Luthers Kreuzfahrt

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„Wat is denn da vorne los?“, krähte Jupp Schmitz vom Ende des Zuges. Vor ihm auf dem gesamten Pooldeck und oben an der Innenreling des Sonnendecks krümmten sich die NOFRETETE-Gäste vor Lachen. Wolle selbst war äußerst unglücklich mit der Nase auf einer lechzenden Sprudeldüse gelandet, die den Eindruck erweckte, sie wolle ihn in die Eingeweide des Whirlpools hineinziehen. Nur mühsam befreite er sich, richtete sich auf und sah, wieder in der King-Kong-Position auf dem Empire State, die wiehernde Masse. Dieses Mal wusste er, wie er sich zu verhalten hatte, auch wenn er zunächst nicht erkannte, warum das Lachen kein Ende nehmen wollte: Das Whirlpool-Wasser hatte die bei seiner Leibesfülle ohnehin nur rudimentären Stoffelemente der Dienstkleidung so eng an seinen Körper geklebt, dass er problemlos an jedem Wet-T-Shirt-Wettbewerb hätte teilnehmen können. Mit seinen ausgebildeten Brüsten überbot er Gesine Harms um ein Vielfaches. Auch bei einem Wet-Boxer-Short-Contest standen seine Chancen nicht schlecht, wie ein Blick auf den Bereich unterhalb des Bauchansatzes verriet. Wolle Luther, ein moderner Hermaphrodit, zwei in eins. Er blickte an sich herunter, erkannte sein Zwitterwesen und stimmte dann in das Gelächter mit ein. Als ob es die ganze nordafrikanische Festlandsbevölkerung hören sollte, brüllte er vergnügt:

„Ist es ein lebendig Wesen,

Das sich in sich selbst getrennt?

Sind es zwei, die sich erlesen,

Dass man sie als eines kennt?

Solche Fragen zu erwidern

Fand ich wohl den rechten Sinn.

Fühlst du nicht an meinen Liedern,

Dass ich eins und doppelt bin?“

Lieder, das war das Stichwort für Jenny, ein paar heiße Sommerrhythmen aufzulegen. Die Stimmung war auf dem Siedepunkt. Wolle avancierte binnen kurzer Zeit vom Buhmann zum Liebling. Anerkennend klopfte ihm Kai auf die Schulter. „Gut gemacht! Echt professionell, wie du noch mal die Kurve gekriegt hast, ha, ha!“

Wolles Augen aber wanderten über das Pooldeck. Er sah, wie der Mann, der gefragt hatte, ob er wie der Reformator heiße, von einer Liege im Schatten aufstand. Mit einem Wink forderte er andere, die ebenfalls im Schatten lagen, zum Mitkommen auf. Alles Personen, die bei der Polonaise nicht mitgemacht hatten und auch nicht in Bikini oder Badehose, sondern in unauffälliger Sommerkleidung auf den Liegen unter dem Sonnendeck ausgeharrt hatten. Der Leiter der Gruppe war Cornelius Schwacke, Pfarrer und Luther-Beauftragter mehrerer Kirchenkreise der Evangelischen Kirche in Westostdeutschland, der eine Tagung auf der NOFRETETE über die Perspektiven des Lutherjahres 2017 mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Tourismus und Kirche durchführte. Leute, die sich bisher nur von Begegnungen in miefigen Sitzungsräumen her kannten. Kein Wunder, dass die sich nicht gleich voreinander entblößten. Perspektiven zum Lutherjahr 2017, da nehme ich teil, sagte sich Wolle. Doch wie sollte er das anstellen?

Erst einmal hatte er einen Termin beim Kapitän, wie ihm Nadja vom Key Account Management mit bedeutungsschwangerer Miene mitteilte. War es eine Einladung? Oder eher eine Vorladung? Mit vielem rechnete Wolle. Nie aber damit! Seine Vergangenheit sollte ihn auf der NOFRETETE einholen. Der Hammer!

