Als die Dunkelheit hereinbrach

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Z serii: Verlorene Jugend #1
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„Es sind noch zwei weitere geholt worden“, weiß Pauline. „Dr. Hanstein und der Abendrot.“

Maria kennt die beiden nur als Pausenaufsicht. Aber sie sollen sehr nett gewesen sein.

„Wir haben jetzt einen Neuen“, sagt Paul. „Wolf heißt er. Ein Brauner.“

Dem kleinen, dunkelhaarigen Jungen ist anzusehen, dass er den neuen Lehrer nicht besonders mag.

„Wir müssen aufspringen, stocksteif stehen und ganz zackig wie ein Soldat antworten, wenn er fragt“, mault er. „Und er erzählt immer vom Führer und dem ganzen Kram. Jede Stunde hat er wieder von vorne angefangen.“

Paul starrt ärgerlich zu Boden. Maria fühlt mit ihm. Er mag die Nazis nicht. Er versteht zwar noch nicht alles, was so passiert, aber er hat doch längst begriffen, dass die Braunen gefährlich sind – lebensgefährlich unter Umständen.

Auch Axel weiß, dass die Nazis böse sind. Trotz ihrer Jugend sind die beiden Jungen schon sehr schlau und wissen Bescheid, dass sie sich von SA-Männern und dergleichen fernhalten müssen. Und sie halten an ihrer (Väter) Meinung fest, lassen sich auch durch Pimpfe wie Gunnar Berger nicht davon abbringen, mit Juden befreundet zu sein.

Maria mag die beiden sehr gern. Sie sind wie Suse. „Solange wir dich mögen, kannst du sein, was du willst“, könnte auch ihr Motto sein.

Sie verstehen ebenso wenig wie Pauline und sie selbst, warum die Braunen so gegen die Juden, die ihnen nichts getan haben, hetzen.

„Der Wolf hat heute gesagt, dass alle Juden ganz schlecht sind“, sagt der kleine Paul. „Sie stehlen und betrügen ohne Pause, hat er gesagt.“

Die Empörung über diese Anschuldigung verschlägt ihm einen Augenblick lang die Sprache.

„Fast hätte ich gerufen, dass er lügt“, fährt er fort. „Ich meine, ihr seid doch auch Juden, oder?“

Er sieht von einem Mädchen zum anderen.

„Also, und ihr seid doch ganz ehrlich, habt noch nie betrügt,… betrogen oder was geklaut.“

Die drei schütteln den Kopf.

„Ja. Eben.“

Paul ist zufrieden mit seiner Beweisführung.

Die kleine Liza hat nun offenbar genug von diesem ernsten Gespräch. Sie schiebt sich an Paul vorbei und sieht Maria fest ins Gesicht.

„Wann kommst du wieder runter?“ will sie wissen.

Maria hebt die Schultern.

„Ich hab ein neues Kleid für Nathalie“, berichtet Liza stolz. „Das hat Mami selbst gemacht.“

Maria lächelt. Sie weiß, wieviel Liza ihre Puppe bedeutet. Die ist ihr Ein und Alles. Dabei besteht sie nur aus Woll- und Stoffresten. Aber für Liza ist sie das Heiligste, was es gibt. Sie ist das Einzige, was ihr von ihrer Großmutter noch geblieben ist.

Ihre Großeltern sind letztes Jahr in den Wahltagen von SA-Männern erschossen worden. Ihr kleines Schrebergartenhäuschen haben die Männer – zusammen mit den Leichen – verbrannt. Die Großmutter hatte der kleinen Liza am Tag zuvor die Puppe zum siebten Geburtstag geschenkt. Und einen Tag später war sie dann bereits tot, ermordet...

Maria kann sich an ihre Großeltern gar nicht mehr erinnern. Die Eltern ihrer Mutter sind gestorben, als sie gerade ein Jahr alt war, beide ganz schnell hintereinander.

Die Eltern des Vaters leben auch nicht mehr. Die Mutter des Vaters starb, bevor ihre Enkelin geboren war. Der Vater des Vaters war Flieger im letzten Krieg. Er war im gleichen Geschwader wie Hermann Göring, der jetzt bei den Nazis ganz groß dabei ist. Maria kennt nur Fotos von den beiden Männern, die stolz neben ihren Flugzeugen stehen. Ihr Großvater hat sogar eine hohe Auszeichnung vom Kaiser erhalten. Nach dem Krieg war er für viele Menschen hier in Altona ein großer Volksheld. Trotzdem wurde er 1925 von Nazis umgebracht...

