sollen. Allerdings war die Abendgesellschaft sehr eilig und sogar mit einer gewissen, anscheinend sehr unnötigen Erregung arrangiert worden, eben deshalb, weil in dieser Familie »alles anders zuging wie bei andern Leuten«. Dies erklärte sich aus Lisaweta Prokofjewnas Ungeduld, die »aus dem Zustand des Zweifelns herauszukommen« wünschte, und aus der heißen Sorge der beiden Elternherzen um das Glück ihrer Lieblingstochter. Außerdem beabsichtigte die alte Bjelokonskaja tatsächlich, bald wieder abzureisen; da aber ihre Protektion in der vornehmen Welt wirklich viel bedeutete und die Eltern hofften, daß sie dem Fürst wohlgesinnt sein werde, so rechneten sie darauf, daß die vornehme Welt Aglajas Bräutigam geradewegs aus den Händen der allmächtigen Alten entgegennehmen und folglich, wenn an ihm dies und das wunderlich sein sollte, es unter einer solchen Protektion weit weniger wunderlich erscheinen werde. Die Schwierigkeit bestand ja eben darin, daß die Eltern nicht imstande waren, selbst die Frage zu beantworten: »Ist bei dieser ganzen Sache etwas wunderlich, und wie weit geht dies? Oder ist überhaupt dabei nichts wunderlich?« Eine freundschaftliche, offenherzige Meinungsäußerung maßgebender, urteilsfähiger Personen wäre ihnen gerade in dem gegenwärtigen Augenblick erwünscht gewesen, wo infolge Aglajas Benehmen noch nichts definitiv entschieden war. Jedenfalls mußte man den Fürsten früher oder später in die vornehme Welt einführen, von der er auch nicht den geringsten Begriff hatte. Kurz und gut, sie beabsichtigten, ihn zu »zeigen«. Die in Aussicht genommene Gesellschaft sollte indes nur ganz einfach werden; es wurden nur »Freunde des Hauses« in ganz geringer Anzahl erwartet. Außer der alten Bjelokonskaja erwarteten sie noch eine Dame, die Gemahlin eines sehr hohen Würdenträgers. Von jüngeren Leuten rechnete man fast nur auf Jewgeni Pawlowitsch; er sollte als Begleiter der alten Bjelokonskaja erscheinen.

Daß die alte Bjelokonskaja da sein werde, hatte der Fürst schon drei Tage vor der Abendgesellschaft gehört; von der Abendgesellschaft selbst aber erfuhr er erst tags zuvor. Er bemerkte selbstverständlich das geschäftige Gebaren der Familienmitglieder und durchschaute auch infolge einiger andeutenden, besorgten Gespräche, die diese mit ihm führten, daß sie hinsichtlich des Eindrucks, den er hervorbringen werde, Befürchtungen hegten. Aber die Jepantschins hatten sich sämtlich die Meinung gebildet, daß er bei seiner Harmlosigkeit nicht imstande sei zu erraten, daß sie sich über ihn beunruhigten, was sie doch alle bei seinem Anblick innerlich taten. Übrigens legte er dem bevorstehenden Ereignis wirklich keinerlei Bedeutung bei; er war mit etwas ganz anderem beschäftigt: Aglaja wurde von Stunde zu Stunde launenhafter und düsterer und das drückte ihn nieder. Als er erfuhr, daß auch Jewgeni Pawlowitsch erwartet wurde, freute er sich sehr und sagte, er habe ihn schon längst zu sehen gewünscht. Aus irgendeinem Grund mißfielen diese Worte allen; Aglaja verließ ärgerlich das Zimmer und benutzte erst spät am Abend, zwischen elf und zwölf Uhr, als der Fürst bereits fortging und sie ihn hinausbegleitete, die Gelegenheit, ihm ein paar Worte unter vier Augen zu sagen.

»Ich würde wünschen, daß Sie morgen den ganzen Tag nicht zu uns kämen, sondern sich erst am Abend einfänden, wenn diese ... Gäste sich schon versammeln. Sie wissen wohl, daß Gäste bei uns sein werden?«

Sie sprach ungeduldig und außerordentlich mürrisch; es war das erste Mal, daß sie diese Abendgesellschaft erwähnte. Für sie war der Gedanke an die Gäste fast unerträglich; das bemerkten alle. Vielleicht hatte sie große Lust, sich darüber mit ihren Eltern zu zanken; aber ihr Stolz und ihre Verschämtheit hinderten sie, davon anzufangen. Der Fürst erkannte sofort, daß auch sie um seinetwillen ihre Befürchtungen hatte (und es nicht eingestehen wollte, daß dies der Fall war), und wurde nun auch seinerseits ängstlich.