V

Ulrike Braunholz war, objektiv gesehen, keine makellose Schönheit. Das Gesicht etwas länglich und pausbäckig, die Nase schmal, die Wangenknochen slawisch ausgeprägt, die Figur unauffällig. Sie war nicht der Typ Mädchen, dem alle Jungs mit offenem Mund hinterherstarrten. Aber Didi war seit der ersten Begegnung an der Bushaltestelle vollkommen besessen von ihr. Unerfahren im Umgang mit dem anderen Geschlecht grübelte er Tage und Nächte nach einer Möglichkeit, sie kennenzulernen. Er wartete oft Stunden an der Haltestelle alle Busse ab, die in die Richtung fuhren wie bei der ersten Begegnung mit Ulrike. Nach einigen Tagen hatte er den Rhythmus ihrer Fahrten herausgefunden, registrierte, woher sie kam und wusste bald, dass sie am Mädchengymnasium war. Oft stand er seitdem hinter Büschen oder Bäumen und beobachtete sie, wie sie die Schule verließ oder morgens die Schule betrat. Bei ihrem Gang erschauerte er jedes Mal, mehr Schmerz als Freude empfand er. Das Nachstellen entwickelte sich zu einer Droge, ein Verhalten, das sich von Tag zu Tag steigerte. Mit der Zeit stieg er an ihrer Haltestelle mit aus, verfolgte sie in gehörigem Abstand und wusste bald über ihr Herkommen Bescheid: Ihr Vater war der bekannte Arzt und Stadtrat Dr. Friedrich Braunholz, Internist und CDU-Mitglied. Über die Gartenhecke erkannte er ein grün gefliestes Hallenschwimmbad, das an das Wohnhaus angebaut und am Abend exotisch beleuchtet war. Wenn er Personen durch die Glasbausteinwand schemenhaft ins Bad steigen sah, stellte er sich Ulrike im Bikini vor und bekam ein Gefühl, das mit Wollust nur unzureichend erfasst ist.

Manchmal fragte er sich, ob Ulrike sein Spannen und Nachstellen nicht schon bemerkt hatte. Der Gedanke war ihm gar nicht unrecht, ergäbe sich doch, sollte sie ihn darauf ansprechen, endlich eine Gelegenheit, sie kennenzulernen. Aber nur selten hatte er Blickkontakt, und wenn, sah Ulrike sogleich auf den Boden, wie sie es auch tat, wenn andere in ihre Augen sahen. Sie war scheu, sagte er sich, und mit ihren braunen Kulleraugen erinnerte sie ihn auch optisch an ein Reh.

Um einen Fortschritt zu erzielen, begann er, morgens um 5.00 Uhr aufzustehen und das Haus zu verlassen. Seine Mutter wunderte sich, aber er konnte ihre neugierigen Fragen gut abwenden. Er behauptete, sich am Morgen am besten auf die Schulaufgaben zu konzentrieren. Das Lernen in der Natur falle ihm leichter. In Wirklichkeit begab er sich auf eins der Felder vor der Stadt und pflückte jeden Tag einen kleinen Sommerstrauß, den er vor der Haustür der Angebeteten niederlegte. Allerdings tat er das, ohne eine Nachricht beizugeben, dazu fehlte ihm der Mut. Rational gesehen eine völlig unsinnige Aktion. Aber was ist in dieser Lebenssituation schon rational? Er freute sich, Ulrike später aus dem Bus aussteigen zu sehen und zu wissen, sie hatte sich am Morgen schon über sein Blumengeschenk gefreut. Irgendwie hoffte er auf ein Wunder, auf eine Begebenheit, die die Dinge zum Guten wendete. Das Wunder geschah, aber nicht in der Weise, wie er es sich erhofft hatte. Eines Tages legte er ein Sträußlein aus Klatschmohn und Kornblumen gegen 6.00 Uhr vor den Eingang. Er trat ganz vorsichtig auf die Treppenstufen, um jedes Geräusch zu vermeiden. Doch trotzdem öffnete sich plötzlich die Tür und heraus trat ein älterer, sehr rüstiger Herr, der ihn festhielt und fragte, warum er jeden Tag das Unkraut hier ablege. Es war Ulrikes Großvater, der im Erdgeschoss wohnte und als Frühaufsteher jeden Tag zuerst die Blumen entdeckt und sofort entsorgt hatte. Mühsam riss sich Didi von ihm los und suchte das Weite. Die Aktion, ein totaler Fehlschlag, ein Debakel, von dem er nur hoffte, Ulrike möge es nicht mitbekommen. Denn einen so feigen und anonymen Verehrer, wieso sollte sie den erhören?

So sah er nur noch einen Ausweg: Hubert. Er war der unbestrittene Flirtkönig der Klasse, hatte mit fünfzehn Jahren schon ein gutes Dutzend Freundinnen und mit den meisten „etwas gehabt“, wie er das geheimnisvoll umschrieb. „Jedenfalls mehr als Knutschen“, erläuterte er im Kreis der Mitschüler und genoss die bewundernden Blicke. Ihm, Didi, gegenüber zählte er nicht zu den Oberlästerern, ja, manchmal hatte er das Gefühl, Hubert hege sogar ein paar Sympathien für ihn. Immerhin hatte er ihn bei der letzten Englisch-Arbeit, bei der Hubert neben ihn strafversetzt wurde, ein paar Vokabeln spicken lassen und einen dankbaren Blick geerntet.

