Lutherleben

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III

Sabine Harder legte den Bleistift zur Seite und zerriss das kaum beschriebene DIN-A4-Blatt. Zu dem Brief an die Kolosser, wie er in der Bibel stand und über den sie am Sonntag predigen sollte, fand sie keinen richtigen Zugang. So viele moralische Aufforderungen, wer wollte das noch hören! Eigentlich hatte sie sich das mit dem Predigen als Klinikseelsorgerin anders vorgestellt. Mit ihrer 50%-Stelle beabsichtigte sie den Schwerpunkt auf die Gespräche mit den Kranken zu legen. In der Woche hielt sie die Vormittage dafür frei. Dazu kamen die Notfälle, die sie jeder Zeit ereilen konnten. In die sonntäglichen Gottesdienste kamen stets neue Patienten. Ein Dutzend Predigten mit speziellem Bezug zu der Sorgenwelt von Kranken bereitete sie vor, die sie dann nacheinander hielt. Alle drei Monate begann sie den Predigtzyklus von vorne, mit einigen Aktualisierungen, wie sie die Weltgeschichte oder der Klinikalltag nahelegten. Die Predigt jedenfalls sollte nicht mehr wie zuvor im Stadtpfarramt die Arbeitszeit übermäßig beanspruchen. Schließlich hatte sie zwei kleine Kinder und einen Mann, der als Pharmavertreter viel unterwegs war. Alles das hatte sie bei ihrer Bewerbung bedacht, doch dann kamen sie: Frau Adlung und Frau Beer, zwei ältere, distinguierte Damen mit Konzertabo im Stadttheater und edlem Geschmeide an Hals und Arm. Sie wohnten nicht weit weg vom Klinikgelände. An einem eisigen Wintersonntag erschien es ihnen zu gefährlich, die abschüssige Straße in die Stadt und zur Friedenskirche zu laufen. Sie entschieden sich für den Gottesdienst in der Reha-Klinik. Es sollte eine Ausnahme sein. Ein Mal. Dieses eine Mal fanden sie aber viel bequemer. Auch predigte die Pfarrerin schön. Außerdem war ihnen als treuen Leserinnen der „Apotheken-Umschau“ und von eigenen Zipperlein her das Thema Krankheit ohnehin vertraut. Kurzum, sie entschieden sich, in Zukunft jeden Sonntag in die Reha-Klinik zum Gottesdienst zu gehen. So war es nichts mit dem einen Dutzend Predigten für Sabine Harder. Denn was gab es Schlimmeres, als wenn die Damen irgendwann erzählten, die Frau Pfarrerin predige immer das Gleiche. Ein Ehrgefühl stieg in ihr hoch. Nein, dieser Schmach wollte sie sich nicht aussetzen. So saß sie an einem Samstagnachmittag in ihrem schönen Dienstzimmer mit Blick in den Kurpark, die Birken schwankten im Wind und die Kohlmeisen zirpten im Psalmgarten. Den hatte die Klinik auf ihr Betreiben hin angelegt, finanziert von der Pharmafirma ihres Mannes. An diesem Nachmittag war er mit den Kindern in den Zoo gefahren, um ihr den Rücken freizuhalten. Nur dass ihr zu der Stelle aus dem Brief an die Kolosser partout nichts einfallen wollte.

