Sprachenlernen und Kognition

Tekst
Z serii: Kompendium DaF/DaZ #1
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

1.1.6 Zusammenfassung

 Die kognitive Linguistik hebt sich von anderen Ansätzen dadurch ab, dass sie Sprache als Mittel zur Konzeptualisierung der Realität definiert, das durch die Interaktion zwischen Individuen in einem bestimmten kulturellen Kontext fixiert und durch allgemeine Lernmechanismen erworben wird.

 Die kognitive Linguistik geht weiterhin davon aus, dass Sprache ein bedeutungsvolles System symbolischer Strukturen darstellt, das sich anhand von Prinzipien allgemeiner Kognition erklären und weniger durch ein festes Regelwerk generieren lässt. So können unter anderem Prototypeneffekte, Metaphorisierung und Polysemie die Lexik und die Grammatik einer Sprache erklären.

 Schließlich lässt sich der Mehrwert einer kognitiv ausgerichteten Sprachdidaktik unter anderem durch die kognitive Plausibilität der Sprachbeschreibung sowie durch die hohe Kompatibilität mit handlungsorientierten Ansätzen begründen.

1.1.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle

1 Was sind die größten Unterschiede zwischen der kognitiven Linguistik und dem Generativismus?

2 Was ist das cognitive commitment in der kognitiven Linguistik?

3 Was bedeutet genau, dass die Sprache gebrauchsbasiert ist?

4 Was ist ein Prototypeneffekt und welche Rolle spielt er in der Grammatik?

5 Wie würden Sie den Mehrwert einer kognitiv ausgerichteten Didaktik begründen?

1.2 Sprache und das mehrsprachige Gehirn

Kees de Bot (übersetzt von Simone Lackerbauer)

Die Sprachverarbeitung ist eine der komplexesten Aufgaben, die unser Gehirn bewältigen muss. Sie verlangt das Zusammenwirken vieler Bestandteile, die über das gesamte Gehirn hinweg in einem Netzwerk miteinander verbunden sind, wobei einige Teile des Gehirns dabei stärker eingebunden sind als andere. Früher hat man geglaubt, dass bestimmte Sprachelemente in bestimmten Bereichen des Gehirns verarbeitet werden. Mittlerweile herrscht Einigkeit darin, dass es keine Netzwerkbereiche gibt, die ausschließlich der Sprachverarbeitung dienen, und dass viele Bereiche des Netzwerks in beiden Gehirnhälften eine Rolle spielen.

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

 erklären können, welche Bereiche des Gehirns für die Sprachverarbeitung wichtig sind;

 zwischen verschiedenen Arten des Sprachverlusts und der Sprachwiedererlangung bei bilingualen Patienten mit Aphasie unterscheiden können.

1.2.1 Die historisch ersten Erkenntnisse zu Gehirn und Sprache

Hirnforschung ist ein verhältnismäßig junger Forschungsbereich. Da das Gehirn nicht einfach zugänglich ist, konnte man Annahmen über die Funktionsweise der Sprachverarbeitung nur anhand von Auswirkungen bestimmter Hirnschäden in bestimmten Bereichen des Gehirns anstellen. Insbesondere durch den Ersten Weltkrieg und andere militärische Konflikte gab es viele Menschen mit spezifischen Hirnverletzungen und -beschädigungen, die infolgedessen an ganz spezifischen Sprachproblemen litten. Die Verletzungen durch Schusswunden waren jedoch meist zu großflächig, um eine exakte Verortung der Sprachverarbeitung im Gehirn zu ermöglichen. Nicht nur bei Soldaten, sondern auch bei Zivilisten mit Gehirnverletzungen und Sprachproblemen war es oft erst bei der Obduktion möglich, die Verbindung zwischen einzelnen Bereichen im Gehirn und dem Muster der jeweiligen Sprachstörung zu untersuchen.