Hubert Knabe, der Liebesexperte, der Casanova, der wusste, wie das andere Geschlecht tickte, ihn bewunderte er insgeheim und von ihm erhoffte er sich Rat.

„Hubert, ich habe da so ein Problem“, fing er den Dialog nach der Schule an und nahm in Kauf, Ulrike und ihren Bus an diesem Tag zu verpassen.

„So, na dann schieß mal los!“, ermunterte ihn Hubert.

Didi erläuterte ihm in aller Kürze seine Lage, ohne seine Nachstellungen zu erwähnen, ganz zu schweigen von der misslungenen Blumenaktion.

„So, also einen Rat möchtest du!“, unterbrach Hubert im Stile eines angehenden Eheanbahnungsinstitutsbesitzers endlich die Stille, die nach Didis aufgeregter Rede eingetreten war. „Was ist dir denn der Rat wert?“

Unsicher sah Didi in Huberts Augen, der dem Blick standhielt.

„Möchtest du Geld, Hubert?“

Hubert legte die rechte Innenhand an sein ausladendes Kinn und strich darüber.

„Ja, gute Idee, oder warte. Du hast doch einen neuen Füller, von Pelikan. Hab ich doch bei der Englisch-Arbeit gesehen. Das neueste Modell. Der M150 mit vergoldeter Edelstahlfeder. Mit Tintensichtfenster. Da kenn ich mich aus. Also, ich will dich ja nicht ausnehmen, mit Geld und so. Aber der Füller, der wär nicht schlecht. Hast ja sicher noch den alten!“

Ja, schoss es Didi durch den Kopf, den alten hatte er noch. Aber der kleckerte manchmal und der neue, das war sein Geburtstagsgeschenk. Hatte ihm die Mutter direkt bei Pelikan besorgt, wo ihr Cousin in der Chefetage arbeitete. Sonderpreis und so. Den sollte er abgeben? Aber viel stand auf dem Spiel, alles! Wenn Hubert ihm dafür den todsicheren Tipp gab! Für Ulrike war nichts in der Welt kostbar genug!

„Okay, kannste haben. Dann sag mal an!“

„Erst mal den Füller!“, gab Hubert die Bedingung vor. Bei ihm galt, wie bei Partnerschaftsagenturen, Vorauskasse ohne Anspruch auf Rückzahlung bei Misserfolg.

Nervös kramte Didi den Füller aus seinem Mäppchen hervor und reichte ihn Hubert, der ihn eilig einsteckte. Didis Hände zitterten.

„Na gut, also das läuft so mit den Frauen.“

Hubert holte zu einem umständlichen Exkurs aus, deutete manch gelungene Eroberung an und gab sich wie ein Gunter Sachs oder ein Julio Iglesias auf dem Zenit ihrer Verführungskunst. Ein Charmeur vor dem Herrn, und das mit fünfzehn Jahren. Das jedenfalls legte der gockelhafte Blick in die Ferne nahe, mit denen er die Namen seiner Eroberungen erinnerungstrunken preisgab: Sabine, Linda, Conny, Andrea, jeden Namen mit einem Seufzer versehen, ach, war das schön mit ihr. Die Methode, die er schließlich Didi benannte, um ein Mädchen zu erobern, reichte allerdings nicht an Casanova und seine modernen Nachfahren heran. Nein, sie erwies sich als ausgesprochen schlicht, um nicht zu sagen: primitiv.

 

„Wo triffst du deinen Schwarm immer?“

„Treffen ist zu viel gesagt“, gab Didi kleinlaut zu, „ich sehe sie halt immer am Bus. Morgens, vor der Schule, und auch am Nachmittag.“

„Ha, stellst ihr wohl nach? Aber egal. Sie geht allein zur Schule? Keine Freundinnen? Und du hast ein Mofa?“

Didi nickte.

„Dann geht das so. Du fährst nicht mit dem Bus in die Schule, sondern mit dem Mofa. Wenn sie den Bus verlässt und zur Schule läuft, fährst du wie zufällig mit dem Mofa seitlich an sie heran.“

Hubert stand auf. Didi sah ihn entsetzt an. Sollte das alles gewesen sein?

„Und dann, was mache ich dann?“, fragte er panisch den Casanova.

