Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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Darauf stand er wieder vom Stuhl auf, so daß es nicht recht verständlich war, warum er sich überhaupt hingesetzt hatte. Der Fürst hatte auch den Eindruck, als ob Jewgeni Pawlowitsch unzufrieden und gereizt sei und ihn feindselig ansehe, und daß in seinem Blick etwas ganz anderes liege als vorher.

»Apropos, Sie gehen jetzt zu dem Kranken?«

»Ja ... ich bin um ihn besorgt«, erwiderte der Fürst.

»Seien Sie unbesorgt; er wird gewiß noch sechs Wochen leben und sich vielleicht hier noch ganz erholen. Aber das beste wäre, wenn Sie ihn morgen wegjagten.«

»Ich habe ihn vielleicht wirklich dadurch verletzt, daß ich nichts gesagt habe; er hat schließlich gedacht, ich zweifelte daran, daß er sich erschießen werde. Wie denken Sie darüber, Jewgeni Pawlowitsch?«

»Nein, nein. Sie sind zu gutherzig, daß Sie sich um ihn noch Sorge machen. Ich habe wohl sagen hören, aber nie in natura gesehen, daß sich jemand absichtlich deswegen erschießt, um gelobt zu werden, oder aus Ärger darüber, daß man ihn deswegen nicht lobt. Vor allen Dingen hätte ich eine solche offene Kundgebung der eigenen Schwachmütigkeit nicht für möglich gehalten! Aber ich möchte Ihnen doch raten, ihn morgen wegzujagen.«

»Sie glauben, daß er noch einmal auf sich schießen wird?«

»Nein, jetzt wird er sich nicht mehr erschießen. Aber nehmen Sie sich vor diesen einheimischen Lacenaires in acht! Ich wiederhole Ihnen: diese talentlose, ungeduldige, begehrliche Nichtigkeit nimmt sehr gewöhnlich ihre Zuflucht zum Verbrechen.«

»Ist er etwa ein Lacenaire?«

»Dem eigentlichen Wesen nach ja, wiewohl die theatralischen Rollen vielleicht verschieden sind. Achten Sie einmal darauf, ob dieser Herr nicht imstande ist, ein Dutzend Menschen abzuschlachten, bloß um einen auffallenden Streich zu begehen, genau so, wie er uns das selbst vorhin in seiner Erklärung vorgelesen hat. Jetzt werden mich diese Worte am Einschlafen hindern.«

»Sie beunruhigen sich vielleicht zu sehr.«

»Ich muß mich über Sie wundern, Fürst; glauben Sie nicht, daß er imstande ist, jetzt ein Dutzend Menschen zu töten?«

»Ich scheue mich, Ihnen darauf zu antworten; all dies ist so seltsam, aber ...«

»Nun, wie Sie wollen, wie Sie wollen!« schloß Jewgeni Pawlowitsch gereizt. »Überdies sind Sie ja ein so tapferer Mann; nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie nicht selbst einer von diesem Dutzend werden.«

»Das Wahrscheinlichste ist, daß er niemand töten wird«, sagte der Fürst, indem er Jewgeni Pawlowitsch nachdenklich anblickte.

Dieser lachte ärgerlich.

»Auf Wiedersehen! Es wird Zeit, daß ich gehe! Haben Sie wohl beachtet, daß er eine Abschrift seiner Beichte Aglaja Iwanowna vermacht hat?«

»Ja, es ist mir aufgefallen, und ... ich denke darüber nach.«

»Denken Sie darüber nach, wenn es zu dem Dutzend Morde kommen sollte«, antwortete Jewgeni Pawlowitsch, von neuem lachend, und ging weg.

Eine Stunde darauf (es war schon drei Uhr vorüber) ging der Fürst in den Park hinunter. Er hatte in seiner Wohnung zu schlafen versucht, es aber vor starkem Herzklopfen nicht vermocht. Im Haus war übrigens alles angemessen eingerichtet worden, und man hatte sich wieder einigermaßen beruhigt; der Kranke war eingeschlafen, und der Arzt, der gekommen war, hatte erklärt, es bestehe keinerlei besondere Gefahr. Lebedjew, Kolja und Burdowski hatten sich im Zimmer des Kranken hingelegt, um einander in der Nachtwache abzulösen; es war also kein Grund, sich Sorgen zu machen.

