Du bist es vielleicht

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Montag, auf dem Parkplatz des Riesenhubers, strahlte Timo Tripkes Laune noch immer. Ganz im Gegensatz zur Sonne. Schon frühmorgens hatte sich der Himmel ungewöhnlich stark verfinstert. Bald würde es schütten wie aus Kübeln.

Wie egal Tripke das schlechte Wetter war. Er hatte einen Lauf, dass es langsam unheimlich wurde. Erst der perfekte Kreis vor zwei Monaten. Gefolgt von ungewohnter, fast blinder Bewunderung durch die Schüler. Und nur wenige Stunden danach der Fund von Bernadettes hastig gekritzelter Note.

Timo Tripke war zuvor noch nie mit einem Abschiedsbrief bedacht worden. Aber der hier kam ihm vor wie einem von Bernadettes Fernsehspielen entsprungen.

Sie schilderte darin »versäumte Chancen«. Sprach von einer »schrecklichen Leere« in ihr. Ob Timo sie nicht auch »spüre«. »Tiefe Trauer« empfinde sie, dass »alles« nicht mehr »klappte«. Es kämen für beide aber bestimmt wieder »bessere Zeiten«.

Er gab Deutsch. In der Theorie kannte er diesen sentimentalen Quark. Und er würde ihn erwidern, wenn er ihn nur empfinden könnte. Bedauern, Trauer, Aufbruch, carpe diem. Shakespeare.

Abgang Bernadette in schwesterliche Wohnung.

Vorhang.

Ihre Beziehung war schon lange kaputt gewesen, das wurde ihm langsam klar. Zum ersten Mal war ihm die Kluft zwischen ihnen vor drei Jahren aufgefallen. An Opas 90. Geburtstag, seinem letzten, war sie zunächst distanziert und später heillos betrunken. Timo war es peinlich gewesen vor Opa. Schon die dritte Tripke-Generation infolge, die den Anschein machte, nicht in der Lage zu sein, eine normale Ehe zu führen. Dabei war er doch anders. Das hatte er damals zumindest noch geglaubt.

Tripke grübelte manchmal, ob Walter sechs Wochen später, bevor er auf die Planken knallte, an ihn und Bernadette zurückgedacht haben mochte. Der letzte Abend, an dem seine Familie, zumindest der spärliche Rest, der noch übrig war, ein letztes Mal für ihn zusammengekommen war. Timo Tripke graute es bei der Vorstellung.

Von Bernadette hatte er nie erfahren, warum sie sich so benommen hatte. Und er hatte nie gefragt, was vermutlich nicht besser war. Vielleicht war ihr an diesem Abend bewusst geworden, dass sie weit weg sein wollte, wenn Timo so alt war wie sein Opa. Den Gedanken konnte er ihr nicht ganz übel nehmen. Obwohl er wehtat.

Es schien besser für beide, dass sie gegangen war. Die Trauer, die er trotzdem spürte, war bestimmt nur eine Art nostalgischer Reflex. So wie man alle paar Jahre neugierig ausprobierte, ob der Videorekorder noch funktionierte, obwohl man gar nicht vorhatte, etwas damit zu schauen.

Ihm ging es gut. Ach, was. Bei Timo Tripke lief es wie geschmiert. Plötzlich spross in ihm sogar die Lust auf Veränderungen. Zaghafte Ideen wurden zu konkreteren Überlegungen darüber, was er jenseits seiner stabilen Alltagsroutine heraus Neues probieren könnte.

Eine verrückte Reise vielleicht? Transsylvanien!

Ein ungewöhnliches Hobby? Geofishing oder wie diese Schatzsuche hieß!

Eine neue Liebschaft? Noch nicht verfügbar!

Oder doch? Sollte er beim Reinkommen gleich Sherlock fragen, ob sie mit ihm ausgehen wollte? Nur so zur Übung? Immerhin mochte er sie. Oder zumindest das, was er als ihren Charakter erahnte.

Schnell verwarf er den Gedanken wieder. Von Frauen hatte er erst einmal genug.

Gestern Abend, nach seiner Rückkehr aus Kreuzthal, hatte er das Spanner-Fernglas im Keller verstaut und die Vorhänge in Bernadettes Arbeitszimmer geschlossen.

Er schämte sich. Fraglich, ob er beim nächsten Straßenfest am Wendehammer auch nur ein Wort an Christiane-Christine würde richten können.