„Na, dann ist doch klar, was du machst. Du gehst zum Totalangriff über. Fragst sie: Eh, hallo, willst du mit mir gehen?“

„Wie, so direkt?“

„Na, was denkst du denn! Wer nichts wagt, der gewinnt nicht. Glaub mir, die meisten Weiber sind froh, wenn sie einen abkriegen. Sogar …“, jetzt zögerte er etwas, „sogar einen wie dich.“

„Aber, ich mein, das …“ Didi stammelte nur noch, während Hubert sich entfernte. Der neue Füller war weg. Er hatte keine Ahnung, wie er das seiner Mutter erklären sollte. Und wenn der Vater das erfuhr, setzte es was. Im Hinblick auf Ulrike war er kaum einen Schritt weiter. Sie einfach so anzumachen, mit so einem blöden, frontalen Satz! Darauf wäre er auch von alleine gekommen. Das traute er sich nie! Andererseits: Nichts ging voran. Seit Wochen war er liebeskrank, hatte abgenommen, obwohl sowieso nicht viel an ihm dran war. Kein Appetit, kein Schlaf, in der Schule nur noch schlechte Noten und bei Ulrike kein Millimeter Bewegung nach vorne, nur solche bescheuerten Blumenaktionen mit Totalrückschlägen. Und Hubert war nun mal vom Fach. Ein Flirtprofi. Er musste es wissen.

So wartete er mit springendem Herzen und laufendem Mofamotor etwa dreißig Meter von der Haltestelle entfernt. Ulrike stieg pünktlich aus. Ihre langen, kastanienbraunen Haare wehten im Wind. Langsam fuhr er an. Noch zwanzig Meter. Noch fünfzehn. Ob sie nicht vom plötzlichen Motorengeräusch erschreckt? Das wäre der Supergau. Nein, er schaltete den Motor aus. Sanft rollte er heran, um dann mit leiser Stimme die Frage der Fragen zu stellen. Russisches Roulette. Es gab keine Alternative. Noch zehn Meter. Fünf. Das Mofa glitt lautlos heran. Schon wehten einzelne Haare fast in sein Gesicht. Jetzt, die Wangenknochen, die Augen von der Seite, hatte sie Kontaktlinsen?

„Willst du …“

„Huaaaachhh, Hiiilfeee, uuuaaaaaaah!!!!“

Sie zuckte mit dem ganzen Körper zusammen, drückte sich mit beiden Händen an die Brust, ja ging sogar kurz in die Knie und drohte auf den Asphalt des Fußweges zu stürzen. Mit einem Flackern in den Augen sah sie ihn kurz an. Dann begann sie zu rennen, wie um ihr Leben. Immer schneller, schulwärts. Nichts wie weg von diesem gespenstischen Kerl, der sie da so irrsinnig erschreckt hatte.

Didi schlug mit beiden Fäusten auf das Lenkrad seines Mofas ein, schrie mit undefinierbaren Lauten sein ganzes Elend heraus, nicht ahnend, dass Ulrike, an der Schule angekommen, einen Blick zurückgeworfen hatte und ihn nun so sah. Ein irre zuckender und wild brüllender Junge, der, so vermutete sie, dringend einer psychischen Behandlung bedurfte.

Mit dieser Einschätzung lag sie nicht ganz verkehrt. Didis Noten in der Schule verschlechterten sich nochmals. Am Ende des Schuljahres erfuhren Christel und Erich Dollmann vom Klassenlehrer Weschke, Didis Noten reichten nicht für die Versetzung in die nächste Klasse.

„Wissen Sie denn, was er hat, Frau und Herr Dollmann? Er ist immer so unkonzentriert. Wenn ich nur wüsste, wo er mit seinen Gedanken spazieren geht?“

Mit siebzehn hatte Didi seine erste Freundin, Lisa, die sich ins Kino, in die Eisdiele einladen ließ. Sie war ein Jahr jünger und durfte noch nicht in die Disco. So sagte sie. Strenge Eltern und so. Bei einem Discobesuch auf eigene Faust entdeckte er sie und wusste, warum sie ihn nicht dabeihaben wollte. Sie knutschte mit dem Discjockey wild hinter der Musikanlage. Danach kam Babsi, 18 Jahre, mit großer Brille, vielen Pickeln und ziemlich korpulent. Sie war das Mauerblümchen der Schule. Zum ersten Mal schlief er mit einer Frau oder, besser gesagt, er versuchte es. Aber er war zu nervös, das mit dem Kondom gestaltete sich schwierig, und so blieb ihm nur Petting, die libidinöse Magerkost der Generation Mofa.