Aber die Unruhe des Fürsten wuchs von Minute zu Minute. Er schweifte, zerstreut um sich blickend, im Park umher und blieb erstaunt stehen, als er zu dem freien Platz vor dem Bahnhof gelangte und die Reihen leerer Bänke und die Pulte für die Musiker erblickte. Dieser Ort machte einen überraschenden Eindruck auf ihn und kam ihm aus unklarem Grund furchtbar häßlich vor. Er kehrte wieder um und gelangte auf eben dem Weg, auf dem er tags zuvor mit Jepantschins zum Bahnhof gegangen war, zu der grünen Bank, die ihm für das Rendezvous bezeichnet war, setzte sich darauf und lachte plötzlich laut auf, worüber er sofort in starke Entrüstung geriet. Seine traurige Stimmung hielt immer noch an; er wäre am liebsten irgendwohin davongegangen, er wußte nur nicht, wohin. Über ihn auf einem Baum sang ein Vögelchen, und er begann es mit den Augen im Laubwerk zu suchen; plötzlich flatterte das Vögelchen von dem Baum fort, und in demselben Augenblick mußte er unwillkürlich an jene Fliege im warmen Sonnenstrahl denken, von welcher Ippolit in seiner Erklärung gesagt hatte, sie kenne ihren Platz in dem allgemeinen Festchor und nehme an diesem teil, während er allein ein Ausgestoßener sei. Dieser Gedanke hatte schon vorhin auf ihn einen starken Eindruck gemacht, und er erinnerte sich jetzt daran. Längst Vergessenes wurde jetzt in ihm rege und trat ihm plötzlich klar vor die Seele.

Das war in der Schweiz gewesen, im ersten Jahr seiner Kur, sogar in den ersten Monaten. Er war damals noch ganz wie ein Idiot, konnte nicht einmal ordentlich sprechen und war manchmal nicht imstande, zu verstehen, was man von ihm verlangte. Er war einmal an einem klaren, sonnigen Tag in die Berge gegangen und wanderte dort, mit einem qualvollen Gedanken beschäftigt, der aber durchaus keine deutliche Gestalt annehmen wollte, lange umher. Über ihm war der leuchtende Himmel, unten der See, ringsum der helle Horizont in weiter, weiter Entfernung. Er schaute dies alles lange an und wurde dabei von einem schmerzlichen Gefühl gepeinigt. Er erinnerte sich jetzt, daß er damals seine Hände nach dieser hellen, endlosen Bläue ausstreckte und weinte. Es war ihm eine Qual, daß er alldem ganz fremd gegenüberstand. Was war denn dies für ein Festschmaus, was war denn dies für ein steter, endloser, großer Feiertag, zu dem es ihn schon lange, schon immer, schon seit seiner Kindheit hinzog, und zu dem er doch nie gelangen konnte? Jeden Morgen ging dieselbe helle Sonne auf; jeden Morgen stand über dem Wasserfall ein Regenbogen; jeden Abend flammte der höchste, schneebedeckte Berg dort in der Ferne am Rande des Himmels in purpurner Glut auf; jede kleine Fliege, die im warmen Sonnenstrahl um ihn herumsummte, nahm an diesem ganzen Festchor teil, kannte ihren Platz, liebte ihn und war glücklich; jedes Gräschen wuchs und war glücklich! Und alles hatte seinen gewiesenen Weg, und alles kannte seinen Weg und kam singend und ging singend; nur er wußte nichts und verstand nichts, weder die Menschen noch die Töne; er stand allem fremd gegenüber; er war ein Ausgestoßener. Er konnte seinen Gedanken damals natürlich nicht mit diesen Worten aussprechen und ausdrücken; er quälte sich taub und stumm; aber jetzt schien es ihm, als habe er all dies schon damals gesagt, all diese selben Worte, und als habe Ippolit das über die Fliege Gesagte von ihm selbst, aus seinen damaligen Worten und Tränen, herübergenommen. Er war davon überzeugt, und das Herz begann ihm bei diesem Gedanken heftig zu klopfen ...