Phrenologie

In den frühen Jahren der Erforschung dieser Phänomene stellte auch die Phrenologie einen beliebten Forschungszugang dar. Die Phrenologen und Phrenologinnen gingen davon aus, anhand der Form des Schädels eines Patienten Aussagen über verschiedene kognitive und emotionale Eigenschaften machen zu können. Diese Lehre, die oft auf fragwürdige Weise versuchte, Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen festzustellen, um eine vermeintliche »Überlegenheit der weißen Rasse« auf körperliche Eigenschaften zurückzuführen, wurde aber schnell durch seriösere Forschungsansätze von Neurologen wie Carl Wernicke, Paul Broca und John Hughlings Jackson abgelöst. Ihre Arbeiten werden weiter unten genauer vorgestellt. Sie begannen, das Gehirn zu kartographieren und waren damit in der Lage, eine Verbindung zwischen bestimmten Gehirnarealen und bestimmten Sprachstörungen festzustellen.

Frühe Untersuchungen des Gehirns verstorbener Patienten und Patientinnen zeigten bereits, dass das Gehirn aus zwei großen Hirnhälften besteht, nämlich der linken und der rechten Hirnhemisphäre, die durch den sogenannten corpus callosum oder ›Balken‹ verbunden sind. Es zeigte sich weiter, dass die Hemisphären nicht gleichermaßen am Sprachprozess beteiligt sind. Es ist zwar bis heute nicht vollständig geklärt, welche Rolle sie genau spielen, aber es spielt immer eine Hemisphäre die dominante Rolle. In dieser Hemisphäre befindet sich der Großteil der Komponenten, die für die Sprachverarbeitung wichtig sind. Bei Rechtshändern ist die linke Hemisphäre typischerweise dominant. Bei Linkshändern ist das Bild nicht ganz so eindeutig. Nur bei ungefähr 19 % der Linkshänder ist die rechte Hemisphäre dominant, bei weiteren 18 % sind beide Hälften mehr oder weniger gleichermaßen dominant.

Die beiden Hirnhälften oder Hemisphären, die zusammen auch als Großhirn bezeichnet werden, enthalten ausgeprägte, schmale Spalten oder Furchen in ihrer Oberfläche, die das Gehirn in verschiedene Lappen teilen. Beide Hemisphären haben jeweils einen Frontal-, Parietal-, Okzipital- und einen Temporallappen. Die beiden Frontallappen sind für die Steuerung unseres Verhaltens, das Treffen von Entscheidungen, Denken, Planen und willkürliche Bewegungen (durch den Motorcortex) zuständig.

Die Hemisphären sind kontralateral angelegt, das heißt, sie steuern die Muskelbewegungen und erhalten die Sinneseindrücke von der jeweils gegenüberliegenden Hälfte des Körpers. Ein Schlaganfall in der linken Hemisphäre betrifft somit die rechte Hälfte des Körpers und Gesichts, und ein Schlaganfall in der rechten Hemisphäre kann umgekehrt zur Lähmung der linken Körperseite führen. Da die Frontallappen unsere Körperbewegungen und unser Verhalten sowohl planen als auch steuern, wird dieser vordere Teil des Gehirns als Sitz der Persönlichkeit angesehen und ist nachweislich an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt. Die Parietallappen, die sich hinter den Frontallappen befinden, sind hauptsächlich für unseren Tastsinn und für die Interpretation der Körpersignale zuständig, die wir hören, sehen und fühlen oder an die wir uns erinnern. Visuelle Impulse werden hauptsächlich in den Okzipitallappen auf der Kopfhinterseite verarbeitet. Die Temporallappen, die sich nah an den Ohren befinden, sind hingegen für die Verarbeitung unseres Hörsinns verantwortlich. Ebenso sind sie für Gedächtnis und Emotionen wichtig. Jeder Lappen kann daher bestimmten Hirnfunktionen zugewiesen werden, jedoch arbeiten die Hirnlappen nicht im Alleingang. Es gibt verschiedene komplexe Verbindungen und Beziehungen zwischen den Lappen und Hemisphären, die entscheidend dazu beitragen, dass das Gehirn als Ganzes ordnungsgemäß funktioniert.