Sein Außenseiterdasein in der Schule, seine Misserfolge in der Liebe, die fehlende Nestwärme im Elternhaus, sie stürzten ihn in depressive Phasen. Nach dem mühselig erworbenen Abitur streifte er stundenlang über die Felder um Bruchköbel und um den Schmelz-Weiher, oft mit der Gitarre unter dem Arm. Er improvisierte, dachte über die Zukunft nach. Langsam wandelte sich der Frust in Trotz. Ja, wartet nur ab, ihr alle, die ihr mich so demütigt! Euch allen werde ich es noch zeigen! Jedem von euch! Wartet nur ab!

VI

Wolle hatte sich zum Termin beim Kapitän umgezogen. Die neue Wäsche war trocken, aber genauso knapp wie die, mit der er auf dem Pooldeck seinen Einstand gegeben hatte. Komisch, dachte er sich, niemand hat mir bisher etwas vom Kapitän erzählt. Selbst sein überaus gesprächiger Kabinennachbar nicht, Rauschi aus Berlin. Ihn hatte er unfreiwillig bei der Suhler Arbeitsagentur kennengelernt. Er hatte als Kameraassistent fürs Bordfernsehen angeheuert.

Der Chief Engineer, ein Klaus-Peter Schulz mit strengem Blick und mehreren Abzeichen auf den weißen Schultern, die ihn als hohes Tier in der NOFRETETE-Hierarchie auswiesen, nahm Wolle vor der Brücke in Empfang. Von oben bis unten musterte er den neuen Mitarbeiter der NOFRETETE. Sein Blick blieb an den hervorquellenden Bauchrollen und am Sieben-Tage-Bart hängen.

„Also weeste, so wollen Sie Kapitän Lars Aicher entgegentreten? Wohl keinen Rasierapparat dabei? Und klamottenmäßig ist das ja wohl auch der Hammer!“

„Ja aber, ich muss doch Dienstkleidung hier tragen, und da gibt es keine Übergrößen“, versuchte Wolle einen Protest.

„Wie wäre es mit FdH? So viel wiegt nicht mal annähernd einer hier in der Crew. Und außerdem: Widersprochen wird hier nicht. Kapiert?“

Wolle zog die Unterlippe schmollend nach oben. So einen unfreundlichen Ton hatte er nicht erwartet. Nur im Unterbewusstsein hatte er den Namen des Kapitäns registriert: Lars Aicher. „Mann, das kann doch nicht wahr sein“, flüsterte er jetzt zu sich selbst, während der Chief Engineer mit Fingerscanner den Hochsicherheitstrakt namens Brücke öffnete. Er stellte ihn dem nautischen Wachoffizier, Guido Hansen, vor, einem stillen Herrn um die fünfzig, der mit seinen Spitzohren und seinem Habitus als Herr der Hebel und Knöpfe verblüffend an Mister Spock von Star Trek erinnerte. Wolle wartete neben dem Pult voller Geschwindigkeits- und Steuerhebel und blickte gebannt auf Monitor und See. Wenige Sekunden später trat Lars Aicher aus einem rückwärtigen Raum hervor und Wolle schaute betreten auf den Boden.

„Wolle, Wolle, so, so! So treffen wir uns also wieder, du merkwürdiger Geselle!“ Der Kapitän machte auch vor seinen Mitarbeitern keinen Hehl daraus, Wolle persönlich zu kennen. Sogar sehr gut. Sie schüttelten sich kurz die Hand, dann bat Lars Aicher Wolle in einen Nebenraum und überließ das Kommando seinem Stellvertreter.

„Was trinken?“

Wolle brachte keinen Laut hervor.

„Mensch, Wolle, warum so stumm?“, brach Lars Aicher das Schweigen. „Hast du denn ein schlechtes Gewissen, weil du meine Mutter so schmählich im Stich gelassen hast? Ich mein, der Unfall, dafür kannst du ja nichts. Auch die Luther-Nummer kann man medizinisch noch halbwegs nachvollziehen. Aber als du dann aus der Klinik entlassen wurdest, wieso bist du da nicht zurückgekommen zu meiner Mutter? Zum Campingplatz? Wenn dir schon die Blaue Bucht nichts bedeutet hat, wieso dann aber auch die Rosemarie nicht? Sie hat dir doch ein Zuhause geschenkt, oder etwa nicht?“

Jede dieser Fragen traf Wolle mitten ins Herz.

