Draußen war ein schöner Tag

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Z serii: Verlorene Jugend #2
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Draußen war ein schöner Tag
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Fee-Christine Aks

Draußen war ein schöner Tag

Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung und Vorbemerkung

Anstelle eines Prologs

Teil 1 Neuengamme

Teil 2 Reise nach Osten

Teil 3 Theresienstadt

Teil 4 Reise ins Ungewisse

Epilog

Anhang

Verlorene Jugend (Serie)

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Impressum neobooks

Widmung und Vorbemerkung

Draußen war ein schöner Tag

Ein Roman von Fee-Christine Aks

Copyright © 2012 Fee-Christine AKS

All rights reserved.

ISBN: 1480263281

ISBN-13: 978-1480263284

Für die Opfer der Shoah

Vorbemerkung

Diese Geschichte ist frei erfunden, spielt aber vor dem geschichtlichen Hintergrund des Dritten Reiches während des Zweiten Weltkrieges (August 1942 – Dezember 1943).

Abgesehen von den geschichtlich belegten Persönlichkeiten sind alle handelnden Personen Phantasiegestalten. Jegliche Ähnlichkeiten mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind zufällig und unbeabsichtigt.

Anstelle eines Prologs

Sie fahren schon die ganze Nacht. Den ganzen gestrigen Tag noch dazu. Immer nach Osten.

Die meiste Zeit hat Liza geschlafen und nur ganz verschwommenes, zusammenhangloses Zeug geträumt.

Wann werden sie ankommen? Wie wird es dort sein?

Wird man sie dort endlich in Ruhe leben lassen?

(Deutschland, im September 1942)

Teil 1 Neuengamme

Anfang August 1942.

„Dich gibt’s also immer noch? Hat dein Freund dich bis jetzt gut beschützt, was?“

Gunnar Berger lacht spöttisch. Kalle und Dieter packen jeder einen ihrer Arme, Detlef und Markus halten Axel fest.

„Weißt du, was wir mit Juden machen?“ zischt Gunnar sie an.

Sie schweigt.

Gunnar zückt sein Messer. Gefährlich blitzt die Klinge im Sonnenlicht auf.

„Scharf wie eine Rasierklinge“, sagt er stolz und fährt vorsichtig mit der Fingerspitze über die Schneide.

„Na? Schiss?“

Gunnar weidet sich sichtlich an ihrem Entsetzen. Mit einem brutalen Grinsen auf dem breiten Gesicht nähert er das Messer ihrer Kehle. Sie spürt das kalte Metall auf der Haut. Vor Todesangst erstarrt steht sie da und vermag keinen Finger zu rühren.

„Da wird der arme Paul gleich keine kleine Judenfreundin mehr haben“, grinst Gunnar spöttisch.

„Lass sie in Ruhe!“ schreit Axel, der sich in den Griffen der älteren Jungen mit aller Kraft hin- und her windet.

„Ach, dich hab ich ja fast vergessen.“

Gunnar rückt seine Mütze zurecht, nimmt das Messer von ihrer Kehle und tritt auf Axel zu, der ihn voll unterdrückter Wut anstarrt.

„Ihr Sozialisten1 seid gleich mit dran, das versprech ich dir“, grinst Gunnar böse und hält Axel das Messer unter die Nase.

„Der Einfachheit halber sollte ich’s kurz machen, nicht wahr?“

Er lässt die Klinge hinunter zu Axels Kehlkopf wandern.

„Tu’s doch“, knurrt Axel.

„Biste mir etwa immer noch böse?“ spöttelt Gunnar. „Glaub mir, deiner Maria geht’s da, wo sie jetzt ist, wunderbar – wenn sie noch lebt.“

Axels blaue Augen sprühen glühende Funken.

„Du Mörder!“ stößt er hervor.

Gunnar und seine Kameraden lachen.

„Nicht doch“, lacht Gunnar. „Was hab ich denn schon getan? Ich hab doch bloß Hauptmann Brügge einen kleinen Tipp gegeben.“

Er grinst fies und weidet sich an Axels hasserfülltem Blick. Der jüngere, etwas kleinere Blonde mit den blauen Augen starrt den älteren, sehr kräftigen Blonden mit den dunklen Augen und der Uniform wütend an. Auf der Stelle würde er ihm an die Kehle springen, wenn er könnte.

„Armer kleiner Axel“, spottet Gunnar. „Wie geht’s eigentlich deinem Vater? Ist er schon von Würmern zernagt?“

Axel windet sich in den stählernen Griffen der Hitlerjungen – trotz des Messers.