War da nicht Musik zu hören? Draußen im Park. Das konnte sie jetzt gar nicht vertragen: Ablenkungen. Sie erhob sich, um das Fenster zu schließen. Schon hatte sie den Fenstergriff umgedreht, schon war sie einen Schritt zum Schreibtisch zurückgegangen, da drehte sie den Kopf langsam wieder in Richtung des Fensters und stutzte. Sie sah jetzt konzentriert nach draußen. Da saß ein schwerer Mann mit grauem Bart im dunkelblauen Bademantel, den Kopf über ein Akkordeon gebeugt, auf einer der neuen Parkbänke mitten im Psalmgarten. Genau dort, wo hohe Weidenruten, in ihrer Krone zusammengeflochten, eine Art Schlucht bildeten. Sie illustrierten den Vers aus dem 23. Psalm: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal. Sie hatte den Mann noch nie gesehen. Irgendwie eine unwirkliche Szene, wunderte sie sich. Der Eindruck verstärkte sich, nachdem sie das Fenster leise wieder geöffnet hatte. Der Mann spielte nur mit der rechten Hand auf dem Akkordeon. Sie nahm eine einstimmige Melodie wahr, die etwas unbeholfen klang, wie von einem Anfänger in der Musikschule. Unablässig wiederholte der Graubärtige die Melodie, ausdruckslos, mantramäßig. Es dauerte, dann dämmerte ihr, was sie wirklich irritierte. Die Melodie war von Martin Luther. Keine Frage, der Mann spielte Ein feste Burg ist unser Gott. Jetzt sah sie, wie er die Lippen bewegte. Ja, er schien auch den Text zu brummen. Schon wollte sie in den Psalmgarten, um den Sonderling anzusprechen, da fielen ihr die Damen Adlung und Beer ein. Morgen kamen sie wieder, mit Perlenketten behangen saßen sie dann in der zweiten Reihe links erwartungsvoll vor ihr. Morgen, am Sonntag, der den Kirchennamen Kantate trug. Kantate! Singt! Darum ging es doch in diesem Brief an die Kolosser auch: … mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott! Der Mann im Park tat genau das: Ein Lied spielen und singen, das Gott als feste Burg gegen die Feinde pries. Die Klinik war auch so eine Burg. Die Feinde der Patienten waren die Krankheiten. Gott wollte mit den Menschen sein, die sich vor den Feinden fürchten. Dafür ist er zu loben mit Liedern … Jetzt hatte sie einen Zugang zum Thema des Sonntags. Kurz überlegte sie, den sonderbaren Mann mit seinem Lutherlied als Einstieg zu nehmen, entschied sich aber dagegen. Gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass der Mann entweder morgen in den Gottesdienst kam oder die Übertragung ins Zimmer einschaltete! Es wäre ihm dann peinlich, sich auf diese Weise erwähnt zu finden. Auch ist die seelsorgerische Gesprächssituation belastet, wenn er sich auf diese Weise kompromittiert sieht. Nein, das würde sie nicht tun. Aber der Mann muss doch auf meiner Liste sein, sagte sie sich, nachdem sie die Predigt in einem Zuge niedergeschrieben hatte. Sie blätterte die Computerausdrucke durch. Die Klinikverwaltung hatte gestern und heute keinen männlichen Neuankömmling gemeldet, der das Kästchen „Besuch der Klinikseelsorgerin erbeten“ angekreuzt hatte. Noch einmal sah sie aus dem Fenster. Der Mann im Bademantel hatte sein Akkordeon eingepackt und trug den Koffer jetzt in Richtung der neurologischen Abteilung. Sabine Harder zweifelte, ob sie ihn wirklich nicht kannte. Er war ja eine imposante Erscheinung! Sie besuchte nicht nur die, die ausdrücklich den Besuchswunsch angekreuzt hatten, sondern auch die, die als evangelisch gemeldet waren. Dieser Mann war nicht darunter. Entweder gehörte er keiner Kirche an oder er hatte die Mitgliedschaft aus irgendeinem Grund nicht mitgeteilt oder er war katholisch. Drei Motive, die sich alle nicht mit seinem öffentlichen Auftritt im Park vertrugen. Das hatte eine besondere Bewandtnis, wenn jemand es wagt, ein uraltes Kirchenlied in einem Klinikpark zu spielen. Hatte ihn der Psalmgarten inspiriert?