Zudem besaß er nicht genug Material für einen Smalltalk. Was er hatte, war: »Liebe Christiane-Christine, ich weiß nicht viel über Sie, zum Beispiel nicht mal Ihren richtigen Namen, wie Sie sehen, aber ich möchte Ihnen herzlich zu ihren wundervollen, unterschiedlich großen Brüsten gratulieren«.

Sherlock saß da, wo sie morgens immer saß. Wieder erwiderte sie Tripkes Gruß nicht. So viel zum nächsten Date. Tripke bog um die Ecke und schlurfte auf dem braunen Industrieteppich mit den Plastikschamhaar-Fasern in Richtung Lehrerzimmer.

Tür zum Kopierraum: geschlossen.

Tür zur Putzkammer: geschlossen.

Tür zum Vorzimmer des Schulleiters: geöffnet.

Mist.

Tripke verlagerte sein Gewicht etwas auf die Zehenspitzen, nicht so, dass es auffiel, sollte ihn jemand beobachten, aber doch so, dass man seine Schritte weniger hörte, und versuchte gleichzeitig schneller zu gehen. Oberstudiendirektor Hanns-Jochen Steiner stand mit dem Rücken zur geöffneten Flurtür. Energisch redete er auf seine Sekretärin ein. Offenbar war ihm nicht entgangen, dass sie eine zeitsparende Tastaturkombination bei einer Tabellenkalkulation noch immer nicht anwandte, sondern weiter mit der Computermaus einen umständlicheren Bedienungsweg wählte.

»Nicht mit der Maus! Steuerung, Shift, p! Nein, Hände weg von der Maus!«

Perfektion als Manie, da war sie wieder. Noch so ein Idiot.

»Nicht mit der Maus!«

Als er den Gefahrenkorridor hinter sich gelassen hatte, normalisierten sich Tripkes Schritte wieder. Glück gehabt.

Am Lehrerzimmer tippte er den vierstelligen Code ein, öffnete und nickte denen zu, die sich heute die Parkplätze weiter vorne geschnappt hatten. Endlich, auf Tripkes Stuhl lag das vermisste Paket mit englischsprachigen Teenagerzeitschriften, die er im Internet ersteigert hatte. Damit wollte er bei der 8 Eindruck mit unorthodoxen Lehrmethoden machen.

Er musste am Ball bleiben, immerhin konnte er nicht jeden Tag Kreise malen, um die Menschen für sich einzunehmen. Auch wenn er das gerne wollte.

Noch einmal tief durchatmen und dann ging wieder alles von vorne los.

Hausboot minus fünf Tage.

Bevor Timo Tripke zu Beginn jeder neuen Schulstunde die Klasse anschwieg, griff er häufig zu einem weiteren Verfahren. Er hatte es sich bei alten Western abgeschaut. Die guten begannen mit einem Kameraschwenk, der den Handlungsort, die Figuren, ihr Milieu und die Stimmung einfing.

Der gleiche Schwenk bescherte Timo Tripke beim Betreten eines Klassenzimmers eine erste Idee, wohin die Reise in den kommenden 45 Minuten gehen würde.

Die Gesichter sagten ihm, mit wie viel Unruhe, Hormonen, Liebe, Wut, Langeweile er würde rechnen müssen. Und die Technik funktionierte. Sie brachte Sicherheit.

Doch so ein seltsames Ergebnis wie heute hatte selten vorgelegen. Die Mienen der 10a sendeten Nervosität, Spannung, Neugierde und Begeisterung. Vielleicht sogar Furcht. Diese Schüler platzten gleich.

Clever, wie er war, sah Tripke zur Decke hoch. Bestimmt stand ein Streich an. Der gute alte Wassereimer? Nein, keiner zu sehen. Oder etwas mit seinem Stuhl? Eine Reißzwecke? Sekundenkleber? Ein angesägtes Stuhlbein? Oder ein Penis an der Tafel? Nein. Da war nichts. Das übliche Anschweigen musste heute ausfallen, so viel war klar.

»Ist irgendwas?«

Kurz dachte er, sie hätten vielleicht an seinen Geburtstag gedacht und nachträglich etwas vorbereitet. Das war zwar noch nie passiert. Aber das hier war immerhin seine Kreis-Klasse.

»Nein? Gut … okay … dann fangen wir mal an. Die Adenauer-Jahre … Konrad Adenauer war von …«

»Herr Tripke!«

»Levi, was ist denn?«

»Haben Sie schon gesehen?«

Levi Eismann, der mit Klassenkameraden in einer Band spielte, so viel wusste Tripke, klang wie ein stolzer Vierjähriger, der ein Bild gemalt hatte.