Er schlief auf der Bank ein; aber seine Unruhe setzte sich auch im Schlaf fort. Unmittelbar vor dem Einschlafen erinnerte er sich an die Befürchtung, daß Ippolit ein Dutzend Menschen ermorden werde, und mußte über das Absurde dieser Vorstellung lächeln. Um ihn herum herrschte eine schöne, reine Stille; nur die Blätter rauschten leise, und davon schien es ringsumher noch stiller und einsamer zu werden. Er träumte sehr viel, und es waren lauter unruhige Träume, infolge deren er alle Augenblicke zusammenschrak. Schließlich träumte er, es käme eine Frau zu ihm; er kannte sie, kannte sie mit Schmerzen; er konnte einem jeden ihren Namen nennen, sie einem jeden zeigen; aber seltsam: sie hatte jetzt ein ganz anderes Gesicht als dasjenige, das er immer gekannt hatte, und er gab sich mit innerer Qual alle mögliche Mühe, sie nicht als jene Frau wiederzuerkennen. In diesem Gesicht lag so viel Reue und Angst, daß es schien, sie sei eine furchtbare Verbrecherin und habe soeben eine schreckliche Tat begangen. Eine Träne zitterte auf ihrer blassen Wange; sie winkte ihm mit der Hand und legte den Finger an die Lippen, wie wenn sie ihn auffordern wollte, ihr leise zu folgen. Das Herz stand ihm still; um keinen Preis, um keinen Preis wollte er sie für eine Verbrecherin halten; aber er fühlte, daß sogleich etwas Schreckliches vorgehen werde, durch das sein ganzes Leben werde beeinflußt werden. Sie schien ihm etwas zeigen zu wollen, ganz in der Nähe, im Park. Er erhob sich, um ihr nachzugehen, und auf einmal hörte er, wie neben ihm jemand frisch und fröhlich lachte; eine Hand befand sich in der seinigen; er erfaßte diese Hand, drückte sie kräftig und erwachte. Vor ihm stand laut lachend Aglaja.

VIII

Sie lachte; aber sie war zugleich unwillig.

»Er schläft! Sie haben geschlafen!« rief sie verwundert und geringschätzig.

»Sie sind es!« murmelte der Fürst, der noch nicht ganz zu sich gekommen war und sie mit Erstaunen erkannte.

»Ach ja! Das Rendezvous ...! Ich habe hier geschlafen.«

»Das habe ich gesehen.«

»Hat mich außer Ihnen niemand geweckt? War außer Ihnen niemand hier? Ich glaubte, es sei ... eine andere Frau hier gewesen.«

»Eine andere Frau sollte hier gewesen sein?«

Endlich hatte er seine Gedanken wieder vollständig gesammelt.

»Es war nur ein Traum«, sagte er nachdenklich. »Sonderbar, daß mir in einem solchen Augenblick so etwas träumte ... Setzen Sie sich!«

Er faßte sie bei der Hand und veranlaßte sie, sich auf die Bank zu setzen; er selbst setzte sich neben sie und überließ sich seinen Gedanken. Aglaja begann das Gespräch nicht, sondern blickte den neben ihr Sitzenden nur unverwandt an. Er schaute sie ebenfalls an, aber manchmal so, als ob er sie überhaupt nicht vor sich sähe. Sie errötete.

 

»Ach ja!« sagte der Fürst zusammenfahrend. »Ippolit hat sich erschossen!«

»Wann? In Ihrer Wohnung?« fragte sie, aber ohne großes Erstaunen. »Gestern abend lebte er ja doch wohl noch? Wie konnten Sie denn nach einem solchen Vorfall hier schlafen?« rief sie, plötzlich lebhaft werdend.

»Aber er ist ja nicht tot; die Pistole versagte.«

Auf Aglajas dringendes Verlangen mußte der Fürst sogleich und in aller Ausführlichkeit alle Ereignisse der vergangenen Nacht erzählen. Sie trieb ihn während der Erzählung alle Augenblicke zur Eile, unterbrach ihn aber selbst fortwährend mit Fragen, und zwar betrafen diese fast immer nebensächliche Dinge. Unter anderm hörte sie mit großem Interesse an, was Jewgeni Pawlowitsch gesagt hatte, und stellte einige Male sogar Fragen darüber.

»Nun aber genug! Wir müssen uns beeilen«, schloß sie, nachdem sie alles gehört hatte. »Wir können hier nur eine Stunde bleiben, bis acht Uhr, weil ich um acht Uhr unter allen Umständen zu Hause sein muß, damit die andern nicht erfahren, daß ich hier gesessen habe. Ich bin aber in einer ernsten Angelegenheit hergekommen und habe Ihnen vieles mitzuteilen. Nur haben Sie mich jetzt ganz aus dem Konzept gebracht. Was Ippolit betrifft, so meine ich, es war das Richtige, daß seine Pistole versagte; das paßt zu seiner Persönlichkeit am besten. Aber sind Sie überzeugt, daß er sich tatsächlich erschießen wollte und es nicht bloß Humbug war?«