Abbildung 1.3:

Seitenansicht der linken Hemisphäre mit ihren vier Lappen (Frontal-, Parietal-, Okzipital- und Temporallappen) sowie den wichtigsten Verarbeitungszentren (nach Roche 2013a: 54)

In den 1960er und 1970er Jahren wurde bei vielen Patientinnen und Patienten mit Epilepsie ein operativer Eingriff durchgeführt, bei dem Teile des corpus callosums, des Nervengewebes, das die beiden Gehirnhälften verbindet, entfernt wurden. Es wurde nämlich angenommen, dass die epileptischen Anfälle, unter denen diese Patienten und Patientinnen litten, die Folge von widersprüchlichen Informationen aus den beiden Hemisphären waren. Das führte zu interessanten Veränderungen, die aber für die Patientinnen und Patienten nicht immer von Vorteil waren. Weil die Hälften nicht mehr miteinander kommunizierten, verhielten sie sich mehr oder weniger unabhängig voneinander. Man erkannte, dass die nicht-dominante Hälfte nur sehr bedingt sprachliche Fähigkeiten aufweist und dass die meisten sprachbezogenen Prozesse in der dominanten Hirnhälfte stattfinden. Die bekanntesten Gebiete sind das Broca-Areal und das Wernicke-Areal.

Broca, Wernicke und die Verbindung zwischen ihnen

Paul Pierre Broca (1824–1880) war ein französischer Chirurg und Anatom, der für die Entdeckung eines Areals bekannt ist, das (zumindest teilweise) für die Sprachproduktion zuständig ist. Er obduzierte Patientinnen und Patienten, die bis zu ihrem Tod ein gutes Sprachverständnis hatten, aber keine verständliche Sprache mehr produzieren konnten (Broca 1861). Bei der Obduktion entdeckte er Läsionen (›Verletzungen‹) am Frontallappen der linken Hemisphäre (siehe auch Abbildung 1.3). Etwas mehr als ein Jahrzehnt nach Brocas Entdeckung berichtete ein anderer Arzt und Anatom namens Carl Wernicke (1848–1905) von einem Patienten, der das umgekehrte Problem hatte. Wernickes Patient hatte große Mühe, Sprache zu verstehen, war aber in der Lage, flüssige wenn auch unverständliche Sprache zu produzieren. Die Obduktion zeigte eine Läsion in einem Bereich weiter hinten am linken Temporallappen, der heute als Wernicke-Areal bekannt ist. Obwohl es keine übereinstimmende Meinung darüber gibt, wie diese Areale genau funktionieren, lässt der Vergleich zwischen diesen Verhaltensabweichungen und anatomischen Unregelmäßigkeiten darauf schließen, dass Verletzungen am Broca-Areal bei verhältnismäßig gut erhaltenen rezeptiven Fähigkeiten zu mühevoller, nicht-flüssiger und telegraphischer Sprechproduktion führen (Broca-Aphasie). Verletzungen am Wernicke-Areal führen meistens zu einer zwar flüssigen, aber größtenteils »leeren« Sprachproduktion mit einem geringen Anteil an spezifischen Wörtern, umständlichen Paraphrasierungen und großen Verständnisproblemen (Wernicke-Aphasie). Im Gegensatz dazu lässt sich bei Patienten und Patientinnen, die Schäden am fasciculus arcuatus (das Nervenbündel, das die Broca- und Wernicke-Areale verbindet) erlitten haben, weiterhin ein gutes Sprachverständnis und eine gute Sprachproduktion feststellen. Allerdings sind sie nicht in der Lage, Sprache zu wiederholen beziehungsweise zu imitieren. Die am weitesten verbreitete Hypothese hinsichtlich der zugrundeliegenden Funktionen dieser klassischen Sprachbereiche im Gehirn besagt, dass das Broca-Areal hauptsächlich für die Sprachproduktion und das Wernicke-Areal hauptsächlich für die Sprachrezeption zuständig ist. Jüngere neurologische Untersuchungen mit modernen bildgebenden Verfahren weisen jedoch darauf hin, dass diese Aufteilung zu grob ausfällt. So wurden auch andere Erklärungen vorgeschlagen, wie zum Beispiel die Aufteilung zwischen Grammatik (Broca) und Bedeutung (Wernicke). Die meisten dieser Studien stimmen allerdings darin überein, dass diese klassischen Sprachbereiche für die Sprachproduktion unverzichtbar sind. Auf die typischen Merkmale der unterschiedlichen Aphasie-Arten gehen wir später genauer ein.