Der Mann tauchte am nächsten Tag nicht im Gottesdienst auf. Frau Adlung und Frau Beer lauschten andächtig den Worten Sabine Harders und sangen das Lied nach der Predigt demonstrativ ohne Gesangbuch mit: Ein feste Burg ist unser Gott, solch ein Lied hatte man in ihrer Generation im Konfirmationsunterricht noch auswendig gelernt! Nachdem die Pfarrerin die kärgliche Kollekte gezählt und das Sakristeibuch ausgefüllt hatte, ging sie zur neurologischen Abteilung. Sie wollte den wunderlichen Mann sprechen. Die Flure waren in Pastelltönen gestrichen. In den Aufenthaltsräumen fand sie ihn nicht. Sie beschrieb den Schwestern den Musikanten im Bademantel. Schulterzucken, ungläubiges Staunen auf den ersten Stationen. War sie einem Phantom aufgesessen? Sie stieg die Treppen zum vierten Stockwerk hoch und traf auf Schwester Petra. Sie kannten sich vom gemeinsamen Volleyballspiel des Klinikteams. Kurz trug sie ihr Anliegen vor. Die Schwester wusste gleich Bescheid und flüsterte ihr zu: „Wundere dich nicht über das, was du jetzt gleich siehst.“ Am Ende des Stationsflures lag der Aufenthaltsraum. Den beiden Frauen schlug das Trommeln und Klingen Orffscher Musikinstrumente entgegen, ein bizarres Klanggemisch mit einer darüber schwebenden Melodie.

„Unsere Musiktherapeutin leitet die Patienten an“, gab Petra zu verstehen und drückte sanft die Tür auf. An der Stirnseite des nüchternen Raumes stand ein Schrank offen. In seinen Regalen lagen abgenutzte Kartons mit Brett- und Kartenspielen. Auf einer Pinwand waren Ansichtskarten befestigt, die dankbare Patienten aus ihren Heimatorten gesandt hatten. Ungläubig starrte Sabine Harder auf das Szenario, das sich ihr in der Mitte des Raumes bot. Mit ausgezehrten Gesichtern saßen vier Männer auf wackligen Stühlen. Ihre Blicke waren auf die gepflegten Hände einer jungen Frau mit violettem Halstuch und kunstvoll geflochtenem Zopf gerichtet. Sie gab ihnen den Takt vor. Rhythmisch klopfte der Älteste des Quartetts auf eine Schellentrommel. Bei jedem Schlag vibrierte sein Knebelbart. Ein anderer mit Glatze und buschigen Augenbrauen schlug eine Triangel an. Der Jüngste mit zitronengelbem T-Shirt und mehreren Lippenpiercings versuchte etwas unbeholfen, mit Kastagnetten Schritt zu halten. Harders schweifender Blick blieb beim vierten Mann haften. Seine mächtige Statur, sein grauer Vollbart ließen ihr keinen Zweifel, auch wenn er jetzt den blauen Bademantel gegen ein weites Hemd aus weißer Baumwolle eingetauscht hatte. Es war der Mann, der sie am Vorabend bis in den Schlaf hinein beschäftigt hatte. Mit seinem Akkordeon gab er den drei anderen Musikanten die Melodie vor. Eine Melodie, über die sie vor einer halben Stunde gepredigt hatte: Ein feste Burg ist unser Gott. Leise drückte Schwester Petra die Tür wieder zu.

„Wer ist der Mann im weißen Hemd?“, flüsterte die Klinikseelsorgerin, obwohl niemand zu sehen war.

„Das ist Herr Trödler“, erklärte die Schwester, „er hatte einen Unfall mit Schädel-Hirn-Trauma. Bei uns ist er, um die posttraumatischen Störungen abzubauen. Er spielt den ganzen Tag Akkordeon. Immer dieses eine Lied. Du musst das doch kennen. Ist doch wohl ein Kirchenlied. Weißt du, wie ihn die anderen Patienten nennen?“

Sabine Harder sah ihre Volleyballfreundin fragend an.

„Die nennen ihn Martin Luther. Und was glaubst du, wie er reagiert?“

Wieder spannte die Krankenschwester Sabine Harder auf die Folter.

„Na, beim letzten Mal, als ihn einer so nannte“, erlöste Petra die Pfarrerin, „da haben einige gelacht und er ist wütend geworden. Aber nicht, weil sie ihn so nennen. Nein, im Gegenteil, er ärgerte sich, weil sie die Sache nicht ernst nahmen. Ich bin Martin Luther und weiß nicht, was es da so blöd zu lachen gibt. Ich habe ein bisschen Respekt verdient angesichts meiner Leistungen, hat er gesagt.“ Petra verkniff sich mit Mühe ein Lachen.