„Ich war wirklich der Meinung, Martin Luther zu sein. Auch noch, als ich aus der Klinik entlassen wurde!“

Lars hatte sich erhoben und schenkte sich einen Kaffee ein, rührte die Milch um und sprach hinter Wolles Rücken: „Aber jetzt, jetzt glaubst du das doch wohl nicht mehr!“

„Nein, ich weiß, dass sich da einiges bei mir vermischt hatte. Auch mein früheres und nicht abgeschlossenes Theologiestudium ist da hervorgebrochen. Sonst wäre ich doch als Martin Luther nicht so glaubhaft gewesen. Sogar die evangelische Krankenhausseelsorgerin und ihr katholischer Kollege waren verunsichert und meinten, ich könnte wirklich Martin Luther sein, wenn es nicht so absurd wäre. Aber ich habe sie an den Mann aus Nazareth erinnert, der auf dem See ging und …“

„Ist ja gut, Wolle, reg dich nicht so auf. Ich habe ja auch das Buch über dein Leben gelesen. Dieses, wie heißt es noch mal?“

Lutherleben.

„Richtig, danke. Aber als deine Reise zu Ende war, als der Böhmische Kelch gefunden war, da hättest du doch zu meiner Mutter zurückkehren können. Stattdessen heuerst du hier an und machst dich zur Lachnummer.“

„Zur Lachnummer?“

„Ja, wir haben dich vorhin beobachtet!“ Lars Aicher wies mit dem Finger auf eine Ansammlung von Bildschirmen neben dem Pult des nautischen Wachoffiziers, von denen aus alle öffentlichen Außenbereiche des Schiffs zu sehen waren.

„Oh Gott!“, stieß Wolle aufrichtig beschämt hervor.

„Sag, warum bist du nicht zurückgekehrt?“

Wolle schluckte.

„Also, dafür gibt es zwei Gründe. Erstens war ich einmal am Campingplatz. Da habe ich deine Mutter gesehen, ziemlich abgekämpft. Ihr gegenüber saß so ein alter Knacker, der hat seine Hand auf ihren Arm gelegt und so. Da habe ich mir gedacht, sie hat einen Neuen.“

Damit schwindelte Wolle ein wenig, denn er war zum Campingplatz gefahren und hatte die Szene beobachtet, nachdem er zuvor in Suhl für die NOFRETETE unterschrieben hatte. Also war das Motiv reine Neugierde und nicht der Wunsch, wieder ein Leben mit Lars’ Mutter auf dem Campingplatz zu führen.

„Ja, Wolle, das war wahrscheinlich Herbie vom Country-Club. Der ist öfter bei ihr. Und der zweite Grund?“

Der zweite Grund war in der Tat der eigentliche, der die Entscheidung zu Gunsten der NOFRETETE gebracht hatte.

„Also meine Luther-Reise hat mir gezeigt, dass ich einen Auftrag habe. Ich will und muss die Gedanken Luthers in unsere Zeit transformieren. Ich bin fest überzeugt, jeder Mensch braucht die Beziehung zu einer höheren Macht. Nur taugen die Kirchen in ihrer jetzigen Form nicht dazu. Die sind doch wie Relikte aus der Kreuzfahrerzeit. Die haben doch …“

„Tsch, Tsch, Tschschsch“, unterbrach ihn der Kapitän und legte den Zeigefinger auf die geschlossenen Lippen.

„Um eins mal klarzustellen: Wir sind hier ein Schiff, auf dem die Leute in erster Linie Spaß und gute Laune suchen. Fun, Flirt, gutes Essen und Trinken, auch Sex, wenn es sich ergibt, dazu kulturelle Entdeckungen bei den Landgängen. Von dem ganzen Kirchenzeug und Gott und was weiß ich will hier keiner, verstehst du, keiner etwas hören. Mag sein, dass das auf anderen Kreuzfahrtschiffen möglich ist. Manche haben sogar Schiffsseelsorger und Bordkapellen und so was. Aber auf der NOFRETETE nicht. HIER NICHT! Verstehst du mich?“

Die letzten Worte hatte Lars mit drohendem Unterton gesprochen. Besser, wenn ich nichts mehr dazu sage, dachte sich Wolle, fühlte sich in seiner Aufgabe aber noch mehr bestärkt als je zuvor. Lars hatte genau die Punkte benannt, an denen er, Wolle, glaubte, die Beziehung zur höheren Macht neu herstellen zu können: Spaß, gute Laune, Fun, Flirt, gutes Essen, Trinken, Sex, kulturelle Entdeckungen. Lars hatte Recht. Die Kirche von heute war eine Spaßbremse. Aber die Vorsicht gebot ihm, zumindest für heute das Thema ruhen zu lassen. Zumal Lars keine kirchlich geprägte Kindheit in der ehemaligen DDR hatte, wie er von seiner Mutter Rosemarie wusste.