»WAS gesehen?«

»Das Video.«

Ein Raunen schwappte durch die Klasse. Einige Schüler lachten erwartungsfroh. Andere schirmten ihre Augen mit der Hand ab und blickten unsicher zur Seite.

»Was für ein Video? Muss man dir denn alles aus der Nase ziehen?«

»Das hier.«

Levi Eismann hatte sein Handy, das viel größer und moderner war als Tripkes eigenes, zur Hand genommen und starrte auf das Display. Tripke ging zu ihm.

Levi drückte in die Mitte des Bildschirms und drehte das Handy zur Seite. Das Video kippte ins Querformat und füllte nun den gesamten Bildschirm aus.

Die Szene, die ablief, begann verwackelt, unscharf und übersteuert. Man hörte Jugendliche durcheinander reden, ein Mann stand vor einer Wand und sah ungefähr in Richtung Kamera.

»Ja, noch mal!« und »Das schaffen Sie nicht!«, quäkte es übersteuert aus dem Gerät. Die Stimmen kamen Tripke dabei diffus bekannt vor. »Los, Herr Tripke!«

Der Mann in dem Video, der hieß wie er und auch so aussah wie er, nur dass er das Hemd trug, dass Tripke gestern in den Wäschekorb geworfen hatte, stellte sich seitlich an die linke Hälfte der Tafel. Dann vollführte er eine schnelle Handbewegung gegen den Uhrzeigersinn. Er hatte einen perfekten Kreis neben einen anderen perfekten Kreis gesetzt, der schon an der Tafel war. Einem kurzen Moment Stille folgte tosender Applaus. Dann brach das Video ab.

»Levi, wer hat das gemacht?«, presste Tripke hervor.

Handys waren im Unterricht natürlich strikt verboten. Bei der Arbeit von den Schülern gefilmt zu werden, war der Anfang vom Ende. Andererseits, schoss ihm kurz durch den Kopf, eigentlich ganz schön, dass es ein Video von seinem Kreis gab.

»Herr Tripke, Sie sind viral.«

»Was heißt das?«

»1,5 Millionen bei Youtube. Es gibt auch ein megaerfolgreiches GIF bei LOL-Headquarters.«

 

»Ein was bei wem?«

»Hier, ich zeig’s Ihnen.«

Levi klickte sich durch die Nutzerebenen seines Mobiltelefons, als würde er eine Raumfähre navigieren. Dann starrte er mit hochrotem Kopf erneut konzentriert in die Bildschirmmitte.

Tripke folgte seinem Blick und spürte, wie die anderen Schüler immer näher von hinten an sie heranrückten.

Wieder sah er sich selbst in dem braunen Hemd, das ihm Bernadette im Sardinienurlaub ausgesucht hatte. Das Video war diesmal gekürzt worden, der Bildausschnitt quadratisch gestaltet. Es zeigte ohne Ton nur die wenigen Sekunden, in denen er den Kreis malte. Außerdem hatte es jetzt zwei beschriftete schwarze Balken. In dem oberen Balken stand »GERMAN TEACHER«. Und im unteren »NAILS PERFECT CIRCLE«.

»Ist das im Internet?«, fragte Tripke tonlos, obwohl er die Antwort schon kannte.

»Ich sag doch: viral!«, freute sich Levi Eismann.

»Wer hat das gedreht?«

»Na, ich!«, freute sich Levi Eismann noch mehr.

»Und wer hat es ins Internet getan?«

»Na, auch ich!«

Levi platzte fast vor Stolz.

»Der Rest verhält sich still, bis wir wieder da sind. Komm. Steh auf!«

Der Gang vor dem Klassenraum war menschenleer und dunkel. So ausgeklügelt Sherlocks computergesteuertes Jahreszeiten-Lichtschaltsystem war, auch im Mai konnte es so düsteres Weltuntergangswetter geben wie heute. Ein bisschen Neonröhre hätte nicht geschadet. Nur noch wenige Momente, und der Himmel tat sich auf.

»Was fällt dir ein, mich zu filmen, Levi?«

»Das war doch lustig, ich wusste nicht … ich dachte …«

»Nichts weißt du. Das wird Konsequenzen haben, ich sag’s dir. Ich sorg dafür, dass du fliegst.«

»Was? Das dürfen sie nicht!«

Tripke hätte schwören können, dass im gleichen Moment, in dem die ersten Tropfen gegen die Scheibe hinter ihm platschten, auch die ersten aus Levis Augenwinkeln liefen.