 

1.2.2 Zweisprachigkeit und Lateralisation: das bilinguale Gehirn

In Bezug auf Bilingualismus gibt es eine große Anzahl von Studien, die versucht haben zu zeigen, dass Zweitsprachen sich teilweise oder vollständig in der nichtdominanten Hemisphäre befinden. Es wurden viele Faktoren, die die Rolle dieser Hemisphäre erklären könnten, untersucht: Das Alter, in dem die Sprache erworben wurde, die Rechts- oder Linkshändigkeit und die Sprachkompetenz in der Zweitsprache (L2) wurden hierbei am häufigsten betrachtet. Um den Einfluss beider Hemisphären zu untersuchen, wurden vor der Entwicklung bildgebender Verfahren in der Neurologie Techniken verwendet, wie zum Beispiel das visuelle Halbfeld-Paradigma. Bei diesem Verfahren mussten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen einen Punkt im Mittelpunkt eines Bildschirms mit den Augen fokussieren, während links oder rechts davon Wörter projiziert wurden. Nach der Sitzung wurden die Teilnehmenden nach den Wörtern befragt, die im linken beziehungsweise rechten visuellen Halbfeld gezeigt wurden. Obwohl die Ergebnisse oft uneindeutig waren, war doch festzustellen, dass die im rechten visuellen Halbfeld gezeigten Wörter besser behalten wurden als Wörter im linken Halbfeld. Eine mögliche Erklärung dafür war, dass das rechte Halbfeld direkter mit der dominanten Gehirnhälfte verbunden sei und damit Wörter in diesem Halbfeld besser im Gedächtnis blieben. Die andere Variante dieser Aufgabe betraf den Hörsinn, genauer das sogenannte dichotische Hören. Bei dieser Aufgabe hörten die Teilnehmenden mit beiden Ohren gleichzeitig verschiedene Wörter. Wörter, die mit dem dominanten Ohr gehört wurden, also in dem Ohr gegenüber der dominanten Gehirnhälfte, wurden für gewöhnlich besser behalten. Des Weiteren wurde dieses Experiment mit Rücksicht auf die Inputsprache modifiziert, wobei die Teilnehmenden Wörter in zwei Sprachen gleichzeitig hörten, eine Sprache je Ohr. Dabei wurden die Lateralisation hinsichtlich der jeweiligen Sprache und das Behalten der Wörter in zwei Sprachen untersucht. Als Vergleichswert wurden Ergebnisse dieses Versuchs bei monolingualen Sprechern und Sprecherinnen herangezogen. Paradis (2003, 2007) spricht sich in einigen Veröffentlichungen gegen die Annahme aus, dass durch Mehrsprachigkeit die rechte Hemisphäre stärker einbezogen würde. Er kritisiert die Methoden, die für diesen Test verwendet werden, als nicht angemessen und unzuverlässig. Dazu reagierte er sehr energisch auf weitere Versuche, diejenigen einzigartigen Bedingungen zu finden, die zufällig zum erwünschten Effekt führen, nämlich einer augenscheinlichen Spezialisierung der Gehirnhälften. Aus seiner Sicht ist die nichtdominante Hemisphäre an der bildhaften und metaphorischen Sprache beteiligt sowie an supra-segmentalen Aspekten der Artikulation. Bezüglich weiterer Sprachaspekte behauptete er, nach lateraler Spezialisierung zu suchen, komme der Suche nach dem Loch-Ness-Monster gleich (vergleiche Paradis 2003). Neueste Studien verwenden bildgebende Verfahren, die die Argumentation von Paradis mehr oder weniger bestätigen. Seitdem bewegt sich die Aufmerksamkeit der Forschung weg von der lateralen Spezialisierung auf Sprachen, da es zunehmend als anerkannt gilt, dass Sprachen und Sprachkompetenzen nicht an einer bestimmten Stelle verortet sind, sondern vielmehr auf einem Netzwerk aus Gehirnzellen basieren, das sich über beide Seiten der Hirnhautrinde ausbreitet.