„Oh, wie gemein von mir“, spielt Gunnar betroffen. „Wie schade, dass du Sonne noch nicht gekriegt hast.“

Axels Blicke sind giftige Pfeile und könnten Gunnar tausendmal töten.

„Hoffentlich ist’s deinem Vater in der Hölle nicht zu heiß“, knurrt er.

Gunnars Augen verengen sich zu einem schmalen Spalt.

„Ihr roten Schweine!“ stößt er hervor. „Ihr habt ihn umgebracht!“

Axel schweigt.

Gunnar findet sein fieses Grinsen wieder und dreht die Klinge langsam und mit Genuss an Axels Hals.

„Na, dann. Sag Ade, Axel!“

„Liza! Liza!“

Sie wird gerüttelt. Sie schlägt die Augen auf. Es ist Rebecca.

„Hast du schlecht geträumt?“ fragt sie besorgt.

Liza nickt.

„Von Gunnar“, sagt sie leise.

Rebecca setzt sich zu ihr auf die Pritsche, legt einen Arm um sie und gibt ihr einen Kanten Brot, da sie ja das Frühstück in der Baracke verschlafen hat.

„War’s schlimm?“ fragt sie mitfühlend.

Liza nickt und fängt an zu essen.

„Er wollte Axel und mir die Kehle durchschneiden.“

Rebecca verzieht das Gesicht.

„Er hat Axel geärgert“, fährt Liza fort. „Maria wurde vor sieben Jahren abgeholt, weißt du? Und Gunnar hat sie angezeigt.“

Rebecca hört schweigend zu, sieht sie mitleidend an.

„Und dann hat er wieder von Axels Vater angefangen“, murmelt Liza, während sie sich schon anzieht.

Bernhard Sommer ist im Frühsommer 1933 auf der letzten SPD-Versammlung in Hamburg erschossen worden. SS und SA-Sturm 25 stürmten den Saal. Und es ist eine Kugel aus SA-Gruppenführer Sonnes Waffe gewesen, die Axels Vater tötete. Axel hat ihm Rache geschworen, dem brutalen Mann, dessen Sturmtrupp die traurige Berühmtheit erlangt hat, bei jedem Angriff auf Hamburgs Linke äußerst aktiv mitzumischen.

Liza läuft es heute noch eiskalt den Rücken hinunter, wenn sie an Gruppenführer Sonne, seinen Bruder oder einen anderen vom Sturm 25 denkt, beispielsweise Gunnar Bergers Vater.

Alle haben Angst gehabt vor Sonne und seinem Trupp. Alle Hamburger haben gezittert, hörten sie diesen brutalen Haufen auch nur in kilometerweiter Entfernung ihr Lied von der Fahne und den geschlossenen Reihen grölen.

„Geht’s wieder?“ fragt Rebecca vorsichtig.

Liza nickt.

„Wir müssen gleich raus“, sagt Rebecca.

Wieder nickt Liza. Sie ist fertig.

„Alle raus!“ hören sie da auch schon die Stimme von Wachmann Leipelt.

Die Tür wird aufgerissen. Licht dringt herein. Draußen scheint ein schöner Tag anzubrechen. Sie stehen auf und treten in Doppelreihe an. Liza geht neben Rebecca.

Draußen auf dem Hof sind schon die anderen versammelt. Unter den Frauen hat sie schnell die Mutter gefunden, die von der Essensausgabe zurück ist, wo sie heute morgen Dienst gehabt hat. Drüben bei den Männern erkennt sie nach ein paar Augenblicken den Vater und Léon. Wie jeden Tag begrüßen sie sich stumm mit einem Blick.

Der neue, sehr junge Wachmann, ein SS-Sturmbannführer, brüllt ein paar Befehle. Sie müssen wie die Nazis grüßen, wollen sie nicht auffallen.

„Abzählen!“ brüllt der Neue.

Jeder schreit der Reihe nach seine Nummer.

„580“, schreit Liza.

„581“, schreit Rebecca.

Die Mutter ist D-579, der Vater D-577 und Léon D-578. Auf dem rechten Unterarm ist sie ihnen eintätowiert worden, die Nummer. 580, das ist sie. Diese Zahl gehört für immer zu ihr, ist ein Teil von ihr; denn Namen zählen hier nichts, gar nichts.