»Ja, ich bin eingeladen«, antwortete er.

Sie fand es offenbar schwierig, das Gespräch fortzusetzen.

»Kann man mit Ihnen einmal im Ernst reden? Wenigstens einmal im Leben?« sagte sie, plötzlich in heftigen Zorn geratend, ohne selbst zu wissen worüber, und ohne sich beherrschen zu können.

»O ja; ich werde Ihnen aufmerksam zuhören; ich freue mich sehr«, murmelte der Fürst.

Aglaja schwieg wieder ein Weilchen und begann dann mit sichtlichem Widerwillen:

»Ich wollte mit den Meinigen nicht darüber streiten; in manchen Dingen sind sie nicht zur Vernunft zu bringen. Die Lebensanschauungen, die Mama manchmal hat, sind mir von jeher zuwider gewesen. Von Papa will ich nicht reden; von dem ist nichts zu verlangen. Mama ist gewiß eine anständig denkende Frau; wagen Sie einmal, ihr etwas Unwürdiges zuzumuten, dann werden Sie sehen! Na, aber vor diesem ... Pack, da kriecht sie! Ich rede nicht von der alten Bjelokonskaja; sie ist ein schlechtes Weib und hat einen schlechten Charakter; aber sie ist klug und versteht es, die andern alle im Zaum zu halten; das ist wenigstens ein Gutes an ihr. O diese unwürdige Erniedrigung! Und wie lächerlich das ist: wir haben in gesellschaftlicher Hinsicht immer der Mittelschicht angehört, der reinsten Mittelschicht, die man sich denken kann; wozu sollen wir uns jetzt in diesen vornehmen Kreis eindrängen? Die Schwestern hauen in dieselbe Kerbe; Fürst Schtsch. hat sie alle verdreht gemacht. Warum freuen Sie sich denn darüber, daß Jewgeni Pawlowitsch kommen wird?«

»Hören Sie, Aglaja«, sagte der Fürst, »mir scheint, Sie sind um mich sehr besorgt, ich könnte morgen bei dieser Abgendgesellschaft durchfallen?«

»Um Sie? Besorgt?« fuhr Aglaja auf und wurde dunkelrot. »Warum sollte ich um Sie besorgt sein, wenn Sie auch ... wenn Sie sich auch völlig blamieren? Was geht das mich an? Und wie können Sie solche Ausdrücke gebrauchen? Was heißt das: ›durchfallen‹? Das ist ein häßlicher Ausdruck, ein gemeiner Ausdruck.«

»Das ist ... ein Schulausdruck.«

»Na ja, ein Schulausdruck! Ein häßlicher Ausdruck! Sie beabsichtigen, wie es scheint, morgen in lauter solchen Ausdrücken zu reden. Suchen Sie sich doch zu Hause noch möglichst viele solche Ausdrücke in Ihrem Wörterbuch heraus; damit werden Sie Effekt machen! Schade, daß Sie, wie es scheint, verstehen, mit Anstand in einen Salon zu treten; wo haben Sie das nur gelernt? Verstehen Sie es, eine Tasse Tee mit Anstand in Empfang zu nehmen und auszutrinken, wenn alle absichtlich nach Ihnen hinsehen?«

»Ich meine, daß ich es verstehe.«

»Das ist schade; sonst hätte ich etwas zum Lachen. Zerbrechen Sie wenigstens die chinesische Vase im Salon! Sie ist sehr wertvoll; bitte, zerbrechen Sie die; sie ist ein Geschenk; Mama wird den Verstand verlieren und in Gegenwart aller in Tränen ausbrechen, so ist sie ihr ans Herz gewachsen. Machen Sie irgendeine Gestikulation, wie Sie das zu tun pflegen, stoßen Sie dabei daran, und zerbrechen Sie sie! Setzen Sie sich absichtlich daneben!« »Im Gegenteil, ich werde mich bemühen, mich möglichst weit davon zu setzen; ich danke Ihnen, daß Sie mich gewarnt haben.«

»Also fürchten Sie doch im voraus, daß Sie stark gestikulieren werden. Ich möchte darauf wetten, daß Sie über irgendein ›Thema‹ sprechen werden, über irgend etwas Ernstes, Gelehrtes, Großartiges; das wird äußerst ... wohlanständig sein!«