»Wo ist denn das Problem?«, schluchzte er.

»Du hast eine Lehrkraft gefilmt und öffentlich bloßgestellt. Du weißt genau, wie die Handyregeln am Riesenhuber sind! Hast du irgendeine Ahnung, was das mit mir machen kann? Wenn ich zur Lachnummer werde?«

»Seien Sie doch nicht so!«, rief Levi. »Sie checken das doch gar nicht. Das Internet liebt sie. Sie sind berühmt, Mann!«

»Ich bin Lehrer. Kein Mitglied von Green Space oder was du immer für T-Shirts trägst.«

»Green Day! Mensch, Herr Tripke, seien Sie doch froh. So cool rüberzukommen. Wo Ihren Unterricht doch sonst alle kacke finden!«

Timo Tripke zuckte wütend. Ein Moment verging. Er blickte auf seine Handfläche. Die Tränen-Spritzer waren in dem Dämmerlicht zwar nicht zu sehen, aber er spürte, dass sie da waren.

Irgendwo auf seiner pulsierenden Hautoberfläche.

Zwischen ihm und Levi war es nun ganz still, während auf der anderen Seite der Scheibe der Gewittersturm endlich losbrach, der sich schon so lange angekündigt hatte.

Tripke sah Levi ins verheulte Gesicht.

»Es … das tut mir leid, Levi. Das wollte ich nicht«, hörte Tripke sich gegen den Sturm anreden.

»Ich … ich mache Sie fertig.«

Levi öffnete, vor der Gewitterkulisse fast unhörbar, die Tür zum Klassenraum, schlich hinein und schloss sie leise hinter sich. Tripke starrte auf das vergilbte Poster vom »Haus der Geschichte«, das von außen daran klebte. Um ihn herum und in ihm drin nur Gewitter.

Dann nahm er eine Bewegung links von sich wahr. Eine Silhouette schob sich aus dem Dämmerlicht des Korridors und auf ihn zu.

Timo Tripke sagte keinen Ton. Schulleiter Steiner auch nicht.

Timos Kopf pulsierte. Er öffnete die Augen. Doch er musste sie sofort wieder schließen. Die Studioscheinwerfer waren viel zu hell eingestellt. Wenn er das Geschrei richtig verstand, klemmte irgendein Regler. Neben ihm räusperte sich sein kleiner Bruder Ben, auch ihm schien die Situation zuzusetzen.

Der kleine Timo lauschte weiter den Kommandos, die wie Pfeile von allen Seiten gegen seinen Kopf schossen, und versuchte, das fiebrige Bibbern zu unterdrücken. Speiseeis lief ihm über die Hand und tropfte auf den Boden der kleinen Halle.

Früh am Morgen war er mit rasenden Kopfschmerzen aufgewacht. Schon gestern, in Sport, hatte er geahnt, dass etwas nicht stimmte. Ihm war kalt gewesen, er hatte sich schlapper gefühlt als sonst. Und jetzt hatten sich Kopfschmerzen und Fieber dazugesellt. Wie gerne würde er im Bett liegen, Tee trinken und Hörspiele hören. Doch es half nichts. Bens Papa hatte den »Deal«, wie er es nannte, nun mal von langer Hand eingefädelt. Absagen ging nicht, sonst waren sie für immer raus bei diesem »Kunden«.

Also hatte Timo eine Aspirin zu den Marmeladentoasts bekommen und war danach mit in die dunkelblaue Limousine gestiegen. Die Fahrt ins Industriegebiet am Stadtrand von Heiligenstedt hatte vielleicht 15 Minuten gedauert, das Suchen noch mal zehn. Udo hatte die Adresse nicht gefunden, sie kamen zu spät. Längst befand sich Udo in der Art genervten Verfassung, in der ihn nicht mal Ben noch ansprechen konnte, ohne beschimpft zu werden.

Und jetzt, jetzt spielte auch noch die Studiotechnik verrückt. Es dauerte fast noch eine Minute, bis Timo durch die geschlossenen Augenlider sah, dass jemand es geschafft hatte, die riesigen Scheinwerfer herunterzudimmen. Eine Wolke hatte sich vor die gleißende Sonne geschoben.

Timo öffnete die Augen und sah auf sein Eis hinab. Auf dem Boden hatte sich schon eine kleine Pfütze gebildet. Bei Ben, der neben ihm vor der Karibik-Fotowand mit dem Schriftzug eines Eisherstellers stand, war es nicht anders. Auch er trug kurze Hose, T-Shirt, Schirmmütze und Sandalen.

