Du bist es vielleicht

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Tripke starrte in die toten Augen der 10a. Hätte er heute Klassenarbeiten verteilt, wäre bei den 23 Schülern schnell wieder Puls zu fühlen gewesen. So würde es eine Weile dauern, bis alle, inklusive ihm, in der ersten Stunde dieser neuen Arbeitswoche angekommen waren.

Wie immer stand er etwas zu lang untätig hinter seinem Pult. Blickte in die vom Wochenende gezeichneten Gesichter und sagte nichts. Was manchem Schüler wie ein akuter Depressionsschub zu Beginn jeder Stunde erscheinen mochte, war in Wahrheit einer von Tripkes ganz wenigen Tricks. Vielleicht sogar sein bester. Wie alle Lehrer fürchtete auch er, zu viel Angreifbarkeit auszustrahlen. Inszenierungen, die die Schüler über seine wahre – kaum vorhandene – Stärke im Unklaren ließen, waren überlebenswichtig.

Er hatte es hier mit jungen Leuten zu tun. Und junge Leute waren zu allem fähig. Die NS-Zeit und Michel aus Lönneberga hatten es bewiesen. Die Lehrer-Schüler-Hierarchie schien nur stabil. Einmal nicht aufgepasst und Tripke hatte selbst streikende Schüler unter dem Auto liegen oder griff zur Flasche.

Während er also zu Beginn jeder Stunde schwieg, versuchte Timo Tripke zu lesen, wer auf seinen Bluff hereinfiel. Es war wichtig zu wissen, wo er stand. Erst die Instrumente checken, vorher konnte niemand ernsthaft wagen abzuheben.

An Montagen hatte es Trikpes Strategie besonders schwer. Da waren viele Schüler zu ausgeruht, andere noch auf Drogen. Er wartete deshalb heute zur Sicherheit noch ein paar Sekunden länger, ehe er sprach.

Endlich, sein Mund öffnete sich und formte die magischen Worte. Die erste Lüge des Tages.

»Guten Morgen.«

»Morgen, Herr Tripke«, kam es asynchron aus wenigen, viel zu wenigen Richtungen.

»Heute fangen wir mit einem neuen Thema an. Weimarer Republik, 1918 bis 1933. Weiß wer, warum die so heißt? Niemand? Okay, reden wir gleich drüber. Hören wir erst mal rein, würde ich sagen. Die ersten Jahre der Weimarer Republik.«

Timo Tripke steckte das Netzkabel des tragbaren Kassettenrekorders in die Steckdose am Lehrertisch. Die Klasse musterte ihn dabei mit derselben Abschätzigkeit und Restverwunderung wie immer, wenn er das tat. Heimlich genoss er die Blicke, während er in der Aktentasche nach der richtigen Kassette kramte.

»Von der Dolchstoßlegende zur Krise der Weimarer Republik« war ein frühes Werk von ihm. Es musste eines der Bänder sein, das er schon während seines Studiums vor 15 Jahren als Lernhilfe besprochen hatte. Seine Stimme darauf klang beim Vortrag noch unsicher und leise. Doch sie erfüllte bereits hier ihren Zweck.

Er wusste nicht genau, warum er mit seinem Ansatz, weite Teile des Unterrichts nicht mehr selbst vorzutragen, sondern von Bändern abzuspielen, immer noch durchkam. Ein bisschen skandalös hatte er sein Verhalten selbst lange Zeit gefunden. Doch mittlerweile glaubte er fest an seine Technik.

Natürlich wurde man mit einem Kassettenrekorder nicht zum beliebtesten Lehrer der Generation Zweithandy. Tripkes Kassetten waren das Allerletzte. Die meisten Schüler wussten nicht mal, wie man sie einlegte. Neulich hatte ein Schüler gefragt, wie viel Terrabyte Daten darauf Platz fänden.

Aber die Bänder, auf denen er 20-minütige Einführungen las, die er nach dem Abspielen mit den Kindern diskutierte, wurden offenbar besser gemerkt als das, was von dozierenden Lehrern hängenblieb, die jedes Mal selbst daherplapperten.