»Ich meine, es würde dumm herauskommen, wenn ich zu unpassender Zeit von dergleichen anfangen wollte.«

»Hören Sie ein für allemal«, brach nun Aglaja aus, »wenn Sie wieder über solche Dinge Vorträge halten werden wie über die Todesstrafe oder über die wirtschaftliche Lage Rußlands oder darüber, daß ›die Welt durch die Schönheit werde erlöst werden‹, dann ... werde ich mich natürlich freuen und sehr lachen, aber ich sage Ihnen dann im voraus: kommen Sie mir dann nicht wieder unter die Augen! Hören Sie wohl: ich rede im Ernst! Diesmal rede ich wirklich im Ernst!«

Sie sprach diese Drohung tatsächlich in ernstem Ton aus, so daß sogar etwas Ungewöhnliches aus ihren Worten herausklang und aus ihrem Blick herausschaute, was der Fürst früher nie bemerkt hatte, und was allerdings mit Scherz keine Ähnlichkeit hatte.

»Nun, Sie haben bewirkt, daß ich jetzt unfehlbar ›einen Vortrag halten‹ und vielleicht sogar die Vase zerbrechen werde. Vorhin hatte ich noch keine Befürchtungen gehegt; aber jetzt befürchte ich alles. Ich werde mit Sicherheit durchfallen.«

»Schweigen Sie also! Sitzen Sie still, und schweigen Sie!«

»Das wird nicht angehen; ich bin überzeugt, daß ich vor Angst anfangen werde zu reden und vor Angst die Vase zerbrechen werde. Vielleicht werde ich auch auf dem glatten Fußboden hinfallen, oder es wird sonst etwas passieren; denn dergleichen ist mir schon begegnet. Und nun werde ich die ganze Nacht davon träumen. Warum haben Sie auch davon zu reden angefangen!«

Aglaja blickte ihn finster an.

»Wissen Sie was?« fuhr der Fürst nach einer kleinen Pause endlich fort. »Das beste wird sein, wenn ich morgen gar nicht herkomme! Ich werde einen Zettel schicken, daß ich krank bin; dann ist die Sache erledigt!« Aglaja stampfte mit dem Fuß und wurde ganz blaß vor Zorn.

»Mein Gott! Hat man je so etwas erlebt! Er will nicht herkommen, wo doch alles expreß um seinetwillen ... o Gott! Ja, es ist ein Vergnügen, mit so einem unvernünftigen Menschen zu tun zu haben, wie Sie!«

 

»Nun, ich werde kommen, ich werde kommen!« unterbrach der Fürst sie schnell. »Und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich den ganzen Abend über dasitzen werde, ohne ein Wort zu sagen. Ich werde es ganz bestimmt so machen.«

»Daran werden Sie guttun. Sie sagten soeben: ›ich werde einen Zettel schicken, daß ich krank bin‹; wo nehmen Sie denn eigentlich all solche Ausdrücke her? Wie kommen Sie denn dazu, mir gegenüber solche Ausdrücke zu gebrauchen? Sie wollen mich wohl damit necken?«

»Pardon; das ist ebenfalls ein Schulausdruck; ich werde es nicht wieder tun. Ich begreife sehr wohl, daß Sie ... Befürchtungen wegen meiner Person hegen ... (aber werden Sie nur nicht böse!), und ich freue mich darüber recht sehr. Sie glauben gar nicht, wie ich mich jetzt vor Ihren Worten fürchte, und – wie ich mich über Ihre Worte freue. Aber diese ganze Furcht ist nach meiner festen Überzeugung nur Torheit und dummes Zeug, wahrhaftig, Aglaja; aber die Freude wird bleiben. Ich habe es sehr gern, daß Sie ein solches Kind sind, ein so liebes, gutes Kind! Ach, wie allerliebst Sie sein können, Aglaja!«

Aglaja wollte natürlich eine zornige Antwort geben und setzte schon dazu an; aber plötzlich erfüllte ein Gefühl, das ihr selbst überraschend kam, in einem Augenblick ihre ganze Seele.

»Werden Sie mir auch meine jetzigen unartigen Reden nicht ... später einmal ... vorhalten?« fragte sie plötzlich.