»Heike! Wischen, Herrgott! Und gib ihnen ein neues Eis! Geht jetzt sofort los!«, schrie der dicke Mann mit dem übertrieben langen Schal und dem Vollbart. Seit Minuten brüllte er andere Mitarbeiter an. Offenbar war er der Chef hier.

Die nette Heike, die bisher als einzige mit Timo und Ben geredet hatte, kam mit Tüte und Putzeimer. Sie nahm das Eis ab, wischte ihnen in Windeseile die Hände mit einem feuchten Tuch sauber und die Kleckse vom Boden. Dann verschwand sie im Schatten und kam mit zwei neuen Speise-Eis aus der Kühltruhe wieder.

Hastig löste die nette Heike das Papier ab und drückte ihnen das Eis in die Hand. Als sie wieder im Schatten der Scheinwerfer verschwand, glaubte Timo kurz zu sehen, wie Udo Heike an der Hüfte berührte. Offenbar mochte er sie auch.

Jetzt erschien ein bebrillter, ernst schauender, seltsam dürrer Typ mit einer Art Taschenuhr und guckte angestrengt. Er hielt sie Ben und Timo vors Gesicht und las davon Zahlen ab, die er dem Dicken zurief. Der schien zufrieden mit dem, was er hörte.

»Okay! Los!«, rief er. »Das heißt … Moment! Ich will, dass der Kleine das große Eis nimmt, und der Große das kleine! Für mehr Kontrast!«

Timo sah zu Ben, der zu ihm und sie tauschten schweigend das Eis. Timo gab Ben Erdbeer-Vanille in der Waffel und bekam dafür das braune mit Cola-Geschmack.

»So! Und jetzt lächelt mal! Ich weiß, wir haben November, aber stellt euch mal vor, ihr wärt mit Mama und Papa in den Sommerferien an der Adria und hättet euch schon den ganzen Tag auf dieses schöne Eis gefreut! Mhhh, lecker! Genau! Und los! Los! Zeigt mir was! Spielt mit der Kamera!«

Sofort begann irgendwo im Halbdunkel ein Fotoapparat nervös klackernd auszulösen. Timo starrte eisern grinsend nach vorne ins Licht und warf sich in Pose. Er gab sich Mühe, trotz der Scheinwerferhitze von außen und dem Frösteln von innen den Ansagen des Dicken zu folgen. Doch es fiel ihm schwer, sich einen Familienurlaub an der Adria vorzustellen.

Seine Mama war seit sieben Monaten in einer Klinik, weil sie böse Gefühle hatte. Ende nicht in Sicht. Sie besuchten sie meist sonntags mit Udo. Manchmal auch noch samstags alleine nur mit Opa. Und Papa, der konnte auch nicht an die Adria fahren. Denn der lebte nicht mehr. Als Timo drei war, hatte sein Papa einen Unfall gehabt und war jetzt im Himmel. Aber das konnte der Dicke ja nicht wissen.

In den Urlaub fuhren er, seine Mama, Ben und dessen Vater Udo nicht so oft. Das letzte Mal waren sie in Holland an der See, das war schön gewesen. Aber viel zu kalt für Eis. Pommes hatten sie da gegessen. Mit Saucen. Sie hatten versucht, Möwen mit einer Frisbee zu treffen. Und Burgen gebaut. Das war ein Spaß gewesen. Timo hatte in dem Urlaub das erste Mal gedacht, dass Ben ein richtiger Bruder für ihn werden könnte. Aber jeder Urlaub ging mal zu Ende.

»Stopp, stopp! Was ist denn mit dem einen … wie heißt du? Tim …«

»… Timo«, rief die nette Heike von links.

»Timo, genau. Sag mal, geht’s dir nicht gut? Du kommst nicht rüber auf den Fotos. Also deine Aura fehlt, weißt du, was das ist? Dein Bruder macht das so toll. Aber bei dir sehe ich keinen Zauber. Magst du denn kein Eis?«

Jetzt erschien Udo aus dem Nichts und lief zu Timo.

»Das wird gleich, keine Sorge, Herr Kaiser … Komm, Timo, wir sind bald fertig. Dann geht’s zu Opa. Aber vorher machen wir hier noch ein paar schöne Fotos, ja?«, raunte er Timo zu.

»Okay«, sagte Timo und konzentrierte sich noch mehr darauf, fröhlich zu tun, obwohl er zunächst nicht wusste, wie das gehen sollte.