Seine Technik besaß auch für ihn selbst nur Vorteile. Während das Band lief, blieb ihm Zeit zum Nachdenken. Urlaub im Kopf, wie sein Opa immer gesagt hatte. Außerdem sparte er für jede Kassette, die er neu aufnahm, in den Folgejahren aufwändige Unterrichtsvorbereitungszeit. Ziel war, die letzten 15 Jahre bis zur Pensionierung überhaupt nichts mehr leisten zu müssen.

Und das Allerbeste an seinen Kassetten: Er musste weniger zur Klasse reden. Kein Zweifel, Timo Tripke war in der Toten Mine der Didaktik noch auf echtes Gold gestoßen.

So sah er auch jetzt wieder durch ein Fenster in Raum 404 auf die Häuser hinab und genoss, wie sich seine eigene Stimme von Band immer weiter von ihm wegbewegte.

Er war wieder an Deck seines Hausboots. So wie gestern.

Die Augen geschlossen saß er in im Liegestuhl und versuchte, im Geräusch des Wassers, das gegen den Bug schwappte, ein Muster zu erkennen. Doch da war kein Rhythmus. Nur seliges Chaos.

Die Seebinsen raschelten im Wind.

Hinter ihm klackte etwas leise. Vielleicht arbeitete das Holz. Es klang schön. Über ihm schrie ein Vogel. Und wieder. Und wieder. Und …

»Herr Tripke.«

Die Stimme im Klassenraum war wieder zu hören. Aber es war nicht mehr seine eigene von Band.

»HERR TRIPKE, DIE KASSETTE!«

»Was?«

»Aus.«

»Scheiße.«

Er zog mit zwei spitzen Fingern behutsam die Kassette aus dem Gerät. Da hatte er den Bandsalat. Das Tape war gerissen, vielleicht zu Hause noch zu kleben. Doch für heute definitiv aus dem Spiel. Jetzt galt es, einen kühlen Kopf bewahren.

Die Stunde, auf die er sich, Kassette sei Dank, kein Stück vorbereitet hatte, war vielleicht zehn Minuten alt. Sie durfte ihm nicht entgleiten.

Natürlich konnte er zur Weimarer Republik auch etwas frei vortragen. Und Schulbücher gab es auch noch. In geringer Stückzahl lagen sie sogar schon auf den Pulten.

Doch noch wusste er nicht, wie er wieder in die Spur finden sollte. So perplex war er.

Er ging zur Tafel und griff zum roten Marker. Noch immer hatte er keine Ahnung, was er vorhatte. Aber zumindest tat er etwas, das Lehrer immer taten. Sehr gut.

»Dann machen wir das eben ohne Kassette«, hörte Tripke sich mit zittriger Stimme sagen. »Überhaupt kein Problem!«

Schnell kam ihm der Verdacht, sein letzter Satz könne so geklungen haben, als sei in Wahrheit das Gegenteil der Fall.

Er sah, wie er vier Ziffern an die Tafel schrieb. 1-9-1-8. 1918. Genial. Damit konnte er arbeiten.

»Mit dem Kriegsende – hier, 1918 – war das … das Deutsche Reich in seiner bisherigen Form sozusagen, also, na, am Ende. Die Kaiserzeit war vorbei. Die Kolonialzeit war vorbei. Schwere Reparationszahlungen, also Forderungen der Siegermächte, standen an. Innenpolitisch herrschte mit der Abdankung des Kaisers ein eklatantes Machtvakuum. Also wollten viele Kräfte diese Stunde Null, so nennt man das auch, für sich nutzen und an die Macht. Vielleicht gucken wir mal an der Tafel, wer hatte denn alles ein Interesse, in dieser neuen Republik eine wichtige Rolle zu spielen?«

Er legte den roten Marker weg und griff zum blauen.

Sehr gut, unterschiedliche Farben verwenden! So etwas machten Lehrer mit einem Plan immer!

»Ich mach mal einen Kreis und in dem tragen wir die unterschiedlichen Gruppen zusammen.«

Tripke stellte sich seitlich, den Kopf zum Fenster gewandt, dicht an die Tafel. Den Stift im herunterhängenden Arm atmete er einmal kurz durch und schwang die Hand ohne hinzusehen in einer schnellen Bewegung im Kreis, bis sie unten wieder angekommen war.