»Es war bestimmt kein Humbug.«

»Das ist das Wahrscheinlichste. Er hat also auch geschrieben, Sie sollten mir seine Beichte bringen? Warum haben Sie sie mir nicht gebracht?«

»Aber er ist ja nicht gestorben. Ich werde ihn fragen, ob ich es unter diesen Umständen tun soll.«

»Bringen Sie sie mir auf jeden Fall; Sie brauchen gar nicht erst zu fragen. Es wird ihm vielleicht sehr angenehm sein, weil er vielleicht mit der Absicht auf sich geschossen hat, daß ich dann seine Beichte lesen sollte. Bitte, lachen Sie nicht über meine Worte, Ljow Nikolajewitsch; es ist wohl möglich, daß es sich so verhält.«

»Ich lache nicht; denn ich bin selbst davon überzeugt, daß dies teilweise sehr wohl möglich ist.«

»Sie sind davon überzeugt? Sie glauben das wirklich auch?« fragte Aglaja höchst erstaunt. Sie stellte ihre Fragen schnell und redete hastig, geriet aber manchmal in Verwirrung und brachte die Sätze oft nicht zu Ende. Alle Augenblicke kündigte sie ihm eilig etwas Bevorstehendes an; überhaupt befand sie sich in außerordentlicher Unruhe, und obwohl sie eine sehr tapfere, herausfordernde Miene annahm, war sie vielleicht doch etwas feige. Sie trug ein ganz einfaches Alltagskleid, das ihr sehr gut stand. Sie zuckte oft zusammen, errötete und saß nur auf dem Rand der Bank. Die Zustimmung des Fürsten zu ihrer Ansicht, daß Ippolit sich erschossen habe, damit sie seine Beichte läse, versetzte sie in großes Erstaunen.

»Gewiß wünschte er«, erklärte der Fürst, »daß außer Ihnen auch wir alle ihn loben möchten ...«

»Wieso loben?«

»Das heißt, es ist ... Wie soll ich Ihnen das deutlich machen? Es ist sehr schwer zu sagen. Aber er wünschte gewiß, alle möchten ihn umringen und zu ihm sagen, daß sie ihn sehr liebten und achteten, und alle möchten ihn dringend bitten, am Leben zu bleiben. Gut möglich, daß er dabei Sie mehr als alle andern im Auge hatte, weil er sich Ihrer in einem solchen Augenblick erinnerte ... wiewohl er vielleicht selbst nicht wußte, daß er Sie im Auge hatte.«

»Das ist mir ganz unverständlich: er hatte jemand im Auge und wußte nicht, daß er ihn im Auge hatte. Übrigens habe ich für seine Handlungsweise wohl Verständnis: wissen Sie, daß ich selbst gegen dreißigmal, von der Zeit an, als ich noch ein dreizehnjähriges Mädchen war, daran dachte, mich zu vergiften, und das alles in einem Brief an meine Eltern niederschrieb und mir sogar überlegte, wie ich im Sarg liegen würde, und wie alle um mich herumstehen und weinen und sich anklagen würden, weil sie so hart gegen mich gewesen seien ... Warum lächeln Sie wieder?« fügte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen schnell hinzu. »Woran denken Sie denn immer im stillen, wenn Sie so ganz für sich allein sich Ihren Träumereien überlassen? Vielleicht stellen Sie sich vor, Sie seien Feldmarschall und schlügen Napoleon.«

»Wahrhaftig, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, daran denke ich, besonders beim Einschlafen«, antwortete der Fürst lachend. »Nur schlage ich nicht Napoleon, sondern immer die Österreicher.«

»Ich habe gar keine Lust, mit Ihnen zu scherzen, Ljow Nikolajewitsch. Mit Ippolit will ich selbst sprechen und bitte Sie, ihm das mitzuteilen. Aber was Sie betrifft, so mißfällt mir Ihre Handlungsweise sehr; denn es ist sehr roh, eine Menschenseele in der Weise zu untersuchen und zu kritisieren, wie Sie es mit Ippolits Seele machen. Es fehlt Ihnen an Zärtlichkeit; die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.«

Der Fürst dachte nach.

»Mir scheint, daß Sie gegen mich ungerecht sind«, sagte er dann. »Ich finde nichts Schlechtes daran, daß er so gedacht hat; denn es neigen ja alle Menschen dazu, so zu denken; zudem hat er vielleicht überhaupt nicht so gedacht, sondern nur einen Wunsch gehabt ... er wünschte zum letztenmal mit Menschen zusammen zu sein und ihre Achtung und Liebe zu verdienen; das sind doch sehr gute Gefühle; nur daß die Sache einen ganz andern Ausgang nahm; das kam von seiner Krankheit und noch aus einem andern Grund her! Manche Menschen haben eben immer in allem Glück, während andern alles mißlingt ...«

»Das haben Sie gewiß mit Bezug auf sich selbst hinzugefügt?« bemerkte Aglaja.