Doch dann dachte er an einen anderen Urlaub. In einem anderen Land, mit einer anderen Familie. Eine, in der nicht alles so komisch war. Ohne Udo. Und ohne jeden zweiten Samstag in einem Werbestudio stillhalten müssen, nur weil man ein so süßes Kind war und der Stiefvater Geld brauchte. Ein Urlaub nur mit Mama, der es wieder gut ging. Und mit Opa. Und Ben.

So ging es. Sehr gut.

»Ja, so geht es! Sehr gut!«

Der Dicke war zufrieden und knipste Foto um Foto. Über eine Stunde schossen sie weiter. Dabei versprach der Dicke ständig, dass jeden Moment das letzte Bild käme. Aber er log jedes Mal.

Die Session ging so lange, bis Ben, der an Timos Seite alles unwidersprochen erduldet hatte, bewusstlos umkippte.

Auf der zwanzigminütigen Fahrt von Heiligenstedt zu Opas Hausboot war es still im Wagen. Timo schlief auf dem Rücksitz ein.

Wenn es in dem Tempo weiterging, waren die Augen von Akazienweg 9 bald alle geschlossen. Seit Timo Tripke begonnen hatte, sich in Holden einzuigeln, fuhren alle paar Stunden weitere Jalousien und Rollläden nach unten.

Mehrfach hatte seit vorgestern das Telefon geklingelt. Zweimal war es die Nummer von Steiners Vorzimmer gewesen. Tripke war nicht drangegangen. Noch fühlte er sich außer Stande, sich zu dem zu verhalten, was mit Levi geschehen war. Er wusste, die Situation würde sich nicht von selbst aus der Welt schaffen. Vermutlich würde es aber auch mit seinem Zutun nicht geschehen.

Er hatte einen Schüler geschlagen. Und als sei das nicht unverrückbar, klischeehaft und dämlich genug, es wurde nicht erträglicher, nur weil er sich völlig im Recht fühlte.

Es gab Regeln. Allen Schülern bekannt. Ob sie deren Folgen absehen konnten oder nicht, war völlig egal. Die Tatsache, dass sie galten, musste reichen. Jeder hatte sich daran zu halten.

Das Mitfilmen im Unterricht ging vielleicht sogar noch. Doch wie hatte Levi auf den Gedanken kommen können, die Aufnahmen ins Netz zu stellen? Timo Tripke war Lehrer. Sein Job war eine ernste Sache. Um ihn herum nur Zerbrechliches, das bei jeder Bewegung kaputtgehen konnte. Und dann wäre es seine Schuld. Und da sollte das einzige öffentliche Zeugnis seiner jahrelangen, mühevollen Arbeit ein Slapstick-Auftritt im Internet sein? Er hatte nicht wenig Lust, Levi dafür schon wieder eine aufs Maul zu hauen.

Zwei Tage tigerte er jetzt schon krankgeschrieben durch das skelettöse Haus. Noch immer hatte er sich keine Strategie zurechtgelegt oder auch nur eine vage Idee, was als Nächstes passieren würde. Ihm fehlte völlig die Erfahrung mit Disziplinarverfahren. Und mit Konflikten im Allgemeinen.

Damit war er am Riesenhuber ziemlich alleine. Das Gymnasium galt als Abstellgleis des Bundeslandes. Hier begannen die Lehrer entweder als Referendare, so wie er damals. Oder sie landeten dort als gestandene Lehrkräfte, die irgendwann sehr spontan aus »persönlichen Gründen« in die Gegend gezogen waren. Jene, denen das passiert war, redeten auffallend selten, und wenn, dann sehr widersprüchlich, über ihre alte Stelle.

 

Selbst über Oberstudiendirektor Hanns-Jochen Steiner gab es unauslöschliche Gerüchte über eine Zwangsversetzung. Angeblich etwas Sexuelles.

Blöd nur, dass Tripke ihn schlecht um Tipps in einer solchen Situation bitten konnte. Steiner war sein Feind. Mehr als zuvor. Und wer wie Steiner schon mal Schuld auf sich geladen hatte, wurde zum gnadenlosen Richter, zum Moralisten auf Lebenszeit. Kannte man ja von pädophilen Pastoren.

Tripke hatte keine Ahnung, was jetzt passieren mochte. Also ging er, wie es seine Art war, zunächst vom Schlimmsten aus. Damit lag man selten falsch. Und wenn, dann gab es eben etwas zu feiern. Rausschmiss, Verlust des Beamtenstatus, Suche nach einem anderen Job. Das konnte er sich in etwa vorstellen.