Ein zweiter SS-Mann tritt hinzu und reicht dem Neuen einen beschriebenen Zettel. Der nickt und bedeutet dem SS-Mann mit einem stummen Rucken des Kopfes fortzufahren. Liza weiß, was jetzt kommt. Es ist wie jeden Tag. Sie werden in Kommandos eingeteilt. Rebecca ist zum Glück in Lizas, ebenso wie die Mutter.

„Wegtreten!“ brüllt der junge Mann in der braunen Uniform scharf. Das Totenkopfabzeichen an seinem Kragen leuchtet in der Morgensonne.

Sie gehen hinüber in die Ziegelei. Seit vierzehn Monaten haben sie hier jeden Tag Ziegel hergestellt. Die Arbeit ist längst zur Routine geworden. Sie sitzen nebeneinander, Liza und Rebecca. Schräg gegenüber sitzt die Mutter. Sie lächelt ihnen kurz zu, bevor sie den Blick auf die Arbeit sinken lässt. Auch Liza senkt den Blick und arbeitet still vor sich hin. Ihre Hände wissen längst, was zu tun ist.

 

„Für deine zarte Hand“, hat Paul einmal lächelnd gesagt, als er ihr zum Geburtstag einen schmalen Silberring schenkte. Damals konnten sie natürlich nicht wissen, dass sie den Ring kein halbes Jahr später bei der Aufnahme abgeben musste. Aber selbst wenn er es gewusst hätte, Paul hätte bestimmt keine Sekunde gezögert.

Ja, Paul.

Der liebe, verständnisvolle Paul Kirchhoff, der ihr Freund gewesen ist. Richtig verliebt ist sie in ihn gewesen, ist es immer noch – auch wenn sie keine Chance sieht, ihn je wieder zu sehen.

Alles haben die Nazis kaputt gemacht. Nicht einmal vor Familien und Freundschaften haben sie halt gemacht. Axels Vater ist tot – von Nazis ermordet. Axel und Maria haben sie getrennt, Pauline Weiß und Peter Reichberg, Paul und sie selbst.

Liza denkt gern an die schöne Zeit zurück, als die Nazis noch nicht an der Macht waren. Wie sie alle zusammen im Hof und auf der Straße gespielt haben oder gemeinsam bis hinunter zum Elbstrand gelaufen sind und mit den bloßen Füßen im Wasser geplanscht haben. Eine schöne Zeit ist das gewesen, jeder Tag war schöner als der vorige. Als sie alle noch zusammen waren.

Doch dann hat sich alles geändert: Hitler kam an die Macht. Alle Freiheiten wurden abgeschafft. Sie, die Juden, hatten es noch schwerer als vorher.

Mit Grauen erinnert Liza sich an den Tag, an dem sie mit angesehen hat, wie Sonnes SA-Trupp Johanna Grünberg, ein jüdisches Mädchen aus Marias und Paulines Klasse, und ihre Eltern erschlug. Sonnes Trupp war wirklich einer der schlimmsten, wenn nicht sogar der allerschlimmste von ganz Hamburg.

Seit der Ermordung ihres Stabschefs Ernst Röhm gibt es die SA nicht mehr. Die Brüder Sonne hat das sehr getroffen. Doch schon wenige Tage später war der ehemalige SA-Gruppenführer Sonne Hauptmann bei der Gestapo, sein Bruder, der ein paar Monate zuvor erst zum SA-Gruppenführer befördert worden war, Obersturmführer SS.

In ihrer neuen Funktion sind die beiden fast noch schlimmer als vorher. Der SS-Sonne zückt immer sofort seine Waffe und drückt ab, wenn er meint, einen Juden zu sehen. Meistens vermutet er richtig. Hauptmann Sonne lässt Verhaftete meist unter einem fadenscheinigen Vorwand auf der Stelle töten, um sich die Mühe mit Transport, Papieren, Ein- und Ausweisungsbefehlen zu ersparen.

Liza sieht noch deutlich vor sich, wie die Brüder Sonne, die schon zu SA-Zeiten den Spitznamen „Blutbrüder“ hatten, Peter Reichberg und seine Familie abholten. Vor über drei Jahren ist das gewesen. Trotzdem hat sie alles noch genau vor Augen, so als wäre es gestern gewesen: wie Peter und seine Eltern mit erhobenen Händen auf die Straße gedrängt wurden; wie Peters älterer Bruder Jan dem SS-Sonne nicht schnell genug ging und er kurzerhand vom Obersturmführer abgeknallt wurde. Wie ein Karnickel. Wie Sonnes Bruder die Leiche dann mit auf den Lastwagen packen ließ.