»Allerdings«, antwortete der Fürst, ohne die in der Frage liegende Schadenfreude zu beachten.

»Aber an Ihrer Stelle wäre ich hier doch nicht eingeschlafen. Aber wohin Sie nur kommen, da schlafen Sie auch gleich ein; das ist gar nicht hübsch von Ihnen.«

»Ich habe ja die ganze Nacht nicht geschlafen, und dann bin ich immerzu umhergewandert; ich war auf dem Musikplatz.«

»Auf welchem Musikplatz?«

»Da, wo gestern konzertiert wurde; und dann bin ich hierhergekommen, habe mich hingesetzt, vielerlei überlegt und bin eingeschlafen.«

»Ah, so ist das! Das ändert die Sache zu Ihren Gunsten ... Aber warum sind Sie nach dem Musikplatz gegangen?«

»Das weiß ich nicht; ich hatte dabei keine besondere Absicht ...«

»Gut, gut, davon ein andermal; Sie unterbrechen mich immer, und was geht es mich an, daß Sie nach dem Musikplatz gegangen sind? Von was für einer Frau haben Sie denn geträumt?«

»Von ... von ... Sie haben sie gesehen ...«

»Ich verstehe ... verstehe sehr wohl. Sie haben sie also sehr ... Wie haben Sie sie denn im Traum gesehen, in welcher Gestalt? Übrigens will ich es gar nicht wissen«, fügte sie, plötzlich abbrechend, in ärgerlichem Ton hinzu. »Unterbrechen Sie mich nicht ...«

Sie wartete ein wenig, wie wenn sie sich ein Herz fassen wollte oder ihren Ärger zu überwinden suchte.

»Der Grund, weswegen ich Sie herbestellt habe, ist der: ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, mein Freund zu sein. Warum sehen Sie mich auf einmal so starr an?« fügte sie beinahe zornig hinzu.

Der Fürst blickte sie in diesem Augenblick tatsächlich sehr aufmerksam an, da er bemerkte, daß sie wieder anfing, furchtbar rot zu werden. Sie schien in solchen Fällen, je mehr sie errötete, sich um so mehr über sich zu ärgern, was in ihren blitzenden Augen deutlich zum Ausdruck kam; gewöhnlich übertrug sie dann unmittelbar darauf ihren Zorn auf denjenigen, mit dem sie sprach, mochte diesen nun eine Schuld treffen oder nicht, und fing an, sich mit ihm zu streiten. Da sie ihr scheues Wesen kannte und wußte, wie leicht sie sich schämte, so beteiligte sie sich gewöhnlich an dem Gespräch nur wenig und war schweigsamer als ihre Schwestern, mitunter sogar im Übermaß. Wenn sie, besonders in heiklen Fällen, schlechterdings nicht umhin konnte zu reden, so tat sie das zunächst in sehr hochmütiger und gewissermaßen herausfordernder Weise. Sie fühlte es immer vorher, wenn sie anfangen wollte zu erröten.

»Sie wollen meinen Vorschlag vielleicht nicht annehmen?« fragte sie und blickte dabei den Fürsten hochmütig an.

»O doch, ich will ihn annehmen; nur ist das gar nicht erforderlich ... ich meine, ich habe nie geglaubt, daß man einen solchen Vorschlag zu machen brauchte«, erwiderte der Fürst verlegen.

»Aber was haben Sie denn eigentlich gedacht, weswegen ich Sie hierherbestellt hätte? Was machen Sie sich denn für Vorstellungen? Sie halten mich vielleicht für eine kleine Närrin, wie sie das bei mir zu Hause alle tun?«

»Ich habe nicht gewußt, daß man Sie für eine Närrin hält; ich ... ich halte Sie nicht dafür.«

»Sie halten mich nicht dafür? Das ist sehr verständig von Ihnen. Und namentlich ist es sehr verständig von Ihnen, daß Sie es sagen.«

»Meiner Ansicht nach sind Sie sogar vielleicht mitunter sehr verständig«, fuhr der Fürst fort. »Sie haben vorhin einen sehr verständigen Gedanken ausgesprochen. Sie sagten in bezug auf meine zweifelnde Beurteilung Ippolits: ›Die Wahrheit ist Ihnen alles, und darüber werden Sie ungerecht.‹ Das hat sich mir eingeprägt, und darüber denke ich nach.«

Aglaja wurde auf einmal dunkelrot vor Freude. Alle Gefühlsveränderungen vollzogen sich bei ihr mit großer Offenheit und außerordentlicher Schnelligkeit. Der Fürst freute sich ebenfalls und lachte sogar vor Vergnügen, indem er sie anblickte.