Ein Unfall, hat in dem winzigen Artikel in der Zeitung gestanden. Aber ein Mann, der alles gesehen hat, kam noch am selben Abend zu den Eltern und erzählte von einem hitzköpfigen Mann, der den Großvater im Streit geschlagen und auf die Straße gestoßen hat – mit voller Absicht direkt vor einen heranbrausenden Lastwagen. Der Mann war der ältere der beiden Sonne-Brüder…

„Ich muss jetzt gehen“, sagt Pauline. „Wir essen gleich zu Abend.“

Auch Axel, Paul und die kleine Liza verabschieden sich. Als sie gegangen sind, liegt Maria mit offenen Augen da und starrte Löcher in die Luft. Ihre Gedanken kreisen in einem fort um dieselbe Frage: Was haben die Nazis bloß gegen sie, die Juden?

*****

März 1933.

„Heute hat der Wolf aber wieder was erzählt!“

Der kleine Paul kann nicht mehr länger ruhig sitzen bleiben und nur Murmeln spielen. Er springt auf und läuft ein paar Schritte hin und her. Axel, Pauline und Maria unterbrechen ihr Spiel und sehen ihn an.

„Was hat er denn gesagt?“ will die kleine Liza wissen. Sie sitzt neben Pauline und hält ihre Puppe Nathalie im Arm.

Paul setzt sich wieder zu ihnen.

„Stellt euch vor, er sagt, die Juden sind schuld daran, dass Deutschland den Krieg vor fünfzehn Jahren verloren hat. Außerdem haben sie auch noch die schlechte Wirtschaft gemacht und sind überhaupt ganz böse.“

Der kleine Junge schaut sie der Reihe nach mit seinen hübschen braunen Augen an, die jetzt vor kaum unterdrückter Wut funkeln.

„Vater sagt, dass die anderen im Krieg einfach stärker waren und dass die Wirtschaft sowieso kaputt war.“

Axel nickt.

„Das sagt mein Vater auch. Und er sagt, dass es nicht gut ist, dass solche wie der Wolf oder der Gröhn uns unterrichten.“

Maria weiß, dass auch ihr Vater es nicht gern sieht, dass Herr Ziegler sie unterrichtet. Der ist nämlich Sturmführer bei der SA, im Gefolge der Brüder Sonne. Und er mag die Juden noch weniger, als der Führer es bereits tut.

Maria erinnert sich an den Tag, als sie nach der einwöchigen Frühjahrsgrippe wieder mit Pauline in der Schule war: der Ziegler hat Johanna Grünberg, die kleine zierliche Tochter eines jüdischen Gemischtwarenhändlers, wüst beschimpft. So ähnlich wie Gunnar damals die Kleinert anschrie. Und auch über Esther Ahrlt und Pauline zog der Ziegler her.

Sie selbst, Maria, hat anscheinend noch Schonzeit gehabt. Oder viel wahrscheinlicher: der Lehrer hatte keinen blassen Schimmer, dass sie Jüdin ist.

Nagut, man sieht es ihr wohl auch nicht unbedingt an. Sie hat weder Paulines dunkle Locken, noch Johannas beinah schwarze Augen. Ihr Haar ist glatt und blond, und sie hat blaue Augen. Aber was heißt das schon?

Dieter Andresen ist kein Jude und hat trotzdem fast schwarzes Haar und sehr dunkle Augen. Sagt das Aussehen denn etwas über „Rasse“, Nation und – vor allem – über die inneren Werte aus?

Maria überlegt. Hat Paul nicht erzählt, dass Herr Wolf seiner Klasse erklärt hat, alle Juden würden stehlen und betrügen? Aber wer sagt denn, dass Christen – oder wie immer man die anderen auch nennen will – das nicht tun?

Hilda und Charlotte, diese echt „deutschen“ Mädels schummeln in den Arbeiten; Kalle Koch hat einem Jungen aus einer der unteren Klassen letzte Woche den Kreisel weggenommen, „weil der ihm so gut gefiel“. Da sieht man doch, dass auch die Nichtjuden betrügen und stehlen.

Überhaupt: Christen – Juden.

Maria überlegt, ob es einen Unterschied zwischen ihnen gibt. Ihr fällt keiner ein. Naja, und wenn. Sie ist zwar Jüdin, aber sie glaubt doch an den gleichen Gott wie die Christen. Sie ist getauft und kann neben dem jüdischen auch das christliche Glaubensbekenntnis, den 23. Psalm und das Vaterunser. Sie kennt nur die Texte der Gebete auf Hebräisch und nur ein paar ganz wenige Worte Jiddisch.