 

Die Pfarrerin blickte auf den Park. Es war Mittagszeit. Die Patienten strömten in Richtung Speisesaal. Was war das für eine Erkrankung, an der dieser Herr Trödler litt, fragte sie sich. Vor Kurzem hatte sie in einer Zeitschrift einen Artikel über multiple Persönlichkeitsstörungen gelesen. War es das, was diesen Mann plagte? Das Entstehen einer zweiten Person im Gehirn zur Bearbeitung einer traumatischen Erfahrung? Aber dieser Herr Trödler wirkte heute gar nicht geplagt, im Gegenteil. Sein Musizieren, sein ruhiger und konzentrierter Blick strahlten eine innere Harmonie aus, so als ob da jemand mit sich im Reinen wäre. Wenn Luther die eine Persönlichkeit war, in der er sich zu Hause fühlte und mit Hilfe derer er ein Trauma abbaute, vor welcher anderen Persönlichkeit wich er aus?

Sabine Harder sah auf die Uhr. Zu Hause wartete ihre Familie auf sie. Sie ging zu ihrem Fahrrad. Neben ihr öffnete jemand ein Fahrradschloss. Es war Gudrun Wiegand, die Musiktherapeutin. Die Übungsstunde war vorbei. Sie wechselten ein paar Sätze. Wolfgang Trödler war seit drei Tagen in der Musikgruppe.

„Das Spiel mit dem Akkordeon hilft“, erläuterte die Therapeutin, „scheinbar abgestorbenes Gedächtnis zu reaktivieren. Ich bin zu ihm ins Zimmer gegangen und habe ihm einen Katalog mit Musikinstrumenten gezeigt. Erst beim Akkordeon hat er reagiert. Ja, das wolle er spielen. Wenige Tage später hat ihm die Lebensgefährtin sein Akkordeon gebracht. Allerdings hat die bisherige Reha-Zeit zu einem auch für mich überraschenden Ergebnis geführt.“

Sie hatte das Schloss um die Sattelstange befestigt und schob das Fahrrad aus dem Ständer.

„Herr Trödler erinnert sich nicht an sein bisheriges Umfeld, an seine Lebensgefährtin, an den Campingplatz, auf dem er gearbeitet hat. Alles ist noch wie weggeblasen. Dafür hat er aber erstaunliche musikhistorische Kenntnisse, obwohl er von Beruf Hausmeister auf einem Campingplatz ist. Stellen Sie sich vor, morgen will er mit den anderen Patienten ein neues Lied einüben. Das Lied, so sagte er uns, hat den Titel Es ist gewißlich an der Zeit. Er sagt, er habe die Melodie in Anlehnung an das Dies irae, dies illa aus dem 12. Jahrhundert komponiert. Ich bin schon gespannt, wie das klingen wird.“

Dies irae? Dies illa? Eine SMS ihrer 12-jährigen Tochter Swantje fragte drängelnd, wann sie endlich nach Hause komme. Dennoch eilte sie noch einmal in die Klinikkapelle. Sie blätterte im Gesangbuch und stieß mit einem leisen Aufschrei auf das Lied mit der Nummer 149. Es ist gewißlich an der Zeit. Am Ende der Strophen las sie atemlos, wer wann die Melodie kreiert hatte: Martin Luther, 1529.

Sie radelte nach Hause. Am nächsten Morgen musste sie das Gespräch mit Wolfgang Trödler suchen. Besser gesagt, mit Martin Luther. Jetzt huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Dass ich das noch erleben darf, zitierte sie einen Satz, den sie sonst bei Diamantenen Hochzeiten oder hohen runden Geburtstagen hörte. Doch in die fast heitere Vorfreude mischte sich ein Gefühl von Unsicherheit. Musste sie diesem Herrn Trödler nicht reinen Wein einschenken? Genaugenommen hatte sie etwas Angst vor dem Gespräch. Verletzte sie ihn nicht, wenn sie ihm die Illusion seiner scheinbaren Identität nahm? Ich werde ihm Fragen zu Luther stellen, die er nicht beantworten kann, nahm sie sich vor. Ein psychischer Zusammenbruch ist nicht auszuschließen, wenn er die Wahrheit erkennt. Ihr war jedenfalls klar, was sie ihm verweigern musste: Ihn als Martin Luther anzuerkennen und mit ihm auf dieser Ebene zu kommunizieren. Dieser Herr Trödler durfte nicht in religiöse Wahnvorstellungen abgleiten. Immerhin hatte sie eine positive Möglichkeit, ihn aufzufangen: Sie konnte ihm Wege zeigen, in der heutigen Zeit an Gott zu glauben, gerade auch mit Hilfe von Luthers Lehre. Ja, morgen werde ich dem Spuk ein Ende bereiten. Sie trat entschlossen in die Pedale.