»So hören Sie denn«, begann sie wieder, »ich habe lange auf Sie gewartet, um Ihnen das alles zu erzählen, gleich von der Zeit an, wo Sie mir von dort den Brief geschrieben hatten, und sogar schon früher ... Die Hälfte haben Sie von mir schon gestern gehört: ich halte Sie für den ehrlichsten und wahrheitsliebendsten Menschen; Sie sind ehrlicher und wahrheitsliebender als alle anderen, und wenn man von Ihnen sagt, daß Ihr Verstand ... das heißt, daß Ihr Verstand mitunter nicht ganz gesund ist, so ist das ungerecht; das ist meine entschiedene Überzeugung, die ich auch verfochten habe; denn wenn Ihr Verstand auch wirklich nicht ganz gesund sein sollte (Sie werden mir das ja gewiß nicht übelnehmen; ich rede von einem höheren Gesichtspunkt aus), so ist dafür Ihr Hauptverstand besser als bei ihnen allen, sogar so gut, wie sie es sich gar nicht träumen lassen. Denn es gibt zwei Arten von Verstand, einen Hauptverstand und einen Nebenverstand. Nicht wahr? So ist es doch?«

»Vielleicht ist es so«, sagte der Fürst kaum vernehmbar; das Herz zitterte und klopfte ihm gewaltig.

»Ich wußte, daß Sie es verstehen würden«, fuhr sie mit wichtiger Miene fort: »Fürst Schtsch. und Jewgeni Pawlowitsch verstehen von diesen beiden Arten von Verstand nichts und Alexandra ebensowenig; aber denken Sie sich: Mama verstand es!«

»Sie haben sehr viel Ähnlichkeit mit Lisaweta Prokofjewna.«

»Wieso? Wirklich?« fragte Aglaja erstaunt.

»Wahrhaft, das ist meine Ansicht.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Ich freue mich sehr, daß ich mit Mama Ähnlichkeit habe. Sie schätzen sie also wohl sehr hoch?« fügte sie hinzu, ohne die Naivität der Frage gewahr zu werden.

»Sehr hoch, sehr hoch, und ich freue mich, daß Sie das so ohne weiteres herausgefühlt haben.«

»Ich freue mich ebenfalls; denn ich habe bemerkt, daß man sich manchmal ... über sie lustig macht. Aber nun hören Sie die Hauptsache: ich habe es lange überlegt und schließlich Sie ausgewählt. Ich will nicht, daß man sich zu Hause über mich lustig macht; ich will nicht, daß man mich für eine kleine Närrin hält; ich will nicht, daß man mich aufzieht ... Ich habe das alles durchschaut und habe Jewgeni Pawlowitsch mit aller Entschiedenheit abgewiesen, weil ich nicht will, daß man mich ununterbrochen unter die Haube zu bringen sucht! Ich will ... ich will ... nun, ich will von zu Hause weglaufen, und ich habe Sie dazu ausgewählt, mir zu helfen.«

»Von zu Hause weglaufen!?« rief der Fürst.