Liza sieht immer noch Paulines tränenüberströmtes Gesicht vor sich. Sie hat Peter geliebt. Die Nazis haben sie auseinander gerissen.

Viele Freunde sind gewaltsam getrennt worden. Axels Freundin Maria Goldberg ist im April 1934 von der Gestapo abgeholt worden. Gunnar Berger hat sie angezeigt. Liza sieht immer noch Axels verzweifeltes Gesicht vor, als der Lastwagen mit Marias Familie in der Dämmerung verschwand.

Axel hat sehr um Maria getrauert. Er wurde viel stiller und bedrückter. Und hasserfüllter. Nicht nur den Vater haben die Nazis ihm genommen. Auch seine Freundin, die sie in irgendein KZ gesteckt haben, wenn sie sie nicht gleich umgebracht haben.

Liza hat viel für Maria gebetet, dass es ihr gut gehen möge, dass sie überleben möge. Sie sei nach Dachau gebracht worden, hieß es. Wie Müllers, die im August 1936 dorthin gebracht wurden, weil sie während der Olympischen Spiele zu laut von Jesse Owens geschwärmt haben. Und damit dem Sohn ihres Blockwarts aufgefallen sind.

Hans Schönemann, mit dem sie früher manchmal auf dem Hof Fußball gespielt haben, wurde als Kommunist im November 1938 nach Buchenwald gebracht.

Bereits einen Monat zuvor, ein paar Tage nach dem Brand der Synagogen, verschwanden außer Reichbergs auch noch Schönfeldts, deren kleines Geschäft von der SS geplündert und angezündet worden war.

„Steh auf!“ reißt Rebeccas Stimme sie aus ihren Gedanken. Liza steht auf und versucht wieder zu sich zu kommen.

SS-Scharführer Baldt schreitet mit wichtiger Miene die Reihen ab. Er ist zugleich ihr Kommandoführer und der am meisten gehasste Wachmann im ganzen Lager. Wenn er sich gereizt fühlt – oder wenn er getrunken hat – ist er beinahe ebenso schnell mit der Waffe zur Hand wie die Brüder Sonne. Er ist es auch, der die Schwachen mit Fußtritten und Schlägen zum Arbeiten antreibt und antreiben lässt. Liza erinnert sich, wie er der älteren Frau mit den freundlichen braunen Augen eines Tages die Finger zerschlagen ließ. Weil sie wegen eines Gichtanfalls weniger Ziegel hatte formen können. Noch am Abend desselben Tages war die Frau aus der Baracke verschwunden, in der sie neben der Mutter ihre Pritsche gehabt hat. Die Mutter hat Liza zugeflüstert, dass man die alte Frau wohl weitergeschickt habe, nach Osten.

Liza spürt, dass sie zu zittern beginnt. Sie versucht, sich zusammen zu reißen. Nicht auffallen. Keinen Grund geben. Immer den Blick gesenkt halten. Niemals dem Baldt in die Augen sehen. Denn er schlägt nicht nur gern. Es gehen Gerüchte um, dass er sich gern weibliche Gefangene zur Gesellschaft am Abend holen lässt.

Sie fühlt beinah körperlich, wie der Baldt näherkommt. Ein flaues Gefühl im Magen lässt sie den Blick noch weiter senken, beinah bis auf die magere Brust. Dennoch spürt sie, wie der Baldt an ihnen vorbeikommt und sie mit einem merkwürdigen Blick mustert. Dann ist er vorbei. Liza atmet lautlos auf.

„Setzen!“ kommt es von der Tür.

Sie fahren mit ihrer Arbeit fort. Liza kommt über der unermüdlichen Arbeit ihrer Hände wieder ins Träumen.

Wie Paul sie fragte, ob sie mit ihm auf den DOM gehen wolle. Wie sie dann auf dem Jahrmarkt zusammen Riesenrad fuhren und er sie küsste. Ein paar Jahre zuvor, als sie noch alle zusammen waren, hat er ihr ein Lebkuchenherz geschenkt.

„Für meinen Schatz“, stand darauf.

Geisterbahn ist er mit ihr gefahren. Richtig schön war es – bis Gunnar mit seinen Hitlerjungen auftauchte und sie vor ihm fliehen mussten. Wie sie dann beinahe noch dem SS-Sonne in die Arme gelaufen wären. Wie die Besessenen sind sie nach Hause gerannt.

Das war eine Woche bevor Hitlers Truppen in Polen einfielen und den Krieg begannen. Am Tag danach hatten sie dann ein unangenehmes Zusammentreffen mit Herrn Braun, einem scheußlichen Nachbarn von Paul und Pauline.