Sprachdarstellungen im mehrsprachigen Gehirn

Über die Lateralisation bei bilingualen Sprecherinnen und Sprechern hinaus haben sich viele Forscher und Forscherinnen mit der Frage beschäftigt, ob unterschiedliche Sprachen in den gleichen Gehirnregionen Neuronen aktivieren oder nicht. Ursprünglich glaubten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, dass unterschiedliche Sprachen womöglich in unterschiedlichen Regionen des Gehirns gespeichert werden. Diese These stammt hauptsächlich aus der Auseinandersetzung mit medizinischen Fällen, in denen berichtet wurde, dass bilinguale Sprecher und Sprecherinnen nach einer Gehirnverletzung oder einem Schlaganfall nur noch eine der beiden Sprachen sprechen konnten. Der Neurologe Albert Pitres (1895; in Paradis, 1997) behauptete allerdings, dass unterschiedliche Sprachareale unwahrscheinlich seien, da sich ein Schlaganfall oder eine Gehirnverletzung in diesem Fall sehr selektiv auf die vier Bereiche des Gehirns auswirken müsste, die der Sprachverarbeitung dienen. Das würde bedeuten, dass zwei Wahrnehmungszentren (Hörsinn und Sehsinn) und zwei motorische Zentren (graphisches und phonetisches Areal) gleichzeitig eingeschränkt werden müssten, ohne dabei die andere Sprache zu beeinflussen. Pitres Ansicht gilt auch heute noch und wurde durch neurologische Studien mit bildgebenden Verfahren bestätigt und erweitert.

Eine interessante Studie von Chee, Tan & Thiel (1999) setzte die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT oder fMRI, diese Methode wird in Lerneinheit 1.3 genauer beschrieben) ein, um festzustellen, welche Gehirnareale für die Wortbildung bei bilingualen Sprechern und Sprecherinnen (Mandarin und Englisch) verantwortlich sind, und zwar sowohl bei früh als auch spät erworbener Mehrsprachigkeit. Trotz der großen Unterschiede zwischen den Sprachen und deren Schriftsystemen wurden bei der Beobachtung der Hirnrinde keine Unterschiede in der Aktivierung festgestellt, egal ob die Probanden und Probandinnen Wörter auf Englisch oder Mandarin formulierten. Die aktiven Areale waren bei beiden Sprachen das Broca-Areal, jener Teil des Frontallappens, der für die ausführende Steuerung von Tätigkeiten zuständig ist, sowie das motorische Areal, das bei der Artikulation von Sprache beteiligt ist. Interessanterweise gab es keinen Unterschied hinsichtlich der aktiven Areale zwischen Probanden und Probandinnen, die Englisch vor dem sechsten Lebensjahr erworben hatten, und Probanden und Probandinnen, die erst nach dem zwölften Lebensjahr Englisch zu erwerben begonnen hatten.

Eine Studie von Vingerhoets, Van Borsel, Tesink, Van den Noort, Deblaere, Seurinck & Achten (2003), bei der trilinguale Sprecher und Sprecherinnen (Niederländisch-Englisch-Französisch) verschiedene Aufgaben, zum Beispiel zur Objektbenennung oder zum Leseverständnis, ausführen mussten, belegt ebenfalls eine Überschneidung der Hirnregionen, jedoch konnten hier Unterschiede in der Intensität und Reichweite des Aktivierungsmusters beobachtet werden. Nach jetzigem Forschungsstand scheint es so, als wäre ein erweitertes Set von Hirnarealen an der Verarbeitung der später erworbenen oder weniger verfestigten Sprache beteiligt. Eine von Indefrey (2006) durchgeführte Meta-Analyse, die die Ergebnisse von 30 Lokalisierungsexperimenten untersuchte, bestätigt, dass keine spezifischen Regionen mit der Sprachverarbeitung von L2 in Verbindung gebracht werden können. Die Studien zeigten jedoch, dass Unterschiede in der Intensität der Aktivierung zwischen L1 und L2 messbar sind. Die zweite Sprache ruft scheinbar einen höheren Grad an Aktivierung hervor, insbesondere im Broca-Areal und den umliegenden Arealen.