»Ja, ja, ja, von zu Hause weglaufen!« rief sie plötzlich, in heftigem Zorn aufflammend. »Ich will nicht, ich will nicht, daß sie mich dort fortwährend zwingen zu erröten. Ich will nicht vor ihnen erröten, auch nicht vor dem Fürsten Schtsch., auch nicht vor Jewgeni Pawlowitsch und vor keinem Menschen, und darum habe ich Sie ausgewählt. Mit Ihnen will ich alles, alles besprechen, sobald ich nur Lust habe, sogar das Wichtigste; und Sie dürfen mir Ihrerseits auch nichts verbergen. Ich will wenigstens mit einem Menschen über alles so reden können wie mit mir selbst. Die Meinigen haben auf einmal angefangen so zu reden, als ob ich auf Sie wartete und Sie liebte. Das ging schon so vor Ihrer Ankunft, und ich hatte ihnen Ihren Brief doch gar nicht gezeigt; aber jetzt reden sie nun schon alle davon. Ich will kühn sein und mich vor nichts fürchten. Ich will nicht auf ihre Bälle gehen; ich will Nutzen bringen. Ich habe schon längst davongehen wollen. Ich habe zwanzig Jahre lang bei ihnen wie in einem Käfig gesessen, und immer wollen sie mich unter die Haube bringen. Schon als ich vierzehn Jahre alt war, dachte ich daran davonzulaufen, obwohl ich damals noch dumm war. Jetzt aber habe ich mir schon alles gut überlegt und habe auf Sie gewartet, um Sie gründlich über das Ausland zu befragen. Ich habe noch nie einen gotischen Dom gesehen; ich will in Rom sein; ich will alle wissenschaftlichen Sammlungen ansehen; ich will in Paris studieren; ich habe mich das ganze letzte Jahr über vorbereitet und studiert und sehr viele Bücher gelesen; ich habe auch alle möglichen verbotenen Bücher gelesen. Alexandra und Adelaida lesen allerlei Bücher; sie dürfen das. Aber mir werden nicht alle in die Hände gegeben; ich stehe unter Aufsicht. Ich will mich mit meinen Schwestern nicht herumstreiten; aber meiner Mutter und meinem Vater habe ich schon längst erklärt, daß ich meine soziale Stellung vollständig verändern will. Ich beabsichtige erzieherisch tätig zu sein und habe dabei auf Sie gerechnet, weil Sie gesagt haben, Sie hätten Kinder gern. Können wir zusammen eine erzieherische Tätigkeit ausüben, wenn nicht sogleich, so doch in zukünftiger Zeit? Wir werden vereint Nutzen stiften; ich will kein Generalstöchterchen sein ... Sagen Sie, Sie sind wohl ein sehr gelehrter Mann?«

 

»Oh, durchaus nicht!«

»Das ist schade; ich hatte es geglaubt ...; wie bin ich nur dazu gekommen, es zu glauben? Aber Sie werden dabei doch mein Leiter sein; denn ich habe Sie ausgewählt.«

»Das ist eine Torheit, Aglaja Iwanowna.«

»Ich will von zu Hause weglaufen, ich will es!« rief sie, und ihre Augen funkelten wieder auf. »Wenn Sie mir Ihre Beihilfe versagen, so heirate ich Gawrila Ardalionowitsch. Ich will nicht, daß man mich zu Hause für ein abscheuliches Frauenzimmer hält und mir für Gott weiß was alles die Schuld gibt.«

»Sind Sie bei Sinnen!?« rief der Fürst und sprang beinah von der Bank in die Höhe. »Wer beschuldigt sie? Wer tut so etwas?«

»Alle bei uns zu Hause, meine Mutter, meine Schwestern, mein Vater, Fürst Schtsch., sogar Ihr abscheulicher Kolja! Und wenn sie es nicht geradeheraus sagen, so denken Sie es wenigstens. Ich habe es ihnen allen ins Gesicht gesagt, sowohl meiner Mutter als auch meinem Vater. Mama war infolgedessen einen ganzen Tag krank, und am andern Tag sagten mir Alexandra und Papa, ich wüßte selbst nicht, was ich zusammenphantasierte, und was für Ausdrücke ich gebrauchte. Aber ich habe ihnen sehr entschieden geantwortet, ich verstände schon alles, alle Ausdrücke, und ich wäre kein kleines Kind mehr, und ich hätte schon vor zwei Jahren absichtlich zwei Romane von Paul de Kock gelesen, um alles zu erfahren. Als Mama das hörte, fiel sie beinahe in Ohnmacht.«

Dem Fürsten ging plötzlich ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Er blickte Aglaja prüfend an und lächelte.

Er konnte gar nicht glauben, daß dasselbe hochmütige Mädchen vor ihm saß, das ihm früher einmal mit so stolzer, hochfahrender Miene Gawrila Ardalionowitschs Brief zum Lesen gegeben hatte. Er vermochte nicht zu begreifen, wie in diesem hochmütigen, abweisenden schönen Mädchen ein solches Kind stecken konnte, ein Kind, das vielleicht in Wirklichkeit auch jetzt noch nicht »alle Ausdrücke« verstand.