Herr Braun ist schon im November 1932 in die Partei eingetreten. Mit Pauls Vater hat er mehrere Auseinandersetzungen gehabt – weil sie nicht auf dem Hof Fußball oder auf dem Bürgersteig vor Nr. 18 Murmeln spielen sollten; oder ob die Hoftür nun auf oder zu bleiben könne...

Pauls Vater hat diese Wortgefechte immer gewonnen. Dafür hat Herr Braun immer wieder versucht, Max Kirchhoff zu schaden. Im Sommer 1934 ist der Braun dann in die SS eingetreten und von da an immer in seiner schwarzen Uniform auf der Straße umhermarschiert.

Und natürlich ist er noch überheblicher gegenüber Pauls Vater gewesen. Weil er Müllers, Reichbergs, Schönfeldts und Hans Schönemann beim Gestapo-Sonne angeschwärzt hat, ist aus dem einfachen SS-Sturmmann Braun schnell ein Scharführer SS geworden. Paul und Axel haben unter sich immer über diese zweifelhafte Karriere gespottet.

„Eines Tages“, hat Paul spöttisch gesagt, „wird er vorm lieben Adolf höchst selbst stehen und den Diktatorentitel fordern. Weil er unsere Straße ‚gesäubert‘ hat.“

Ja, Paul.

Liza seufzt leise in sich hinein. Er hat ihr immer schon gut gefallen. Witzig, loyal und verständnisvoll – ein rundum lieber Kerl eben. Von seinem Vater hat er sehr viel gelernt und hat eigentlich nie geglaubt, was die Nazis über Juden gesagt haben. Groß und stark ist er außerdem. Wie ein Löwe hat er sie tapfer gegen Gunnar und seine Jungs verteidigt. Und richtig zärtlich kann er sein...

Liza rieselt ein angenehmer Schauer den Rücken hinunter, wenn sie an seine schönen braunen Augen denkt, mit denen er sie immer so liebevoll angesehen hat. Gut sieht er aus, überlegt sie, während sie sein hübsches Gesicht vor sich sieht, das von dem dunkelbraunen, gelockten Haar umrahmt wird. Fast meint sie, seine Nähe zu spüren und seinen angenehmen Geruch einzuatmen. Doch als sie aufschaut, ist es nur Rebecca, die neben ihr sitzt und fleißig vor sich hin arbeitet.

Rebecca hat niemanden mehr. Ihre Eltern sind tot. Ganz schnell hinter einander sind sie an der Schwindsucht gestorben. Seit mehr als zehn Jahren ist Rebecca Vollwaise. Sie hat bei einer halbjüdischen Tante im Stadtteil Barmbek gewohnt, bevor sie eine Woche vor Liza hierher nach Neuengamme gekommen ist.

Die Tante ist nicht zuhause gewesen, als man Rebecca holte. Rebecca hofft, dass sie es auf ein Schiff nach Amerika geschafft hat. Aber wer kann wissen, was mit der Tante geschehen ist?

Die Ungewissheit sei das Schlimmste, hat Rebecca gesagt. Seufzend lässt Liza den Blick durch den Raum schweifen. Sie weiß, wo ihre Familie ist. Schräg gegenüber sitzt die Mutter. Auch sie blickt gerade auf. Ihre Blicke treffen sich einen kurzen Moment. Sie lächeln einander aufmunternd zu.

Weiter unten im zugigen Raum arbeitet ein Kommando der Männer. Liza erkennt den Vater, der die Ziegel in den Brennofen schiebt. Léon holt die fertig geformten Ziegel von den Frauen ab und stapelt sie neben dem Brennofen. Neben dem Vater arbeitet ein dunkelhaariger Junge.

Paul! durchfährt es sie freudig und erschrocken zugleich.

Doch da richtet der Junge sich auf und wendet den Kopf in ihre Richtung. Er ist älter als Paul, sieht ihm aber irgendwie etwas ähnlich.

Jetzt bemerkt er ihren Blick und lächelt ihr freundlich zu. Auch sein Lächeln erinnert sie an Pauls. Spontan lächelt sie zurück. Merkwürdig, dass sie ihn in den dreiundzwanzig Monaten, die sie bereits hier ist, noch nie zuvor gesehen hat.

Rebecca stößt sie an.

„He, träum nicht. Sonst kriegste noch Ärger mit dem Baldt.“

Liza zuckt zusammen, beugt sich wieder über ihre Arbeit.