IV

„Ja, dann kommen Sie mal herein.“ Sabine Harder hatte sich in der Tür kurz vorgestellt. Sie hatte eine weichere Stimme erwartet. Wolfgang Trödler sah sie emotionslos an.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach aufsuche, Herr Trödler.“ Sie schloss die Tür hinter sich und näherte sich dem Krankenbett, auf dem eine rot-weiß gestreifte Überdecke lag. Auch die Vorhänge waren in kräftigen Farben. Man spürte das Bemühen, die Atmosphäre eines Krankenhauses zu vermeiden. Der Patient saß mit angewinkelten Knien auf dem Bett, dessen Rückenteil hochgestellt war. Vor sich hatte er ein Exemplar von Psychologie heute aufgeschlagen, das er jetzt auf den Nachtschrank legte. Stumm zeigte er auf einen Stuhl und blickte zum unterhalb der Decke montierten Fernsehgerät. Tonlos flimmerten Bilder von einem Wettbewerb im Springreiten.

„Sie scheinen ja nicht einer Kirche anzugehören und haben auch nicht angekreuzt, dass Sie meinen Besuch wünschen“, versuchte sie einen Gesprächseinstieg und nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Ihr Gegenüber blickte sie weiterhin völlig ohne Ausdruck an. Keinerlei Anstalten, auf die Bemerkung einzugehen. Nur die Lippen zuckten leicht nervös.

„Gut, Herr Trödler, ich möchte Sie gerne etwas fragen. Geht das?“ Keine Reaktion. Trödler starrte knapp an ihren Augen vorbei, vielleicht auf die Stirn, vielleicht darüber hinweg auf den Fernseher. Ein Pferd verweigerte gerade vor dem Doppel-Oxer.

„Herr Trödler, Sie spielen sehr schön Akkordeon“, nahm sie erneut Anlauf, „könnten Sie sich vorstellen, nächsten Sonntag im Gottesdienst hier in der Klinik ein oder zwei Lieder zu begleiten?“

Sabine Harder fixierte ihn mit ihren Blicken. Dieser Frage sollte er nicht ausweichen. Tatsächlich zeigte Trödler nach einigem Zögern eine Reaktion, allerdings eine, die sie überraschte. Das Zucken der Lippen wanderte in die Wangen hoch, dann lachte er laut in Staccato-Tönen, eine Tonleiter abwärts, immer wieder neu ansetzend. Sein Bauch hüpfte und lief Gefahr davonzuspringen, wenn er nicht die Hände über ihm wie einen Gürtel zusammengefaltet hielt. Nachdem das Lachen abgeebbt war, wechselte er blitzschnell in eine ernste Tonlage und sah sie streng an. Er schüttelte mehrfach den rechten Zeigefinger drohend hin und her und begann dann zu reden:

„Weiß Sie nicht, dass mein eigentliches Instrument die Laute ist? Doch was ist aus der Königin der Instrumente geworden? Wo bekommt man heute noch eine Laute her? Aber gut, das ist der Lauf der Dinge. Neue Zeiten, neue Instrumente. Akkordeon ist wunderbar. Aber im Gottesdienst, vor voller Kirche, tut mir leid, Schwester in Christus, ein absolut unerfüllbarer Wunsch. Sie möge verzeihen. Und eine Bitte: Ich bin kein Trödler. Nenn Sie mich bitte beim Namen. Bruder Martin oder Herre Doktor Luther, ich darf wohl bitten.“