Nichts davon würde einfach werden. So viel war klar. Durch den stetigen Geldfluss hatte er sich in den vergangenen Jahren so wenig für seine Finanzen interessiert, dass er nicht wusste, wo er stand. Wer zahlte zurzeit die Miete für das Haus? Und wollte Bernadette in nächster Zeit vielleicht wieder nach Holden, in ihr Domizil, zurück? Musste er sich etwa bald etwas Neues suchen?

Die Last des Ungeklärten wog so sehr, dass Tripke als Übersprungshandlung in der Küche auch den linken Rollladen herunterließ. Besser. Er schaltete das Licht an und setzte sich an den Küchentisch. Irgendwo musste er anfangen, irgendetwas zu klären.

Am aufgeklappten Laptop begann er, das Ausmaß des ihm widerfahrenen Persönlichkeitsmissbrauchs zu recherchieren. Bald hatte er das Video von sich und seinem Kreis wiedergefunden. Es hatte nicht mehr 1,5 Millionen Abrufe wie noch vor zwei Tagen auf Levis Handy.

Jetzt waren es 2.228.301.

Er las sich einige der 1.382 User-Kommentare darunter durch. Viele verstand er nicht. Sie waren in Russisch, Arabisch, Portugiesisch und weiteren Sprachen verfasst. Die meisten auf Englisch oder Deutsch verstand er aber auch nicht. Offenbar wurde hier eine Art Sprachcode oder Humor bedient, der mit Querverweisen arbeitete, die er nicht kannte. Etwas für Internetfachleute.

Einen Kommentar, sehr weit oben, verstand er allerdings. Das Posting stammte von letztem Samstag, 14:23 Uhr. Fünf Tage alt. Der Beitrag war vielfach geliket worden von anderen Nutzern.

FuckFortnite hatte geschrieben:

»LOL my old historx teacher. herr tripke from konrad-zuse-gymnasium heiligenstedt in germany!«

Katastrophe.

Timo Tripke navigierte sich mit hochrotem Kopf weiter durch das Internet. Er fand das Video auch noch auf anderen Plattformen in unterschiedlichsten Fassungen. Mit Texteinblendungen, mit Farbveränderungen. Sogar mit eingebauten Smileys, die aussahen wie Edvard Munchs »Der Schrei«. Oder wie hießen die Dinger noch mal? Emoticons? Emojis?

Als Nächstes klickte er in der Internetsuche oben auf die News-Sektion. Aha, ohje. Stern.de hatte online etwas über das Video gebracht. Es war in einem kleinen Artikel eingebunden. Darunter standen drei Sätze, die den Inhalt des Videos paraphrasierten und aufbauschten. Inklusive zweier Kommafehler. Bei Spiegel Online und gmx.de gab es ähnliche, völlig hirnlose Meldungen.

Levi Eismann hatte die Pforten zur Hölle weit aufgestoßen. Doch vermutlich hielt er sie immer noch für eine Gartenlaube, in die jemand einen leckeren Kasten Bier für ihn hineingestellt hatte.

Timo Tripke wollte gerade die Rollläden im Wohnzimmer herunterlassen, mehr war im Erdgeschoss wirklich nicht mehr übrig, als es an der Haustür klingelte.

Kurz keimte die Hoffnung auf einen irren Zufall, in dem Christiane-Christine von gegenüber mitspielte. Irre Zufälle, um nichts anderes handelte es sich ja bei den Anfängen von Pornofilmen. Aber nur weil etwas nicht wahrscheinlich war, hieß das nicht, dass es nicht hin und wieder genau so passierte.

»Guten Tag, Herr Nachbar, ach, schön, dass Sie an einem Werktag zu Hause sind. Sagen Sie, könnten Sie mir wohl eine Tasse Mehl leihen? Selbstverständlich komme ich gerne mit hinein, ach, Sie haben es aber heiß hier, ist die Heizung kaputt? Wissen Sie was? Ich ziehe mir einfach mal etwas aus und mache es mir auf Ihrer Couch bequem. Ausziehen – ich weiß, Ihnen gefällt das. Jetzt gucken Sie nicht peinlich berührt, Herr Tripke. Ist doch nicht schlimm! Natürlich habe ich Sie am Fenster gesehen. Schon am ersten Abend … ach, komm, zier dich nicht. Du hättest doch sofort stutzig werden müssen, weil ich gar keine Tasse für das Mehl mitgebracht habe …«

Es klingelte wieder. Timo Tripke schämte sich für das schlechteste Drehbuch der Welt. Leise schlich er durch den Flur und linste durch den Türspion.