»Was reden Sie da! Was reden Sie da! Und warum sind sie wieder so rot geworden? Und jetzt sehen Sie wieder so finster aus! Sie machen jetzt manchmal ein so finsteres Gesicht, Aglaja, wie Sie es früher nie taten. Ich weiß, warum ...«

»Schweigen Sie, schweigen Sie!«

»Nein, es ist besser, wenn wir darüber reden. Ich wollte schon lange davon sprechen; ich habe schon früher einmal davon gesprochen, aber das war zu wenig; denn Sie haben mir nicht geglaubt. Zwischen uns steht ein Wesen ...«

»Schweigen Sie, schweigen Sie, schweigen Sie, schweigen Sie!« unterbrach ihn Aglaja; sie faßte ihn kräftig am Arm und sah ihn angstvoll an.

In diesem Augenblick wurde sie gerufen; sie schien sich darüber zu freuen, ließ ihn stehen und lief davon.

Der Fürst lag die ganze Nacht über im Fieber. Seltsamerweise hatte er schon mehrere Nächte hintereinander gefiebert. Diesmal kam ihm im halben Irrwahn der Gedanke: wenn er nun morgen in Gegenwart aller einen Anfall bekäme, was dann? Er hatte ja schon solche Anfälle im Zustand des Wachens gehabt. Bei diesem Gedanken überlief es ihn eiskalt; die ganze Nacht über sah er sich in einer wunderlichen, unerhörten Gesellschaft zwischen irgendwelchen sonderbaren Leuten. Die Hauptsache dabei war, daß er »einen Vortrag hielt«; er wußte, daß er nicht reden sollte, redete aber doch die ganze Zeit über und suchte die Anwesenden zu etwas zu überreden. Jewgeni Pawlowitsch und Ippolit befanden sich ebenfalls unter den Gästen und schienen sehr gute Freunde zu sein.

Er erwachte zwischen acht und neun Uhr mit Kopfschmerzen, mit einer argen Verwirrung aller Gedanken und mit seltsamen Empfindungen. Aus unklarem Grund fühlte er ein lebhaftes Verlangen, Rogoschin wiederzusehen, ihn wiederzusehen und viel mit ihm zu reden; worüber eigentlich, daß wußte er selbst nicht; dann beschloß er, zu irgendeinem Zweck zu Ippolit zu gehen. In seinem Herzen herrschte eine gewisse Verworrenheit, so daß das, was er an diesem Vormittag erlebte, ihm einen zwar sehr starken, aber dabei doch nur unvollständigen Eindruck machte. Eines dieser Erlebnisse bestand in einem Besuch Lebedjews.

Lebedjew erschien ziemlich früh, bald nach neun Uhr, und fast ganz betrunken. Obgleich der Fürst in der letzten Zeit auf seine Umgebung nicht viel geachtet hatte, war es ihm doch aufgefallen, daß, seitdem General Iwolgin vor drei Tagen von ihnen weggezogen war, Lebedjew sich sehr schlecht aufführte. Er hatte auf einmal angefangen sehr unsauber und schmutzig auszusehen; das Halstuch saß ihm schief; der Rockkragen war zerrissen. In seiner Wohnung tobte er nur so umher, so daß es über den Hof zu hören war; Wjera kam einmal weinend zum Fürsten und erzählte ihm etwas. Als er jetzt erschien, begann er in ganz seltsamer Weise zu reden und beschuldigte sich selbst, indem er sich heftig gegen die Brust schlug ...

»Ich habe nun den Lohn für meinen Verrat und für meine Gemeinheit erhalten ... Ich habe eine Ohrfeige bekommen!« schloß er endlich mit tragischem Pathos.

»Eine Ohrfeige? Von wem ...? Und so früh am Morgen?«

»So früh am Morgen?« versetzte Lebedjew spöttisch lächelnd. »Die Zeit dabei spielt keine Rolle ... nicht einmal bei einer physischen Bestrafung ... aber ich habe eine moralische ... eine moralische Ohrfeige erhalten, und keine physische!«

Er setzte sich ungeniert hin und begann zu erzählen. Seine Erzählung war sehr unzusammenhängend; der Fürst wollte schon stirnrunzelnd weggehen, als ihn plötzlich einige Worte frappierten. Er war starr vor Verwunderung ... Herr Lebedjew erzählte gar zu seltsame Dinge.