»Also«, wandte sich Tripke zur Klasse, »dann mal los. Wer fällt euch denn so ein?«

Sie starrten ihn an.

Die Müden, die Streber, die Dummen, die Skater, die HipHopper, die Reiterinnen, die Handballerinnen, die Nazis, die Muslime, der Zeuge Jehovas, die auf Drogen. Sogar diejenigen, die eben noch Emojis unter dem Tisch durchgeklickt hatten auf der Suche nach dem passenden Montagmorgengesicht.

Alle blickten ungläubig an Timo Tripke vorbei zur Tafel.

Levi Eismann in Reihe 3 war der Erste, der etwas sagte. Sieben Wörter. In etwa das, was er bisher im kompletten Halbjahr zustande gebracht hatte.

»Alter, das ist ja mal der Hammer.«

Hinter Tripke musste etwas Unerwartetes passiert sein. Panisch drehte er sich um. Erwartete einen Affen mit Messer zwischen den Zähnen oder eine Tarantel an der Tafel.

Dann staunte er selbst.

Timo Tripke, nicht gerade berühmt dafür, Dinge außergewöhnlich gut zu können, hatte freihändig einen perfekten Kreis an die Tafel gemalt. Keinen Kreis, der nur symmetrisch aussah. Den perfekten Kreis. Seine Rundung schien völlig gleichmäßig. Die Strichstärke überall gleich ausgeprägt. Und unten war das Ende des Strichs so perfekt auf den Anfang getroffen, dass man nicht mehr erkennen konnte, wo sein Urheber die Kreisfigur begonnen hatte.

Dass Menschenhand diese Form erzeugt haben könnte, schien unvorstellbar. Das hier war das Werk einer Maschine. Eines hochauflösenden Laserdruckers vielleicht. Wären die Maya auf Bildungsreise in Heiligenstedt, sie würden sich hier und jetzt vor Timo Tripke auf das Linoleum werfen.

»Noch mal! Noch mal!«

Wenn Levi, der Mädchenschwarm und Nachwuchs-Punkrocker, so weitermachte, würde er noch zu einem richtigen Plappermaul in diesem Schuljahr.

»Ja, noch mal! Das schaffen Sie nicht!«, kam es jetzt aus allen Richtungen. Sogar der Nazi hatte von nihilistisch-aggressiv zu kindlich-begeistert zurückschalten können. Ein kleiner Hoffnungsschimmer.

»Los, Herr Tripke!«

Tripke stellte sich wortlos an die noch leere linke Tafelhälfte, sah erneut zum Fenster, ließ die Hand mit dem Stift wieder locker hängen und vollführte eine zweite schnelle Handbewegung gegen den Uhrzeigersinn.

Fertig.

Einem kurzen Moment ungläubiger Stille folgte tosender Applaus, wie ihn die Schüler sonst nur misogynen Berliner Rappern zuteil werden ließen. Tripke hatte schon wieder einen perfekten Kreis gemalt.

»Wie ich immer sage – Hauptsache stabiler Kreislauf«, rief er, als der Lärm sich ein wenig gelegt hatte.

 

Der Gag saß. Die Schüler lachten. Einige klatschten wieder freudig. Der Rest der Stunde verschwand in wohligem Nichts.

Auf der Heimfahrt nach Holden drehte Timo Tripke die Depeche-Mode-CD auf und sang laut mit. Einen besseren Montag am Riesenhuber hatte es nie gegeben. Er hatte für Gesprächsstoff gesorgt, positiv wohlgemerkt, und das gefiel ihm.

Zu Hause angekommen hefteten sich seine Gedanken sofort an das Hefeweizenbier im Kühlschrank. Dabei war erst halb fünf. Nein, definitiv noch zu früh.

Stattdessen ging er ins Wohnzimmer. Genauer: zur Biedermeier-Kommode von Bernadettes Großmutter. Die Schublade ruckelte laut, als er sie öffnete und die leicht vergilbte Schachtel französischer Zigaretten entnahm.