Paul hat sie auch immer so angelächelt. Wenn er sie trösten wollte, wenn sie sich begrüßten oder wenn sie einfach nur miteinander sprachen – er hatte immer ein Lächeln für sie. Sein schönes Lächeln und ein nettes Wort hatte er für alle, naja, fast alle. Nazis ausgeschlossen.

Für sie hatte er immer noch ein zärtliches Wort extra. Liza seufzt tief und fängt wieder an zu träumen. Ohne ihre Erinnerungen hätte sie die lange Zeit – beinah zwei Jahre – hier im Lager bestimmt nicht überstanden. Viele überleben nicht mal zwei Wochen. Aber wir haben Glück gehabt, denkt Liza. Bis jetzt. Wir leben alle noch, keiner von uns hat vom Wachpersonal Schläge oder Tritte erhalten, alle sind wir gesund.

Eine Baracke im Lager steht unter Quarantäne. Alle, die an Flecktyphus erkrankt sind, liegen dort. Liza seufzt leise und blickt nachdenklich zur Mutter, zu Rebecca und zu Léon und dem Vater hinüber. Sie sind zum Glück verschont geblieben von dieser schrecklichen Epidemie, die dem Lagerkommandanten ziemliches Kopfzerbrechen macht. Aber sie hat ja schon immer eine gute Gesundheit gehabt. Außer Scharlach hat sie nie etwas gehabt. Allerdings, sehr lange wird sie es nicht mehr schaffen. Der Winter ist kalt. Die Baracken sind nicht besonders warm. Durch alle Ritzen und Spalten zieht es. Viele sind erkältet.

Die Mutter hat drei Tage Fieber gehabt. Der Leipelt war immerhin so gnädig, sie im Bett liegen zu lassen. Eine Extraportion Mittagessen hat sie außerdem für die Mutter bekommen. Liza ist dem Mann beinahe dankbar für seine Hilfe. Wie er ihr auftrug, für die Mutter mitzuzählen. Und es hat sogar geklappt.

Mittagspause. Heute hat sie Tischdienst. Am Morgen hat sie verschlafen. Da hat Rebecca für sie den Dienst gemacht, damit sie ausschlafen konnte. Liza ist ihr dankbar dafür. Jetzt ist sie dran. Für dreiundzwanzig Frauen – darunter Rebecca und die Mutter – und sich selbst muss sie Eintopf von der Häftlingskantine holen.

Sie legt den letzten fertigen Ziegelstein des Morgens zu den anderen und verlässt zusammen mit Rebecca das Klinkerwerk. Sie geht gleich zur Kantine, wartet auf den Topf.

 

„So sieht man sich wieder“, wird sie plötzlich leise von hinten angesprochen.

Paul?

Erschrocken und freudig zugleich fährt sie herum.

Nein, nicht Paul. Aber es ist der junge Mann, der ihm so ähnlich sieht. Seine Stimme ist genauso warm wie die von Paul. Wie Sonnenschein.

„Lutz Neumann“, stellt er sich lächelnd vor. „Kommunist.“

Er deutet auf das rote Dreieck, das auf seiner gestreiften Kleidung aufgenäht ist. Gut sichtbar auf der Brustseite über dem Herzen und ein zweites auf dem rechten Hosenbein.

„Liza Giesemann, Jüdin“, erwidert sie.

Im Gegensatz zu einfachen politischen Häftlingen trägt sie auf ihrem Kleid zusätzlich zum roten Winkel noch ein gelbes Dreieck darunter, sodass ein sechszackiger Stern auf ihrer Brust leuchtet.

Lutz nickt knapp, lächelt ihr zu und wartet mit ihr zusammen.

„Biste schon lange hier?“ fragt er leise.

„Fast zwei Jahre“, antwortet sie.

Er zieht die Augenbrauen hoch.

„Oh Gott!“ murmelt er entsetzt. Seine braunen Augen blicken sie mitfühlend an.

„Ich bin seit gestern hier“, sagt er dann. „Sie haben uns erwischt, als wir wie immer bei einem jüdischen Bekannten einkauften.“

Andere nähern sich ihnen, um Eintopf zu holen.

„Wie alt biste eigentlich?“ fragt er und mustert sie eingehend.

„Fünfzehn“, antwortet sie.

Er berührt kurz ihre Wange. Traurig sieht er sie an.

„Dann solltest du zur Tanzstunde gehen“, murmelt er. „Stattdessen haben sie dich hierher geschickt.“

Sie seufzt. Er hat recht, sie hat ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt.