Draußen stand keine geschminkte Christiane-Christine im Bademantel und ohne Tasse für das Mehl. Da stand ein schlaksiger junger Mann mit einem großen Rucksack auf dem Rücken. Die blonde Gel-Frisur wirkte wie etwas, das man in einer Konditorei kaufen konnte. Sein T-Shirt zierten seltsame Applikationen und viele Farben, die nicht zusammenpassten.

Eine sportive Vogelscheuche wollte ihn sprechen. Tripke hatte sie noch nie gesehen. Es klingelte wieder. Und noch mal. Timo Tripke wusste nicht, wieso. Aber er öffnete.

»Herr Tripke!« Vogelscheuche klang ganz begeistert. »Ich bin Mick! Mick Breuer von HS-TV!«

»Von was?«

»HS-TV! Ihr Sender für Heiligenstedt. Sie kennen doch sicher unseren Slogan: ›Das F in HS-TV steht für Fun!‹.«

»Was wollen Sie?«

»Ich hatte bereits das Vergnügen, mit dem lieben Herrn Steiner zu reden, wir würden gern …«

»Sie haben was?«

»Herr Steiner. Direktor Ihrer Schule. Richtig? Er sagte, Sie wären leider krank. Aber ich dachte, ich schaue trotzdem mal bei Ihnen rein. Hoffe, es ist nichts Schlimmes?«

»Was wollen Sie?«

Timo Tripke verstand immer noch nicht, worauf das hier hinauslaufen würde.

»Ich betreue das Format ›HS-Helden‹. Heiligenstedter Helden. Und da würde ich wahnsinnig gerne was zu ihrem tollen Erfolg im Netz machen. Ihr Kreis, verstehen Sie? Da haben Sie doch sicher lange für geübt, was? Gerne würde ich Sie bei uns im Studio begrü…«

Timo Tripke holte aus, im Begriff, dem Rasenden Mick die Tür vor der Nase zuzuknallen. Doch der war gestählt aus dem Lokalreporter-Bootcamp hervorgegangen. Vogelscheuche kriegte rechtzeitig den Tennisschuh zwischen Tür und Rahmen. Ein Stück Papier segelte durch den kleinen Spalt, bevor Timo es endlich mit aller Kraft schaffte, die Tür ins Schloss zu drücken.

»Herr Tripke, nun haben Sie sich doch nicht so!«, beschwor Mick dumpf durch das Eichenholz. »Das sicher wird lustig. Flamingo Bianco war neulich auch bei uns! Rufen Sie mich bitte, bitte an, wenn Sie es sich anders überlegen.«

Bald hörte Timo Tripke, wie sich eine Vespa entfernte. Eine wunderbare Stille bemächtigte sich wieder des Hauses.

Gerne hätte Tripke jetzt mit Ben gesprochen. Ben hatte die Welt immer schärfer gesehen als er, analytischer. Als Kind war er schüchtern und verletzlich gewesen. Doch längst hatte sein Bruder ihn überflügelt. Ben hatte ausprobiert. Grenzen erprobt, gelebt. Er hatte die menschlichen Erfahrungen gesammelt, die Tripke fehlten. Wo Timo Tripke Probleme sah, sah Benjamin Dettmering Lösungen. Kein Wunder, dass die private Situation des einen sich eigentlich nie veränderte und die von Ben gefühlt ständig. Ben hatte gelernt, wie das ging, ohne dass man sich verlor. Hier eine neue Freundin, da ein neuer Job. So war es immer gegangen. Zumindest, als sie sich noch regelmäßiger gesehen hatten.

Ob er versuchen sollte, Ben zu erreichen? So ganz spontan? Vielleicht funktionierte seine alte Handynummer noch, die musste Tripke doch damals zu Opas 90. Geburtstag irgendwo aufgeschrieben haben.

Ein paar Minuten stand er noch mit dem Rücken an die Haustür gelehnt und stützte sich auf den Leergutkästen ab, die den leeren Garderobenbereich von Bernadette mittlerweile mit Leben füllten.

Bens Nummer suchte er nicht.

Stattdessen schloss Timo Tripke, wie er es eben schon vorgehabt hatte, die Rollläden im Wohnzimmer. Das Erdgeschoss von Akazienweg 9 war nun endgültig versiegelt.

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