»Haben Sie immer nur im Elternhaus gelebt, Aglaja Iwanowna?« fragte er. »Ich meine, sind Sie nie in einer Schule gewesen, haben Sie nie ein Unterrichtsinstitut besucht?«

»Nein, niemals; ich habe immer wie in einer verkorkten Flasche zu Hause gesessen und werde direkt aus der Flasche heiraten; warum lächeln Sie wieder? Ich mache die Wahrnehmung, daß anscheinend auch Sie sich über mich lustig machen und sich zur Gegenpartei halten«, fügte sie, finster die Stirn runzelnd, hinzu. »Machen Sie mich nicht ärgerlich; ich weiß sowieso schon nicht, was in meinem Kopf vorgeht ... Ich bin überzeugt, Sie sind in dem festen Glauben hierhergekommen, daß ich in Sie verliebt wäre und Sie zu einem Rendezvous bestellt hätte«, sagte sie in gereiztem Ton.

»Ich habe das gestern wirklich befürchtet«, versetzte der Fürst in unbedachtsamer Offenherzigkeit (er war sehr verwirrt). »Aber heute bin ich überzeugt, daß Sie ...«

»Wie!« rief Aglaja, und ihre Unterlippe fing auf einmal an zu zittern. »Sie haben befürchtet, daß ich ... Sie haben zu denken gewagt, daß ich ... O Gott! Sie haben vielleicht geargwöhnt, ich hätte Sie mit der Absicht hierher bestellt, Sie in meine Netze zu locken, damit man uns dann hier zusammen überraschte und Sie nötigte, mich zu heiraten ...«

»Aglaja Iwanowna! Schämen Sie sich denn nicht? Wie konnte nur ein so unreiner Gedanke in Ihrem reinen, unschuldigen Herzen entstehen? Ich möchte darauf wetten, daß Sie selbst kein Wort von dem, was Sie eben sagten, für wahr halten ... Sie wissen selbst nicht, was Sie reden!«

Aglaja saß mit beharrlich gesenktem Kopf da, wie wenn sie selbst über das, was sie gesagt hatte, einen Schreck bekommen hätte.

»Ich schäme mich ganz und gar nicht«, murmelte sie.

»Woher wissen Sie, daß ich ein unschuldiges Herz habe? Wie konnten Sie wagen, mir damals den Liebesbrief zu schicken?«

»Einen Liebesbrief? Mein Brief ein Liebesbrief! Das war ein höchst respektvoller Brief; was in diesem Brief stand, das war meinem Herzen in der schwersten Stunde meines Lebens entquollen! Ich erinnerte mich damals Ihrer wie einer Lichtgestalt ... ich ...«

»Nun gut, gut«, unterbrach sie ihn, aber in ganz verändertem Ton, aus welchem man tiefe Reue und Angst heraushörte; sie bog sich sogar zu ihm hin, wobei sie es aber immer noch vermied, ihn gerade anzusehen, und war nahe daran, ihn an der Schulter zu berühren, um ihre Bitte, daß er ihr nicht böse sein möge, noch eindringlicher zu machen. »Gut«, fügte sie, sich furchtbar schämend, hinzu, »ich fühle, daß ich mich eines schrecklich dummen Ausdrucks bedient habe. Ich habe das gesagt ... um Sie zu prüfen. Nehmen Sie an, ich hätte es nicht gesagt! Und wenn ich Sie gekränkt habe, so verzeihen Sie mir! Bitte, sehen Sie mich nicht gerade an; wenden Sie sich ab! Sie sagten, das sei ein sehr unreiner Gedanke: ich habe es absichtlich gesagt, um Sie zu verletzen. Manchmal bekomme ich selbst einen Schreck über das, was ich sagen möchte; aber auf einmal sage ich es doch. Sie sagten soeben, Sie hätten diesen Brief in der schwersten Stunde Ihres Lebens geschrieben ... Ich weiß, was das für eine Stunde war«, sagte sie leise und blickte wieder zur Erde.

»Oh, wenn Sie alles wissen könnten!«

»Ich weiß alles!« rief sie in erneuter Erregung. »Sie lebten damals einen ganzen Monat lang in ein und derselben Wohnung mit dieser abscheulichen Frau, mit der Sie davongegangen waren ...«

Sie errötete jetzt nicht mehr, während sie das sagte, sondern wurde blaß; auf einmal stand sie wie geistesabwesend von der Bank auf, setzte sich aber, zur Besinnung kommend, sogleich wieder hin; ihre Lippe zuckte noch lange weiter. Das Schweigen dauerte etwa eine Minute lang.

Der Fürst war über diese plötzliche Heftigkeit sehr überrascht und wußte nicht, worauf er sie zurückführen sollte.

»Ich liebe Sie durchaus nicht«, sagte sie plötzlich kurz und scharf.