„Ja“, sagt sie leise und fragt dann. „Wie alt bist du denn?“

„Gerade neunzehn geworden“, antwortet er. „Nächstes Jahr hätte ich mit meinem Medizinstudium angefangen.“

Ärgerlich tritt er nach einem Kieselstein, der in hohem Bogen davonfliegt.

„So!“

Der Koch knallt die Töpfe vor sie hin. Liza nimmt einen, Lutz einen anderen.

„Nr. 5“, sagt Lutz, als sie nebeneinander über den Hof gehen, auf die Baracken zu.

„Nr. 7“, antwortet sie.

SS-Scharführer Baldt kommt ihnen entgegen. Wie angewurzelt bleibt Liza stehen und senkt den Kopf. Lutz tut es ihr nach einem kurzen Augenblick des Zögerns nach. Der Baldt geht in einigen Metern Entfernung an ihnen vorbei. Liza spürt ein ungutes Gefühl im Magen, als sein Blick sie trifft. Einen Moment lang glaubt sie, dass der Mann in der gebügelten Uniform stehenbleiben und sie ansprechen will. Doch dann gleitet sein Blick kurz über Lutz und die beiden dampfenden Töpfe, bevor er sich mit einem Ruck abwendet und raschen Schrittes davongeht.

Lutz berührt wie unabsichtlich Lizas Arm mit seinem, als sie weitergehen. Die Berührung lässt die Kälte aus Lizas Gliedern verschwinden, die bei der Begegnung mit dem uniformierten Mann in ihr hochgestiegen ist.

„Ein unangenehmer Mensch“, murmelt Lutz leise.

Liza nickt stumm und sieht ihn an. Er lächelt ihr aufmunternd zu. Seine Augen haben beinah den gleichen warmen Braunton wie die von Paul. Sie fühlt sich geborgen in seiner Nähe.

„Mach’s gut, Liza“, sagt Lutz leise, bevor sie sich trennen.

„Bis dann“, lächelt sie zurück und schleppt den schweren Topf in die Baracke, wo sich die anderen schon am Tisch versammelt haben.

Sie füllt den anderen auf und setzt sich dann zwischen Rebecca und die Mutter. Sie essen schweigend. Als sie fertig ist, nimmt Liza den leeren Topf und bringt ihn zur Kantine zurück. Auf dem Rückweg trifft sie erneut auf Lutz.

„Hallo“, lächelt er.

„Hallo“, lächelt sie zurück.

„Wir sehen uns“, sagt er. „Oh, verdammt! Beeil dich!“

Er geht schnell weiter.

Liza schaut sich um und sieht SS-Scharführer Baldt herankommen. Seine Miene verheißt nichts Gutes. Liza geht schnell weiter, die anderen sind bereits angetreten. Der Baldt kommt auf sie zu. Ein schmieriges Grinsen breitet sich über sein Gesicht. Sie schaut weg und geht mit gesenktem Kopf an ihm vorbei.

„Wie geht’s?“ raunt er ihr zu und greift ihr flüchtig an den Rock.

Schnell geht sie weiter. Sie erreicht die anderen, kurz bevor er sie eingeholt hat. Schnell zwängt sie sich durch die dichten Reihen zu Rebecca durch. Mit klopfendem Herzen blickt sie zurück und begegnet Baldts unangenehmem Blick. Irgendwann krieg ich dich, scheint er zu sagen. Schnell schaut sie woanders hin.

Lutz kommt gerade von der Kantine zurück und stellt sich zu seinem Kommando. Er lächelt ihr kurz zu, bevor sie abtreten.

Liza geht mit Rebecca ins Klinkerwerk. Sie arbeiten zunächst schweigend. Liza hält es nach einer Weile nicht mehr aus. Sie stößt Rebecca vorsichtig an.

„Was ist?“ fragt Rebecca.

„Ich wollte dir nur sagen, dass ... dass ich ’nen netten Jungen kennengelernt hab“, sagt Liza.

„Wo das denn?“ fragt Rebecca verblüfft. „Hier etwa?“

Liza nickt strahlend.

„Vorhin bei der Kantine“, erzählt sie. „Er heißt Lutz.“

Rebecca freut sich mit ihr.

„Er ist Kommunist.“

Rebecca grinst.

„Na und? Wir sind Juden.“

Liza nickt.