Bald stand Timo Tripke, der lebende Zirkel, die Lehrkraft mit dem goldenen Handgelenk, das Gesprächsthema Nummer eins am Riesenhuber, auf dem ungenutzten Rasenstück hinter seinem Haus und rauchte zufrieden.

Nein, dachte er, heute war definitiv kein Tag wie jeder andere.

Wäre es so gewesen, hätte er beim Hineinkommen bemerkt, dass in der rechten Garderobenhälfte keine Jacken mehr hingen.

Der kleine Timo stand schwankend auf einem Bein. Das andere hielt er fest umklammert in Hüfthöhe. Blut tropfte wie beiläufig von seinem Fußballen auf die Holzbohlen.

»Was is?«, kam es besorgt von hinten.

Ben stand jetzt dicht bei ihm. Er war außer Atem, er schwitzte, wirkte zwar resteuphorisch, nun aber auch höchst besorgt. Wie alle kleinen Kinder, die noch nicht zwischen Schürfwunde und Genickbruch unterscheiden können.

»Nicht schlimm, Ben, keine Angst. Aber ich brauch’n Pflaster oder so. Hol mal Opa.«

»Opa, Opa!«

Ben sprintete zurück zum Heck, um das sie eben minutenlang gejagt waren. Unzählige Runden hatten sie kreischend auf Deck gedreht. Die Backbord-Reling entlang, vorne die zwei Stufen beim Anker hoch und auf der anderen Seite wieder zwei Stufen runter. An der Steuerbordseite des Hausbootes zurück und hinten beim Ruderhaus haarscharf an Opa und seinem Farbeimer vorbei. Eine Hatz wie in einem Tom-&-Jerry-Cartoon. Nur dass der Farbeimer noch nicht umgekippt war.

Timo hatte beim Rennen darauf geachtet, Ben immer den perfekten Vorsprung zu lassen. Der Abstand musste groß genug bleiben, dass Ben sich für schneller halten konnte. Gleichzeitig musste sein kleiner Bruder im unablässigen Zustand der Hysterie gehalten werden. Nie durfte er das Gefühl bekommen, Timo würde ihn absichtlich gewinnen lassen. Obwohl es der Fall war. Für Timo bedeutete das Spiel ziemlich viel Arbeit. Aber er konnte sich nichts Schöneres vorstellen.

Außer, endlich etwas gegen die verdammte Blutung zu bekommen.

Ben erschien mit Walter Tripke an der Hand, der den Erste-Hilfe-Koffer in die verbliebene Achselhöhle geklemmt hatte. Leichter wäre gewesen, Opa Tripke hätte Bens Hand losgelassen und den Koffer am Handgriff gehalten. Aber so war er eben, fürsorglich. Und darauf bedacht, die für jeden offensichtliche körperliche Einschränkung als völlig problemlos darzustellen, sie mitunter gar als Vorteil anzupreisen.

Vor kurzem erst war Timo Ohrenzeuge eines längeren Plädoyers geworden, wonach der Mensch laut Opa Tripke »im Prinzip« gar keine zwei Arme bräuchte. Doppelglieder? Dabei handelte es sich, so Walter Tripke, ganz klar um einen »Arawismus«. Falls Timo das Wort richtig verstanden hatte. Ein Bein weniger, okay, das war in manchen Lebenssituationen wirklich ärgerlich, dozierte Tripke senior. Aber nur ein Arm? Jeder konnte doch sehen, wie gut es ihm ging. Vögel zum Beispiel bräuchten auch keine Arme. Und die Schlangen erst!

Timo hörte zu und stellte sich vor, wie es wäre, mit einem Arm Fahrrad zu fahren, eine Konservendose zu öffnen oder bei einer Schulaufführung neben allen Kindern, die zwei Hände hatten, zu versuchen, mit nur einer zu klatschen.

Er war sehr glücklich über seinen zweiten Arm. Aber er sagte es nicht. Stattdessen tat er auch diesmal so, als habe er die Heldengeschichten über den amerikanischen Entdeckungsreisenden John Wesley Powell nicht schon ein halbes Dutzend Mal gehört.

Wie, Opa hatte Powell, den einarmigen Helden des Wilden Westens, noch nie erwähnt?