Anfangs handelte es sich anscheinend um irgendeinen Brief; dabei kam Aglaja Iwanownas Name vor. Dann begann Lebedjew auf einmal sich bitter über den Fürsten selbst zu beklagen; man konnte verstehen, daß er sich von dem Fürsten beleidigt fühlte. Zuerst habe der Fürst hinsichtlich seiner Beziehungen zu einer gewissen Person, Nastasja Filippowna, ihn seines Vertrauens gewürdigt, dann aber sich ganz von ihm losgesagt und ihn mit Schimpf und Schande weggejagt, und sogar in so beleidigender Weise, daß er das letzte Mal eine harmlose Frage nach den nahe bevorstehenden Veränderungen im Hause unhöflich zurückgewiesen habe. Mit Tränen, wie Betrunkene sie leicht vergießen, gestand Lebedjew, nach alledem habe er es nicht mehr aushalten können, um so weniger, da er vieles wisse ... sehr vieles ... was ihm viele Personen mitgeteilt hätten: Rogoschin und Nastasja Filippowna und Nastasja Filippownas Freundin und Warwara Ardalionowna und ... und sogar Aglaja Iwanowna selbst, »können Sie sich das vorstellen? durch Wjeras Vermittlung, durch Vermittlung meiner geliebten Tochter Wjera, meiner einzigen Tochter ... jawohl ... übrigens nicht meiner einzigen, denn ich habe ihrer drei. Aber wer hat auf brieflichem Weg Lisaweta Prokofjewna Mitteilungen zugehen lassen, sogar unter dem Siegel des allertiefsten Geheimnisses, hehe? Wer hat sie von allen Beziehungen und Handlungen jener Person, Nastasja Filippownas, benachrichtigt, hehehe? Gestatten Sie die Frage: wer ist dieser Anonymus gewesen?«

»Sind das wirklich Sie gewesen?« rief der Fürst.

»Allerdings«, antwortete der Betrunkene würdevoll; »und erst heute noch, um halb neun, erst vor einer halben Stunde ... nein, es ist schon dreiviertel Stunden her, da habe ich die hochedle Mutter wissen lassen, ich hätte ihr ein sehr wichtiges Begebnis mitzuteilen. Durch ein Zettelchen habe ich sie es wissen lassen, durch das Dienstmädchen, von der Hintertür aus. Sie hat mich empfangen.«

»Sie haben soeben Lisaweta Prokofjewna gesehen?« fragte der Fürst, der kaum seinen Ohren traute.

»Ich habe sie soeben gesehen und eine Ohrfeige er halten ... eine moralische Ohrfeige. Sie gab mir den Brief zurück oder schleuderte ihn mir vielmehr hin, ungeöffnet ..., und mich jagte sie mit Genickstößen weg ... übrigens nur im moralischen Sinne ... beinah aber auch im physischen; es fehlte nicht viel daran!«

»Was war denn das für ein Brief, den sie Ihnen ungeöffnet hingeschleudert hat?«

»Habe ich denn ... Hehehe! Aber ich habe es Ihnen ja noch nicht gesagt! Ich glaubte, es Ihnen schon gesagt zu haben ... Ich hatte so einen Brief zur Bestellung erhalten ...«

»Von wem? An wen?«

Aber es war sehr schwer, aus manchen »Erklärungen« Lebedjews klug zu werden oder auch nur etwas davon zu verstehen. Der Fürst konnte nur soviel begreifen, daß der Brief frühmorgens seiner Tochter Wjera von einem Dienstmädchen zum Zweck der Bestellung an seine Adresse ausgehändigt sei ... »ebenso wie schon früher ... ebenso wie schon früher ein Brief von derselben Dame an eine gewisse Person ... (denn ich nenne die eine von ihnen eine Dame und die andere nur eine Person, um die letztere herabzusetzen und sie beide zu unterscheiden; denn es ist ein großer Unterschied zwischen einer unschuldigen, hochedlen Generalstochter und ... so einer Halbweltlerin); jener frühere Brief war also von der Dame, deren Name mit dem Buchstaben A anfängt ...«

»Wie ist das möglich? An Nastasja Filippowna? Unsinn!« rief der Fürst.

»Doch, doch, an die war er, und wenn nicht an sie, so an Rogoschin; das ist ganz dasselbe ... und es ist sogar einmal ein Brief, den die Dame mit dem Buchstaben A an Herrn Terentjew geschrieben hatte, zur Bestellung abgegeben worden«, sagte Lebedjew lächelnd und die Augen zusammenkneifend.