Ihr Kopf schwirrte. Laute, das war doch in der Tat Luthers Lieblingsinstrument. Wie hatte er sie genannt? Schwester in Christus. Ein Pfarrerskollege nannte sie auch Schwester, heuchlerisch, wie sie fand. Er hatte sich auch um die Krankenhausstelle beworben. Sie aber hatte den Zuschlag bekommen. Dagegen hatte er eine Konkurrentenklage eingereicht, ohne Erfolg. Aber ihr hatte die Klage geschadet, stand doch viel in der Lokalpresse darüber. Die Kritiker der Kirche freuten sich diebisch und erzählten bei allen Gelegenheiten: Da seht ihr mal, wie es in der Kirche zugeht, in diesem verlogenen Laden, da kloppen sich sogar die Pfarrer um die Stellen und so weiter. Ausgerechnet dieser Kollege, der jetzt an der Friedenskirche in der Stadt Dienst tat, nannte sie Schwester Harder, scheinheilig, falsch …

„Die Laute war immer meine große Trösterin“, hörte sie jetzt den Patienten Trödler reden, „ich bin oft von dem geplagt, was hier in diesen Blättern ‚Depression‘ genannt wird. Es ist Satan, der sich schon früh in meiner Seele eingenistet hat. In meiner Kindheit war ich von diesen Bildern heimgesucht. Vom Satan, der als Tod seine Finger nach mir ausstreckt. In der Zeit meines Studierens im altehrwürdigen Erfurt wünschte ich mir manches Mal das Ende meines Lebens herbei. Was wäre aus mir geworden ohne Frau Musica, ohne meine Laute, die mich wegriss von Bildern entfleischter Gebeine, von frohlockend tanzenden Knochengerüsten, vom feurig einherfahrenden Satan, der seine Hand nach mir ausstreckte …“

Er hatte sich in Rage geredet. Die Klinikseelsorgerin blickte ihn unsicher an. Alle ihre Vorsätze, Trödler von seinen Wahnvorstellungen abzubringen, waren zum Scheitern verurteilt. Viel zu überzeugend wirkte er in seiner neuen Identität.

„Dass die Vögel der Sorge und des Kummers über deinem Haupt fliegen, kannst du nicht ändern“, rief sie halblaut in Trödlers Redefluss, „aber dass sie Nester in deinem Haar bauen, das kannst du verhindern.“

Wie würde er auf ein Luther-Zitat reagieren? Zwar wollte sie Trödler nach wie vor nicht in seiner Luther-Identität anerkennen, aber sie war ratlos. Langsam beschlich sie auch eine Faszination. Woher nur wusste dieser Campingplatzwart so viel über den Reformator?

Trödler hielt sich die Hand vor die Augen, als ob er sich konzentriere. Eine Schweißperle hatte sich auf seiner Stirn gebildet.

„Ja, gewiss, solche Bilder habe ich vor langer Zeit gezeichnet, weil ich meine finsteren Täler im Sinne des 23. Psalms nicht anderen zumuten wollte. Meines Amtes ist es doch, die Menschen aufzurichten. Und es stimmt ja. Die Depressionen ebben irgendwann auch wieder mal gewisslich ab, vor allem wenn man im ständigen Gebet bleibt und im Vertrauen auf die erlösende Kraft unseres Herrn Jesus Christus der Dinge harrt, die da kommen.“

„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück“, flüsterte die Seelsorgerin vor sich hin. Was der Patient erzählte, leuchtete ihr ein. War er wirklich ein normaler Patient? Sie entschied sich, aufs Ganze zu gehen.

„Halten Sie denn nach wie vor daran fest, das Entscheidende an Luthers Lehre sei die Rechtfertigungslehre?“

Sie sah den Mann auf dem Bett gespannt an.