Den glorreichen Erforscher und Namensgeber des Grand Canyon?

Das Gründungsmitglied der National Geographic Society?

Der Mann, dessen Namen sowohl Lake Powell als auch Mount Powell in der Antarktis trugen?

Das konnte doch nicht sein.

Als Walter Tripke den Arztkoffer endlich aufgekriegt hatte und den Fuß untersuchte, sah Timo aus nächster Nähe die Schweißperlen auf der Stirn seines Großvaters. Er roch Terpentin, filterlose Zigaretten und Opa.

»Ist nicht schlimm, mit der Pinzette hier ziehe ich dir das eben raus«, beschwichtigte Tripke senior mehr in Richtung Ben, der stocksteif von unten der Untersuchung folgte.

»Hältst du die Fußsohle bitte mal selbst nach oben, Timo? Sonst komm ich da nicht ran. Genau … jetzt noch den Kopf weiter nach links, sonst habe ich keine Sonne … genau … so, das war’s schon. Pflaster drauf und fertig. Blutet gleich nicht mehr.«

»Juhu!«, rief Ben ernsthaft überrascht. Dann rannte er in freudiger Erwartung schon wieder zum Bug.

Timo trat vorsichtig auf und wartete auf den pochenden Schmerz. Doch er spürte nur die Erinnerung daran.

Opas Kofferradio im Führerhaus quäkte das Lied für den Frieden. Timo lauschte. Der Frieden auf der einen Seite, Singvögel auf der anderen. Das Platschen des Wassers, das Gepolter von Ben. Einen Moment drehte er den Kopf zur Sonne und schloss die Augen.

»Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, und höre die Schreie der Vögel im Wind«, sang die Radio-Frau übersteuert, und Timo lachte wegen soviel Zufall.

»Was ist?«, schrie Ben von der anderen Seite des Schiffs, Luftlinie ein paar Meter von ihm entfernt.

»Nichts, Ben, nichts.«

Aber da war doch etwas. Ein Knirschen. Eine dunkelblaue Limousine mit einer großen Beule im Kotflügel rollte über den Kiesweg heran. Am Uferrand quietschte sie abrupt. Es hupte hektisch und ein hochgeschossener Mann Anfang 30 stieg aus.

Opa, der seinen Arztkoffer unter Deck in der dafür vorgesehenen Halterung verstaute, streckte Achtern den Kopf wie ein Erdmännchen aus einer Luke. Mit unbewegter Miene sah er den Neuankömmling die Gangway in großen Schritten nehmen.

»Walter? WALTER!«, rief der Große.

»Hier bin ich doch«, kam es von unten.

»Haben die Jungs schon gepackt, alter Mann?«

»Sag ihnen doch erst mal Hallo.«

Ben lief zu seinem Vater und klammerte sich an sein Bein.

»Fahren wir schon?«, befragte er die Wolken.

»Ja, hol deine Sachen.«

Der Riese streichelte Bens Kopf.

»Darf Timo denn mal vorne sitzen?«, wollte Ben wissen.

»Vorne sitzt Team Dettmering. Weißte doch.«

»Wie kannst du nur so was sagen, Udo?«, zischte Walter Tripke, der mittlerweile mit einem Einmachglas in der Hand an Deck erschienen war. »Das ist doch krank.«

»Gutes Stichwort. Wir müssen uns beeilen, die Besuchszeit endet um sechs. Komm Ben, hol deinen Rucksack und du, Timo, du bitte auch. Dann lasse ich dich auf der Rückfahrt auch vorne sitzen, ja?«

Ben und Timo stoben unter Deck.

»Soll ich deiner Tochter was von dir ausrichten, alter Mann?«

»Sag ihr, ich nehme Dienstag nach dem Frühstück wieder den Bus. Hier. Himbeer mochte sie immer gerne. Frisch eingekocht. Und reiß dich zusammen, den Kindern zuliebe.«

»Wie oft denn noch, da dürfen keine Gläser rein.«

»Dann bitte eine Schwester, die Marmelade umzufüllen. Ist ja wohl nicht zu viel verlangt.«

Udo Dettmering erwiderte nichts, machte aber den Eindruck, als sei es definitiv zu viel verlangt. Er zündete eine Zigarette an und schwieg. Als Ben und Timo mit ihren Taschen erschienen, gab Walter Tripke Timo das Marmeladenglas.