Bilinguale Aphasie

So wie einzelne Komponenten innerhalb der Sprachen dadurch untersucht werden können, dass man beobachtet, welche Stellen im Gehirn verletzt sind und welche spezifischen Sprachprobleme dabei auftreten, so können uns auch Forschungen über Aphasie Erkenntnisse verschaffen, wie verschiedene Sprachen im Gehirn repräsentiert werden.

Zwei Meta-Analysen zur bilingualen und multilingualen Aphasie sind die wichtigsten Informationsquellen hierzu (Albert & Obler 1978 mit 108 Fällen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1977; Paradis 1977 sowie 1983 mit einer Analyse historischer Fälle). Obwohl die berichteten Fälle durchaus faszinierend sind und reichhaltige Informationen liefern, ist bei ihrer Interpretation dennoch Vorsicht geboten. Albert & Obler weisen darauf hin, dass »individual case studies on polyglot aphasics are published because they are interesting« (Albert & Obler 1978: 100). Gemessen an heutigen Standards sind die Berichte und Bewertungsmethoden vollkommen unzureichend und basieren oft auf zwar womöglich sehr scharfsinnigen, aber oft schwer einzuschätzenden Eindrücken medizinischer Expertinnen und Experten. Es gibt fünf wiederkehrende Muster in Bezug auf den Verlust und der Wiedererlangung (Restitution) verschiedener Sprachen, die in der Literatur erwähnt werden (Paradis 1977, 2004: 65):

 Parallele RestitutionParallele Restitution: Die Sprachen sind im gleichen Ausmaß gestört und werden gleichmäßig wiedererlangt.

 Differentielle RestitutionDifferentielle Restitution: Die Sprachen sind in unterschiedlichem Maße gestört, aber die Wiedererlangung vollzieht sich in allen Sprachen.

 Sukzessive RestitutionSukzessive Restitution: Die Sprachen werden nacheinander wiedererworben.

 Selektive RestitutionSelektive Restitution: Eine oder mehrere Sprachen bleiben dauerhaft gestört, während eine andere Sprache wiedererlangt wird.

 Antagonistische Restitutionantagonistische Restitution: Durch die Restitution einer Sprache verschlechtert sich eine andere.

Die Literatur zu bilingualer Aphasie weist auf eine Reihe von Faktoren hin, die eine Rolle bei der Wiedererlangung der Sprachen spielen. Dazu gehören die Reihenfolge, in der die Sprachen gelernt wurden, das erreichte Kompetenzniveau in den Sprachen, affektive Einstellungen gegenüber den Sprachen, der Ort und die Größe der Läsion und die Verwendung der Sprache in der jüngeren Vergangenheit. Kein einzelner Faktor scheint alleine geeignet, die unterschiedlichen Muster des Sprachverlusts und der Restitution zu erklären. Paradis (2001) fasst die Ergebnisse der Meta-Analysen wie folgt zusammen:

Weder die Erstsprache, Automatisierung, Gewohnheiten, ex-ante und ex-post Stimulierung, Angemessenheit, Notwendigkeit, Affektivität, Schwere der Aphasie, Art der Zweisprachigkeit, Art der Aphasie oder strukturelle Distanz zwischen den Sprachen konnte die verschiedenen nicht-parallelen Restitutionsmuster angemessen erklären. (Paradis 2001: 90)