„Luthers Lehre? Sie glaubt mir also nicht, dass ich dieser Luther bin!“ Für einen Augenblick zog Trödler den Mund schmollend zusammen. Doch dann fuhr er fort: „Ich weiß nicht, was Sie mit diesem schwierigen Wort meint: Rechtfertigungslehre. Wenn es bedeutet, das Entscheidende am Glauben sei es, Gott recht zu sein, vor ihm Gnade zu finden, dann stimme ich ihr zu. Doch ist es ihre Aufgabe als Schwester in Christus und Dienerin des Herrn, diese Botschaft in die Sprache unserer jetzigen Zeit zu übersetzen. Ich lese hier fliegende Blätter, die man jetzt zusammenheftet. ‚Das ist doch eine Zeitschrift, junger Mann‘, hat mir die dicke Frau in dem Käfig belehrend gesagt. Sie war wiederum ganz beleidigt, als ich vom Käfig sprach. ‚Das ist ein Kiosk, junger Mann‘, hat sie gemeint. Aber egal. Ich höre Nachrichten in diesem Ding hier, was die Schwester Radio nennt. Oder ich sehe Rätselsendungen im Gerät da oben, welches ihr Fernsehen nennt, alles wunderbare Erfindungen, um vielen Menschen an vielen Orten vom auferstandenen Herrn zu künden. Was ich geschrieben habe, ist in der Sprache der Menschen, die vor 500 Jahren gelebt haben. Heute verstehen das sicher viele nicht mehr. Das müssen die Jüngeren ändern, Leute wie Sie, Schwester in Christus! Wie alt ist Sie?“

Sabine Harder schluckte. Ihr Hals war trocken und sie hätte gerne etwas getrunken, wollte aber das Gespräch nicht unterbrechen.

„Achtundreißig“, antwortete sie und ging auf Trödlers Rede ein. „Ist es nur die Sprache? Oder sind es auch die Inhalte? Heute will doch kaum noch jemand einen gnädigen Gott, weil viele gar nicht mehr glauben, dass es einen Gott gibt!“

Trödler-Luther wog den Kopf in seiner Hand hin und her. Er sah auf den Fernseher, wo ein Pferd leichtfüßig über den Wassergraben sprang.

„Ja, Sie spricht ein wichtiges Thema an. Kann der Mensch ohne Gott leben? Sucht er sich nicht seine Götter, wenn er den einen Gott nicht glauben will? Ich bin sicher, jeder Mensch braucht Gott. Ersetzen wir mal das Wort Gott mit Geborgensein bei einer höheren Macht. Bei jemandem, der uns nicht so enttäuscht, wie es Menschen oft tun. Hier, in dieser Zeitschrift, ist überall die Rede von enttäuschten Menschen, enttäuscht vom Partner, von der Partnerin, von den Kindern, den Eltern, Freunden, Nachbarn. Da, lesen Sie Psychologie heute. Das Thema heißt: Enttäuschung als Chance. Ent-täuscht. Man hat uns eine Täuschung genommen. Das ist die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Ohne diese Täuschungen. Aber vorerst sind die Enttäuschten in ein Tief gestürzt. Wer holt sie da heraus? Auf wen ist in letzter Instanz Verlass?“

 

In diesem Augenblick ertönte eine leise Melodie aus dem Lautsprecher über der Tür.

„Oh, das Abendessen steht bereit. Ich muss gehen, sei Sie auf der Hut vor den Werken des Satans und halte Sie fest an dem, der Ihr das Leben geschenkt hat.“

Trödler-Luther sprang erstaunlich behände auf und schlurfte aus dem Zimmer. Sabine Harder war viel ratloser als vor dem Gespräch. Vor dem Stationszimmer freute sie sich, Schwester Petra anzutreffen. Sie bat sie um die Telefonnummer von Trödlers Lebensgefährtin. Irgendwo in seinem Leben gab es einen Luther-Bezug, der jetzt auf unerklärliche Weise hervorbrach. Diese Rosemarie Aicher musste ihr weiterhelfen. Vor allem wollte sie erfahren, ob Wolfgang Trödler vor dem Unfall öfter von Satan gesprochen hatte. Der Satan war in seiner neuen Identität sehr präsent, und vielleicht war er es auch in der alten gewesen. Sie brauchte einen Punkt in seinem früheren Leben, an dem sie ansetzen konnte. Sie war dabei, in ein fremdes Leben einzudringen. Ein Unterfangen, das ihr eigenes Leben völlig verändern sollte. Noch ahnte sie nichts davon.

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