»Gib das bitte der Schwester zum Umfüllen und drück deine Mami von mir, ja?«

»Klar, Opa.«

»Und sag ihr, ich komme Dienstag nach dem Frühstück.«

»Okay, Opa. Mach’s gut, Opa. Bis Samstag.«

»Ach, ganz vergessen …«, rief Udo. »Kann sein, dass die beiden Samstagfrüh wieder ein Werbe-Shooting haben.«

»Dann eben Samstagmittag«, rief Opa Tripke und wandte sich wieder Timo zu. »Ich wünsche dir eine schöne Woche, Timo. Viel Spaß in der Schule.«

So wie alle Großeltern hielt Walter Tripke erst Timo, dann Ben viel zu lange im Arm. Vielleicht sogar noch länger, weil er nur einen hatte. Mit dem winkte er auch, als beide Kinder hinter dem Riesen zum Auto liefen.

Ben stieg vorne ein. Timo warf seinen Rucksack auf die Rückbank und Opa auf dem Hausboot einen letzten Blick zu. Der hob nun wieder die Hand und formte in Timos Richtung einen nach oben gereckten Daumen. Timo nickte, stieg seinem Rucksack hinterher und nahm auf den heißen Kunstledersitzen Platz.

»Abfahrt«, presste Udo Dettmering den Tabakrauch aus dem halb geöffneten Fenster. Er drückte den Zigarettenstummel fest in den Aschenbecher der Mittelkonsole, bis seine Fingerknöchel weiß anliefen. Dann fuhr der Zündschlüssel endlich ins Schloss.

Die Frau aus dem Radio sang ihr Lied in Timos Kopf weiter. Morgen, nach der Schule würde er bei Funk Müller fragen, was die Schallplatte mit dem Song kostete. Vielleicht reichte sein Geld.

»Wie eine Puppe, die keiner mehr mag, fühl ich mich an manchem Tag.«

Witzig. Er konnte den Text doch tatsächlich schon auswendig.

Christiane Seiffert, vielleicht auch Christine, Timo Tripke wusste es nicht mehr genau, löste den Verschluss ihres dezent geblümten BHs. Endlich nahm sie ihn ab und warf ihn auf den Plüschsessel neben ihrem Nachttisch. Nur noch mit ihrer Unterhose bekleidet stand sie neben dem Bett.

Timo betrachtete sie schweigend, äußerlich unberührt. In Wahrheit speicherte er hektisch Standbilder ihres Körpers auf seiner internen Festplatte. Vorräte sammeln.

Christiane-Christine verharrte. Mit ihren Gedanken schien sie ganz woanders zu sein. Vielleicht bei der Arbeit. Oder einem kranken Verwandten. Oder ihrer Einsamkeit, falls sie einsam war, Tripke wusste es nicht. Klar war nur, sie hatte auf irgendetwas keine Lust mehr.

Timo Tripke ging es ähnlich. Auch er hatte keine Lust mehr. Es war Freitag. Der fünfte Tag in Folge, dass er Christiane-Christine Seiffert, in der Tiefe von Bernadettes ehemaligem Arbeitszimmer stehend, durch Opas Fernglas beim abendlichen Entkleiden beobachtete.

Bei der Premiere am Montag hatte er dabei noch immense, beinahe jugendliche Lust verspürt. Wer wusste schon, wie viele Chancen er noch bekam, etwas Aufregendes zu empfinden? Mit 43 kippte die Wippe allmählich auf die andere Seite. Unaufhaltsam taumelte man dann nach unten in Richtung Friedhof.

Und doch hatte sich bereits vorgestern, am Mittwoch, das abendliche Warten auf Christiane-Christine in eine leicht ärgerliche sexuelle Sucht ohne große Erfüllung ausgewachsen. Heute lag sogar null echte Erregung mehr in der Luft.

Im Prinzip spannte er Christiane-Christine nur noch ins Schlafzimmer, weil er es konnte.