Da er häufig von einem Gegenstand in den andern hineingeriet und vergaß, wovon er zu sprechen angefangen hatte, so schwieg der Fürst, um ihn sich aussprechen zu lassen. Aber doch blieb es sehr unklar, ob die Briefe eigentlich durch seine oder durch Wjeras Hände gegangen waren. Wenn er selbst versicherte, an Rogoschin und an Nastasja Filippowna, das sei ganz dasselbe, so war es danach wahrscheinlicher, daß die Briefe nicht durch seine Hände gegangen waren, vorausgesetzt, daß sie überhaupt existiert hatten. Auf welche Weise ihm jetzt ein Brief in die Hände gekommen war, das blieb völlig unaufgeklärt; am wahrscheinlichsten war die Annahme, daß er ihn Wjera irgendwie weggenommen ... ihn ihr heimlich entwendet und in irgendeiner Absicht zu Lisaweta Prokofjewna getragen habe. Das war die Auffassung, zu der der Fürst schließlich gelangte.

»Sie sind verrückt geworden!« rief er ganz fassungslos.

»Nicht so ganz, hochgeehrter Fürst«, erwiderte Lebedjew nicht ohne Bosheit. »Allerdings wollte ich den Brief eigentlich Ihnen einhändigen, Ihnen zu eigenen Händen, um Ihnen einen Dienst zu erweisen ... aber ich entschied mich dann doch dafür, mich lieber dort verdient zu machen und der edelsten Mutter über alles Klarheit zu verschaffen ... wie ich ja auch schon früher einmal ihr durch einen anonymen Brief eine Mitteilung hatte zugehen lassen; und als ich vorhin um acht Uhr zwanzig Minuten den Zettel schrieb, in dem ich bat, mich zu empfangen, unterzeichnete ich mich zur Vorbereitung: ›Ihr geheimer Korrespondent‹; ich wurde sofort bei der hochedlen Mutter vorgelassen, unverzüglich, sogar mit ganz besonderer Eile, durch den hinteren Eingang ...«

»Nun, und?«

»Aber da hat sie mich beinahe geprügelt; es war nahe daran, ganz nahe daran, so daß sie mich so gut wie geprügelt hat. Und den Brief schleuderte sie mir hin. Allerdings wollte sie ihn zuerst behalten; das sah ich, das bemerkte ich; aber sie änderte ihre Absicht und schleuderte ihn mir hin: ›Wenn er dir, einem solchen Menschen, zur Bestellung anvertraut ist, dann bestelle ihn auch!‹ sagte sie. Sie fühlte sich ordentlich beleidigt. Wenn sie sich nicht geschämt hat, in meiner Gegenwart so zu reden, so muß sie sich wohl beleidigt gefühlt haben. Was hat sie für einen jähzornigen Charakter!«

»Wo ist der Brief jetzt?«

»Ich habe ihn immer noch; da ist er.«

Er übergab dem Fürsten Aglajas Billett an Gawrila Ardalionowitsch, das dieser an demselben Vormittag zwei Stunden später triumphierend seiner Schwester zeigte.

»Dieser Brief darf nicht in Ihren Händen bleiben.«

»Ich gebe ihn Ihnen, Ihnen! Ihnen bringe ich ihn!« rief Lebedjew eifrig. »Jetzt bin ich wieder nach einer vorübergehenden Untreue mit Kopf und Herz Ihr Diener! Bestrafen Sie das Herz, aber schonen Sie den Bart! wie Thomas Morus sagte ... in England und in Großbritannien. Mea culpa, mea culpa, wie die römische Päpstin sagt ... das heißt, er ist der römische Papst; aber ich nenne ihn die römische Päpstin.«

»Dieser Brief muß sogleich dem Adressaten eingehändigt werden«, sagte der Fürst geschäftig. »Ich werde ihn ihm zustellen.«

»Aber wäre es nicht besser, wäre es nicht besser, besterzogener Fürst, wäre es nicht besser ... so!«

Lebedjew schnitt eine sonderbare, rührende Grimasse, bewegte sich unruhig auf seinem Platz hin und her, als ob man ihn mit einer Nadel stäche, zwinkerte schlau mit den Augen und suchte durch Gebärden, die er mit den Händen machte, etwas zu verdeutlichen.

»Was soll das heißen?« fragte der Fürst in strengem Ton. »Man sollte ihn doch zunächst öffnen!« flüsterte er gerührt und gleichsam vertraulich.

Der Fürst sprang in solchem Zorn auf, daß Lebedjew schon davonzulaufen begann; aber als er bis zur Tür gekommen war, blieb er stehen, um abzuwarten, ob der Fürst nicht wieder gnädig werden würde.

 

»Ach, Lebedjew, wie kann nur jemand auf eine so unwürdige Handlung verfallen, wie Sie sie vorschlagen!« rief der Fürst traurig.

Lebedjews Miene hellte sich auf.

»Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch!« sagte er und näherte sich dem Fürsten sofort wieder, indem er Tränen vergoß und sich gegen die Brust schlug.