„Passt doch gut“, murmelt sie. „Die beiden Gruppen von Menschen, die von den Nazis am meisten gehasst werden.“

„Stimmt“, grinst Rebecca. Dann wird sie mit einem Schlag ernst. „Oh, verdammt!“

Der Baldt geht schon wieder die Reihen entlang. Liza arbeitet angestrengt, um nicht aufblicken und das unangenehme Grinsen des Mannes sehen zu müssen. Da spürt sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken fährt sie hoch.

Es ist der Baldt!

„Sehr schön machst du das“, lobt er und grinst wieder so unverschämt unangenehm.

Stumm will sie mit ihrer Arbeit fortfahren. Doch da beugt er sich zu ihr herunter und flüstert ihr ins Ohr: „Um zehn bei mir.“

Und schon ist er weg.

Angeekelt verzieht Rebecca die Mundwinkel und sieht sie mitfühlend an. Sie muss alles mitgehört haben. Liza versucht, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Als sie vorsichtig einen Blick in die Runde schickt, ist der Baldt verschwunden.

Nur Lutz sieht vom anderen Ende des Raumes kurz zu ihr herüber und zwinkert ihr aufmunternd zu. Liza atmet auf und zwinkert zurück.

Wie eine Maschine arbeitet sie weiter und kommt ins Träumen. Lutz sieht sie vor sich – und Paul. Wie damals…

SS marschiert, die Straße frei!“ tönt es aus mehreren Männerkehlen.

„Der Sonne!“ flucht Paul leise.

Sie drängen sich in einen Hauseingang. Im Schutz des schattigen Eingangs spähen sie um die Ecke. Die schwarz uniformierten Männer, unter denen – außer Gunnar Bergers Vater – alle vom alten Sturm 25 sind, kommen näher.

„So ein Mist!“ schimpft Pauline leise. „Klemmt, die blöde Tür.“

Axel wirft sich dagegen und fällt fast mitsamt der Tür ins Treppenhaus. Schnell und leise schlüpfen sie in das fremde Treppenhaus, machen die Tür ran und linsen durch den übrig gebliebenen Spalt nach draußen.

„Was wird das denn?“ flüstert Pauline.

„Sei doch still!“ flüstert Paul zurück.

Sein warmer Atem streichelt Lizas Wange. Er steht hinter ihr. Sie fühlt seine Nähe und spürt seine Hand um die ihre. Ihr wird nichts passieren. Er ist ja bei ihr.

Sie stehen hinter der Tür und haben durch den Spalt die Straße gut im Auge.

Sonnes SS-Trupp 13 macht vor dem Haus gegenüber halt.

Liza erkennt ihren ehemaligen Mathematiklehrer Herrn Gröhn, dazu den früheren Lehrer von Maria und Pauline, Herrn Ziegler. Kerzengerade stehen sie zusammen mit den anderen in einer Reihe da und warten. Im hellen Licht des schönen Tages schimmern die doppelten S-Symbole am Kragen ihrer schwarzen Uniformen kalt. Silberne Blitze, die Gefahr bedeuten.

Ein Lastwagen kommt und hält etwa hundert Meter weiter. Herr Ziegler, Herr Gröhn und vier weitere SS-Männer erhalten automatische Gewehre mit Zielfernrohr. Sie postieren sich hinter parkenden Autos und in den Hauseingängen rings herum.

Mehrere Männer in langen Mänteln steigen aus einem Auto. Der Gestapo-Sonne ist auch dabei. Er scheint den Oberbefehl zu haben. Er verschwindet mit drei anderen und sechs SS-Männern in dem umstellten Haus. Wenig später werden drei Männer und eine Frau mit erhobenen Händen herausgeführt.

„Los, los!“ brüllt der Gestapo-Sonne ungehalten.

Mit grimmiger Miene steigen die Frau und zwei Männer auf die Ladefläche. Der dritte Mann lässt sich Zeit. Als Sonne auf ihn zukommt, schlägt er ihm mitten ins Gesicht, reißt die Fahrertür auf und fährt sofort los, den ohnmächtigen Fahrer auf dem Beifahrersitz.

„Feuer!“ brüllt Hauptmann Sonne.

Sein Bruder feuert sofort. Auch die anderen vom Trupp 13 drücken ab. Mit einem grausigen Aufschrei stürzt die Frau vom Wagen und bleibt liegen. Glas splittert. Herr Ziegler hat die Windschutzscheibe zerschossen. Weitere Schüsse hallen durch die Straße und prallen von den Hauswänden ab.

Plötzlich knallt es laut. Herr Gröhn muss einen Reifen getroffen haben. Denn der Lastwagen kommt ins Schleudern und rast in voller Fahrt gegen die nächste Hauswand.