Das Haus in Holden gehörte ihm. Zeit und Gelegenheit waren seine einzigen Mitbewohner. Aber er musste nicht lange zurückdenken, um sich an weitaus schlechtere Wohnpartner zu erinnern.

An Christiane-Christines erstaunlichen Körper lag es nicht, dass ihm die Show nicht mehr gefiel. Ihre Figur war keineswegs makellos. Aber genau das hatte Tripke jenseits der stumpfen, pulsierenden Lust an Christiane-Christine direkt berührt. Sie schien so wahnsinnig real. So unverstellt schön.

Tripke misstraute Perfektion ganz grundsätzlich. Perfekt, das waren immer nur die anderen. Und was immer nur die anderen hatten, hatte in Wahrheit keiner. Störte sich niemand außer ihm an diesem logischen Widerspruch?

Timo Tripke war froh, sich nie für das Perfektsein interessiert zu haben. Auch, weil ihm das die unmögliche Aufgabe abnahm, sein alles andere als perfektes Äußeres mit den Ansprüchen der Welt synchronisieren zu müssen.

Moment mal, was war los da drüben? Warum ging es nicht weiter? Christiane-Christine kam heute überhaupt nicht auf den Gedanken, sich etwas über die nackte Haut zu ziehen. Steif stand sie vor ihrem Bett, starrte auf den Boden und zeigte Timo bewegungslos ihre leicht unterschiedlich großen Brüste. Timo Tripke speicherte und speicherte, bis er Kopfschmerzen bekam.

 

Wusste sie vielleicht die ganze Zeit, dass er da war, und fand es, er kramte tief in sich drin nach dem Wort, womöglich »geil«, beobachtet zu werden? Bei dem Gedanken spürte Tripke kurz etwas im Schritt. Dann war es aber auch schon wieder weg.

Natürlich wusste sie nichts von ihm. Alles nur Zufall. Und wenn sie ihn gesehen hätte, würde der Anblick des verformten Stelzbocks von nebenan, der neuerdings sehr viel in seinem ungenutzten Garten rauchte, in ihrem Kopf wohl eher die 110 heraufbeschwören. Keine holzschnittartigen Sex-Stellungen, wie man sie aus Erwachsenenfilmen kannte.

Timo Tripke schämte sich endgültig im Angesicht solcher aufgegeilten Hirngespinste. Das war nicht er. Das hier war einfach nicht er selbst.

Er stellte das Fernglas in das leergeräumte Bücherregal zurück. Dann zog er die Jogginghose über sein schlaffes Glied und verließ den Raum. In seinem eigenen Arbeitszimmer angekommen überlegte er, ob er eine seiner alten Schulkassetten anhören sollte. Einfach so. Sich von einem zehn Jahre jüngeren Selbst die Welt erklären lassen. War er dafür heute in Holden geblieben, anstatt direkt nach der Schule am Heiligenstedter Südkreisel die zweite Abfahrt zum Hausboot zu nehmen? Nur, um sich selbst beim Reden zuzuhören?

Warum eigentlich nicht? Es gab noch eine Menge Wochenenden, an denen er etwas anderes tun konnte. Ein gutes mehr, ein gutes weniger – egal. Bernadette war weg. Die Tanzabende, Theater- und Restaurantbesuche, die er nicht mit ihr hatte erleben wollen, hatten ihr offenbar nicht gereicht. Über Freunde, selbst Bekannte verfügte er praktisch nicht mehr. Seine ehemaligen Lehramtskommilitonen lebten Leben, die nicht mehr nach ihm verlangten. Partner, Kinder, Hunde, Hobbys, Pläne, das war so weit weg wie ein anderes Leben eben weg war. Doch Timo Tripke fühlte sich okay. Vielleicht okayer als jemals zuvor.

Bei gleißender Außenbeleuchtung rauchte er demonstrativ lange auf der Terrasse. Dabei gab er sich betont normal. Christiane-Christines schimmerndes Schlafzimmerfenster in der Ferne sollte wissen, dass hier nichts Ungewöhnliches passierte. Nur ein in sich ruhender, rauchender Mann mit verbogenem Kopf, der sein halbes Leben noch vor sich hatte.

Keine besonderen Vorkommnisse in Akazienweg 9.