»Das ist ja eine Schändlichkeit!«

»Gewiß, eine Schändlichkeit. Das ist der richtige Ausdruck.«

»Und was haben Sie für eine häßliche Angewohnheit, in dieser ... seltsamen Weise zu verfahren? Sie sind ja der reine Spion! Warum haben Sie anonym geschrieben und eine so edeldenkende, gute Frau in Aufregung versetzt? Und endlich, warum soll Aglaja Iwanowna nicht das Recht haben, zu schreiben, an wen es ihr beliebt? Warum gingen Sie denn heute hin, um über sie Klage zu führen? Was hofften Sie dort zu erreichen? Was veranlaßte Sie zu dieser Denunziation?«

»Einzig und allein eine vergnügliche Neugier und ... die Dienstfertigkeit meines edlen Herzens, jawohl!« murmelte Lebedjew. »Jetzt aber bin ich ganz der Ihrige, ganz wieder der Ihrige! Meinetwegen können Sie mich aufhängen lassen!«

»Sind Sie in dem Zustand, in dem Sie sich jetzt befinden, auch vor Lisaweta Prokofjewna erschienen?« erkundigte sich, von Ekel erfüllt, der Fürst.

»Nein ... da war ich noch frischer ... und anständiger; in diesen Zustand habe ich mich erst nach meiner Demütigung versetzt ...«

»Nun gut, dann verlassen Sie mich jetzt!«

Indes mußte diese Aufforderung mehrmals wiederholt werden, bis der Besucher sich endlich entschloß wegzugehen. Sogar als er die Tür schon ganz geöffnet hatte, kehrte er noch einmal um, ging auf den Zehen bis in die Mitte des Zimmers zurück und begann von neuem mit den Fingern Zeichen zu machen, durch die er zeigen wollte, wie man einen Brief öffnet; mit Worten seinen Rat auszusprechen wagte er nicht; dann ging er mit leisem, freundlichem Lächeln hinaus.