 

„Lars, du verstehst mich vielleicht irgendwann einmal. Aber darf ich dich um etwas bitten? – Das mit dem Animationsassistenten ist vielleicht nicht mein Ding. Könntest du mir nicht eine andere Stelle an Bord beschaffen?“

„Warum sollte ich das tun? Dafür, dass du meine Mutter im Stich gelassen hast?“

Wolle sah gequält aus. Lars hatte irgendwie Recht. Sie schwiegen eine Weile, und Lars schlurfte seinen Kaffee leer.

„Also gut“, erlöste er Wolle nach einer Weile, „ich bin zwar auch als Kapitän nicht allmächtig und nur bedingt in Personalangelegenheiten eingebunden, zumal nicht auf deiner Stufe. Aber ich will sehen, was sich machen lässt. Hast du denn eine Aufgabe im Visier, die dir besser liegt als die Animation?“

Wolle zögerte mit Absicht einen Augenblick, dann sagte er, und es sollte beiläufig klingen: „Im Conference Center vielleicht?“

Kaum hatte er den Raum verlassen, rief Lars Aicher den Leiter der Suhler Arbeitsagentur an. Ob denn jetzt wirklich jeder, der sonst nicht zu vermitteln war, für die NOFRETETE empfohlen werde. Er habe da gerade so einen Fall, Wolle Luther. Das sei ja unglaublich, dass man den nicht an seinen letzten Wohnort vermittle. Dort suche man auf einem Campingplatz händeringend einen Hausmeister. „Moment, Moment“, beeilte sich die Stimme aus Suhl, „da ist unser Sachbearbeiter Heinz Schmidt zuständig, der bekommt von mir höchstpersönlich einen Riesen-Stress. Können Sie sich drauf verlassen, Herr Kapitän, versprochen!“

Was Rosemarie ihrem Sohn vorenthalten hatte, waren die Weibergeschichten Wolles. Kein Rock, keine Leggins auf dem Campingplatz Blaue Bucht war vor dem Hausmeister sicher. Das war Rosemarie peinlich und sie sprach mit niemanden darüber. Aber darin lag der Grund, warum sie Wolle gar nicht mehr als Lebensgefährten wollte, nicht mal geschenkt. Lars kämpfte an verlorener Front. Aus guten Motiven, aber völlig sinnlos.

Irgendwie fühlte sich Wolle nach dem Gespräch erleichtert. Nun hatte er wenigstens Rosemaries Sohn seine Motive erläutert, warum die Blaue Bucht und die Pächterin des Campingplatzes für ihn keine Option mehr waren. Ballast hatte er von seiner Seele abgeworfen. Manchmal genügt es, wenn man das Belastende jemand anderem gegenüber einfach nur ausspricht, sagte er sich. Vergnügt ging er den Gang entlang in Richtung Theater, das sich mitten im Schiff über mehrere Decks verteilte und gigantische Ausmaße hatte. Von allen Seiten war es begehbar, sämtliche Gänge der Decks acht bis dreizehn mündeten auf die Ränge oder die Bühne.

Die beiden Neuankömmlinge Wolle und Rauschi lehnten sich an die Balustrade von Deck zehn, von wo aus sie einen guten Überblick über das Kommen und Gehen der Gäste und auch einen Einblick in die verschiedenen Restaurants hatten. Erst um 20.00 Uhr hatten sie ihren nächsten Einsatz. Rauschis Aufgabe war es, das Kabel des Kameramanns beim Filmen der Abendshow fürs Bordfernsehen zu tragen. Wolle musste die Kleider für Bühnenstars bereithalten, die Famoust heroes anboten, eine Art Potpourri-Musical mit berühmten Figuren der Geschichte von Caligula über Dracula zum Schneider von Ulm.

Rauschi hatte in der Zwischenzeit als Kameraassistent die Lage sondiert, bei zahlreichen Interviews fürs Bordfernsehen mitgehört und konnte Wolle umfangreich in die Gästegruppen und ihre Besonderheiten einführen. Neben dem tonnengleichen Wolle, dessen Graubart sich im Übergang vom Stoppeldasein zum Gesichtsfell befand, sah der kleine Rauschi mit seinem großen Pickel auf der Nase, dem ausgedünnten Haar und dem Ziegenbart wie ein durchgebrannter Gartenzwerg aus. Nicht wenige Passanten hielten die beiden für Don Quichote und Sancho Panza oder Dick und Doof, die bei Famoust heroes einen glorreichen Auftritt hinlegen würden.