Diese Daten zeigten also bereits, was bildgebende Verfahren in der Neurologie später bestätigten: Unterschiedliche Sprachen besitzen nicht jeweils einen eigenen Ort im Gehirn, sondern befinden sich in einzelnen Zell-Netzwerken innerhalb der bekannten Sprachbereiche im Gehirn. Die Literatur kennt einige Fälle, in denen bei Patientinnen und Patienten verschiedene Formen der Aphasie in unterschiedlichen Sprachen auftraten. Das würde die Vorstellung unterstützen, dass Sprachen ihre eigenen Bereiche im Gehirn einnehmen. Paradis (2004: 65ff) diskutiert eine Reihe von Fällen, die als differentielle Restitution bezeichnet wurden. Er schließt daraus, dass sich diese Art der Restitution auf den Grad der Störung in unterschiedlichen Sprachen bezieht und dass es sich nicht um tatsächlich unterschiedliche Störungsvarianten bei den untersuchten Patienten und Patientinnen handelt. Theoretisch gibt es wahrhafte Datenozeane in den Krankenhäusern der Welt, die eine neurologische Abteilung haben, die man hinzuziehen könnte, um diese Fragen genauer zu beantworten, da die meisten eingelieferten Patienten und Patientinnen entweder bilingual oder bidialektal sind. Idealerweise sollten sie so früh wie möglich und dann noch einmal ein paar Tage später getestet werden, um das Ausmaß der Verschlechterung oder der Wiedererlangung der Sprachen festzustellen. Der bereits existierende bilingual aphasia test (vergleiche Paradis & Libben 2014), ein ausführlicher Auswahltest, der in vielen Sprachen verfügbar ist, könnte dazu herangezogen werden.

 

Während es für monolinguale Sprecher und Sprecherinnen nur eine Möglichkeit der Sprachtherapie gibt, können bilinguale und multilinguale Personen ihre Therapie in mehr als einer Sprache erhalten. Es gibt eine rege Diskussion darüber, welches der effektivste Ansatz sei: Sollte man die am stärksten ausgeprägte Sprache, meist die Erstsprache, behandeln und darauf hoffen, dass die weiteren Sprachen zurückkehren, oder sollte man eine Zweit- oder Drittsprache verwenden, um das gesamte Sprachsystem zu reaktivieren?

Unterschiede zwischen bilingualer und multilingualer Aphasie

Die Definitionsprobleme bezüglich Bilingualismus und Multilingualismus werden dann besonders akut, wenn man versucht, sie in Bezug auf Aphasie zu vergleichen. Die Fachliteratur, die sich auf dieses Thema bezieht, ist dadurch eingeschränkt, dass sich die Berichte selektiv für besonders außergewöhnliche oder spannende Fälle interessieren. Das macht es schwierig, generalisierbare Aussagen zu treffen. Aus heutiger Sicht ist ebenfalls problematisch, dass die Berichte aufgrund fehlender Standards nur ein unvollständiges Bild liefern. Belastbare Schlussfolgerungen kann man deswegen kaum aus den verfügbaren Studien ziehen. Albert & Oblers (1978) Meta-Analyse konnte keine signifikanten Unterschiede zwischen Bilingualen und Multilingualen feststellen, weist aber auf einige Tendenzen hin:

 Mehrsprachige scheinen die zuerst erworbene Sprache besser wiederzuerlangen, während Bilinguale eher die Sprache wiedererlangten, die sie als Letztes gelernt und häufiger genutzt hatten.

 Bei multilingualen Sprecherinnen und Sprechern kam es öfter zu nicht-paralleler Restitution.

 Die erste Sprache verschlechtert sich bei der Wiedererlangung der zweiten Sprache eher bei multilingualen Personen als bei bilingualen.

Das Hauptproblem besteht weiterhin darin, dass zu den Patienten und Patientinnen kaum Informationen über prämorbide Sprachfähigkeit und Sprachnutzung vorhanden sind, um diese Tendenzen zu belegen. Nicht-parallele Restitution spiegelt sehr wahrscheinlich die Unterschiede in der Sprachfähigkeit vor der Gehirnverletzung wieder.