Es war für den Fürsten überaus peinlich gewesen, dies alles anzuhören. Aus allem ergab sich die eine wichtige, bedeutsame Tatsache, daß Aglaja aus irgendeinem Grund (»aus Eifersucht«, flüsterte der Fürst vor sich hin) sich in großer Unruhe, in großer Unentschlossenheit und in großer Pein befand. Es ergab sich ferner, daß schlechte Menschen bemüht waren, sie in Verwirrung zu versetzen, und es war sehr seltsam, daß sie ihnen so viel Vertrauen schenkte. Offenbar reiften in diesem unerfahrenen, aber hitzigen und stolzen Köpfchen besondere Pläne, vielleicht verderbliche und ganz unerhörte Pläne. Der Fürst war in höchstem Grad erschrocken und wußte in seiner Verwirrung nicht, wozu er sich entschließen sollte. Unter allen Umständen mußte er etwas verhindern; das fühlte er. Er blickte noch einmal auf die Adresse des versiegelten Briefes: oh, hier gab es für ihn keine Zweifel und keine Beunruhigung, weil er glaubte und vertraute; was ihn bei diesem Brief beunruhigte, war etwas anderes: er mißtraute Gawrila Ardalionowitsch. Und doch war er bereits entschlossen, ihm diesen Brief persönlich zu übergeben, und hatte schon zu diesem Zweck das Haus verlassen; aber unterwegs änderte er seine Absicht. Beinah bei Ptizyns Haus begegnete ihm wie gerufen Kolja, und der Fürst beauftragte ihn, den Brief seinem Bruder zu eigenen Händen zu übergeben, als wenn derselbe direkt von Aglaja Iwanowna selbst käme. Kolja fragte nicht weiter und gab ihn ab, so daß Ganja gar nicht ahnte, daß der Brief so viele Zwischenstationen passiert hatte. Als der Fürst nach Hause zurückgekehrt war, ließ er Wjera Lukjanowna zu sich bitten, erzählte ihr so viel, wie erforderlich war, und beruhigte sie; denn sie hatte bis dahin immer nach dem Brief gesucht und geweint. Sie bekam einen großen Schreck, als sie erfuhr, daß ihr Vater den Brief weggetragen habe. (Der Fürst erfuhr von ihr erst später, daß sie zu wiederholten Malen bei der geheimen Korrespondenz zwischen Rogoschin und Aglaja Iwanowna Dienste geleistet habe; es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, daß dem Fürsten daraus irgendein Nachteil erwachsen könne ...) Der Fürst war schließlich in solche Verwirrung geraten, daß, als zwei Stunden darauf ein von Kolja abgeschickter Bote mit der Nachricht von der Erkrankung des Vaters zu ihm gelaufen kam, er im ersten Augenblick nicht begriff, um was es sich handelte. Aber dieser Vorfall hatte die Wirkung, ihn wiederherzustellen, da er ihn von seinen eigenen Sorgen stark ablenkte. Er verbrachte bei Nina Alexandrowna, zu der der Kranke selbstverständlich gebracht worden war, fast die ganze Zeit bis zum Abend. Er konnte sich fast gar nicht nützlich machen; aber es gibt Menschen, die man auch ohne das in gewissen schweren Augenblicken gern um sich sieht. Kolja war furchtbar ergriffen und weinte krampfhaft, rannte aber doch die ganze Zeit über herum; er lief nach einem Arzt und schickte ihrer drei; er lief nach der Apotheke und zum Heilgehilfen. Der General wurde zwar wieder ins Leben zurückgerufen, aber nicht zum Bewußtsein gebracht; die Ärzte sprachen sich dahin aus, der Patient befinde sich jedenfalls in Gefahr. Warja und Nina Alexandrowna wichen nicht von dem Kranken; Ganja war bestürzt und erschüttert, mochte aber nicht nach oben gehen und fürchtete sich sogar, den Kranken zu sehen; er rang die Hände und äußerte, als er mit dem Fürsten sprach, in unzusammenhängender Rede: »So ein Unglück! Und nun gerade zu solcher Zeit!« Der Fürst glaubte zu verstehen, von was für einer Zeit er rede. Ippolit traf der Fürst nicht mehr in Ptizyns Haus an. Gegen Abend kam Lebedjew herbeigelaufen, der nach der morgendlichen Aussprache bis dahin ununterbrochen geschlafen hatte. Jetzt war er beinah nüchtern und vergoß um den Kranken aufrichtige Tränen wie um einen leiblichen Bruder. Er klagte sich laut an, ohne jedoch zu erklären, worin sein Verschulden bestehe, und setzte der armen Nina Alexandrowna mit der alle Augenblicke wiederholten Versicherung zu, er, er selbst, niemand als er sei daran schuld ... einzig und allein aus vergnüglicher Neugier habe er es getan, und der Entschlafene (so nannte er wunderlicherweise den noch lebenden General) sei sogar ein höchst genialer Mensch gewesen. Er betonte mit besonderem Ernst immer wieder dessen Genialität, als ob das in diesem Augenblick irgendwelchen außerordentlichen Nutzen hätte schaffen können. Nina Alexandrowna, die seine aufrichtigen Tränen sah, sagte schließlich zu ihm ohne jeden Vorwurf und beinah mit einer Art von Zärtlichkeit: »Wir wollen es gut sein lassen; weinen Sie nicht mehr; Gott wird es Ihnen verzeihen!« Lebedjew war durch diese Worte und den Ton, in dem sie gesprochen wurden, so gerührt, daß er diesen ganzen Abend nicht mehr von Nina Alexandrownas Seite weichen wollte (auch nicht an den folgenden Tagen, bis zum Tod des Generals, verbrachte er fast die ganze Zeit vom Morgen bis in die Nacht hinein in diesem Haus). Im Laufe des Tages kam zweimal zu Nina Alexandrowna ein Bote von Lisaweta Prokofjewna, um über das Befinden des Kranken Erkundigungen einzuziehen. Als am Abend um neun Uhr der Fürst im Salon bei Jepantschins erschien, der sich bereits mit Gästen gefüllt hatte, begann Lisaweta Prokofjewna ihn sofort teilnahmsvoll und eingehend nach dem Kranken zu befragen und beantwortete mit ruhigem Ernst die Fragen der alten Bjelokonskaja, was das für ein Kranker und für eine Nina Alexandrowna sei. Dem Fürsten gefiel das sehr. Er selbst redete bei seinem Gespräch mit Lisaweta Prokofjewna »sehr schön«, wie sich nachher Aglajas Schwestern ausdrückten, »bescheiden, leise, ohne überflüssige Worte, ohne Gestikulationen, in würdiger Art; er war mit gewandter Manier in den Salon eingetreten; sein Anzug war tadellos«; er fiel nicht nur nicht auf dem glatten Fußboden hin, wie er tags zuvor befürchtet hatte, sondern machte sogar offenbar auf alle einen recht angenehmen Eindruck.