Wolle jedenfalls hörte aufmerksam zu, als Rauschi ihm die zum Abendessen defilierenden Gäste beschrieb. Noch bevor um 18.00 Uhr die schweren Tore des Behappy-Restaurants öffneten, stand Familie Becker aus dem Saarland unruhig davor. Vater Becker hatte lässig den gelben Pullover über die Schulter geworfen und die Hände verschränkt, also die typische Vati-Erscheinung, wie man sie sonst an lauen Sommerabenden in den Fußgängerzonen deutscher Touristenorte oder an Samstagnachmittagen in den Gängen von Ikea antrifft. Mutti Becker zog im Spiegel neben dem Lift den Lippenstift nach und wirkte mit ihrem trägerlosen Kleid im Pepitamuster und ihrem khakifarbenen und mit Blumen verzierten Sonnenhut reichlich überkandidelt. Gerade so, als wolle sie zum Sommerfest des Bundespräsidenten, allerdings zu dem von Theodor Heuss. Kaum hatten sie das Behappy-Restaurant betreten, stürzten sich die halbwüchsigen Söhne Ben, Boris und Bodo auf die Buffets, kommandierten die Philippiner herum und gaben ständig fast volle Teller zum Abräumen frei. Allein mit dem, was sie wegwarfen, hätte sich eine Familie am Horn von Afrika einen Monat ernährt, wohlgemerkt eine Familie somalischen Ausmaßes, also mit reichlich einem halben Dutzend Kindern. Nichts aber lag Vater Becker ferner als solche Gedanken. Er sah nicht nur seinen Kindern mit Freude bei ihrem rotzigen Verhalten zu. Nein, er selbst blieb bis zum Ende der Restaurantzeit um 21.00 Uhr sitzen, um den im Buchungspaket enthaltenen Hauswein in mehreren Karaffen in sich hineinzuschütten. „Mir han jo schließlich bezahld devor“, stieß er hervor und seine Frau nickte verständnisvoll. Immerhin waren das die Augenblicke, wo er sie seit Jahren erstmals wieder öffentlich berührte, ihr ungelenk den Arm um die Schulter legte, wie sonst den Kollegen vom Obstbauverein beim Schnapsbrennen, und ihr ins Ohr lallte: „Bisch schon in Ordnung, mei Guudi!“

Am Tisch daneben saß Jupp Schmitz aus Köln mit seiner sommersprossigen Tochter Julia. Im Unterschied zu den Beckers sah man dem Ess- und Konsumverhalten von Vater und Tochter das Primatentum deutlicher an. Vater Schmitz, dürr und dünnhaarig, von Beruf Studiendirektor am Heinrich-Böll-Gymnasium, erinnerte mit seinem breiten Mund und der alles dominierenden Nase an einen australischen Emu, zumal er wie dieser und aus gleichen Motiven den Blick wild umherschweifen ließ. Kein Zweifel, er war auf Brautschau. Die erste Ehe war vor fünf Jahren in die Brüche gegangen und im Reisebüro hatte man ihm gesagt: „Vesuuuchen se es doch mal auf de NOFRETETE. Da hat schon so manches Töppche sin Deckelche jefunde.“

Ob Helga Haseneier, gesprochen Hase-neier, Philomena von Pfuel oder Roswitha Knarz zum Deckel taugten, war eher zweifelhaft. Sie waren im Status der Witwe und einem Flirt nicht abgeneigt, ja insgeheim hofften sie auf eine Wende des Lebens. Sie träumten davon, noch einmal einen verständnisvollen Partner zu finden, warum nicht auch einen emugleichen, sicher tierliebenden (sie hatten alle einen Pudel und sich beim Gassigehen am Offenbacher Mainbogen kennengelernt)! Aber sie waren mindestens eine Dekade älter als der Herr Studiendirektor. Da müsste schon ein Wunder geschehen. Aber dazu war man ja auf diesem Traum von einem Schiff! Wenn nicht hier, wo dann! So gingen sie auffallend oft zum Buffet, wenn sich Jupp Schmitz Nachschub holte. Nur Julia irritierte sie einmal mit dem laut ausgesprochenen Satz: „Papa, wat schauen denn die Omas dich so an? Kennste die?“ „Hach, die süße Göre!“, versuchte Roswitha Knarz die peinliche Situation zu retten. Jupp Schmitz sah sie an, nein, er sah haarscharf an ihr vorbei zur Salatbar, wo Gesine Harms Oliven auf ihre Konsistenz untersuchte. Sie, nicht die Witwen, erregte seine Aufmerksamkeit. So wogte das Topf-und-Deckel-Spiel auch an vielen anderen Tischen hin und her. Die NOFRETETE, das schwimmende Hotel der einsamen Herzen. Ja, es war ein Kreuz mit dem Zusammensein von Mann und Frau, und der Begriff der Kreuzfahrt füllte sich für die Liebe suchenden Reisenden auf eine für sie ganz eigene Weise.

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