Sie geht ebenso wie Pauline und Liza nur etwa einmal im Monat in die Synagoge. Und sie geht auch nicht auf eine jüdische Schule, sondern auf eine „ganz normale“, wo auch Christen hingehen. Bisher ist das nie ein Problem gewesen. Aber jetzt ist es anders. Seit diesem Jahr ist alles anders. Plötzlich ist es wichtig, wer man ist und was man ist. Denn seit letzter Woche stellen die Nazis auch in Hamburg die Regierung, mit einer absoluten Mehrheit von sechs Senatoren. Dadurch wird sich auch in Hamburg und hier, im benachbarten Altona, einiges ändern, hat der Vater gesagt.

Maria spürt ein leichtes Ziehen in der Brust. Es hat sich bereits einiges verändert, besonders in der Schule. Früher ist sie akzeptiert gewesen, und das nicht nur wegen ihrer blonden Haare. Sie hat dazu gehört, irgendwie. Sie war eine von ihnen, das hat sie jedenfalls geglaubt. Aber sie war immer anders und hat es nur nicht gemerkt. Denn sie hat jüdisches Blut.

Ja, das wird’s sein. Das ist der Grund, warum jetzt alles anders ist. Und warum es plötzlich so wichtig ist, wer man ist. Die Nazis wollen das deutsche Blut „rein halten“, hat Hilda mal gesagt. Deshalb haben sie es auch nicht so gerne, wenn ein Jude eine Nichtjüdin heiraten will, oder andersherum.

Der Vater sagt, bald machen sie für alles Gesetze. Dann wird ihnen sogar das Atmen verboten werden. Damit die Luft nicht unnötig verbraucht wird. Damit nur die ganz „echten“ Deutschen reine, klare Luft hätten. Im Gesetzemachen und in der Freiheitsberaubung seien die Nazis unübertreffbar.

Damals, kurz nach Hitlers Wahlsieg, als der Reichstag in Berlin brannte, da haben sie kurzerhand ein Gesetz gemacht, unter dessen Schutze sie viele Sozialisten und Kommunisten festnehmen konnten. Pauls Vater ist als KPD-Funktionär ebenfalls verhaftet worden. Drei Tage lang haben ihn die Nazis festgehalten. Dann ließen sie ihn erstaunlicherweise wieder frei.

„Denen war ich zu naiv“, hat Max Kirchhoff danach Bernd Sommer und ihrem Vater erzählt. Pauls Vater hat sich im Verhör ganz dumm gestellt. Da haben sie ihn laufenlassen.

 

Auch Bernd Sommer wollten sie verhaften, aber der war gerade krank und lag mit Scharlach im Bett. Axels Mutter redete lange auf die Hilfspolizisten ein und machte ihnen klar, dass ihr Mann niemals in Berlin gewesen sein könne, da er doch seit einer Woche mit Scharlach und Fieber und allem im Bett liege. Da sind die Männer unverrichteter Dinge wieder gegangen.

Maria erinnert sich, wie der Vater ihr erzählte, dass die Nazis einen Mann getötet hätten, der angeblich das Feuer gelegt hat. Der Vater glaubt nicht, dass der Mann, ein Holländer, schuldig war. Max Kirchhoff und Bernd Sommer haben damals gesagt, dass sie glauben, die Nazis hätten das Feuer selbst gelegt; um Sozialisten und Kommunisten zu verhaften. Es sei ein großer Schlag gegen links gewesen, sagten sie. Viele führende SPD- und KPD-Mitglieder hätten die Braunen ausgeschaltet. Genauso, wie sie vor zwei Tagen das Altonaer Rathaus besetzt und den sozialdemokratischen Oberbürgermeister in die Flucht getrieben haben.

„Die Nazis sind sehr schlau“, hat der Vater mal gesagt.

„Jedenfalls ihre Führer. Schlau und brutal sind sie. Und leider durchschauen sie nur wenige“, hat Max Kirchhoff gesagt.

„Sonst würden wir vielleicht etwas gegen sie machen können“, hat Bernd Sommer hinzugefügt.

Maria hat gesehen, wie wütend die beiden Männer gewesen sind. Vor allem angesichts ihrer eigenen Ohnmacht. Jetzt sind sie beide auf derselben Seite, als Gegner der Nazis. Als Kämpfer für die Freiheit. Denn Axels und Pauls Vater wollen das gleiche. Nur haben sie verschiedene Wege eingeschlagen, hat der Vater gesagt. Sie wollen, dass die Menschen friedlich zusammen leben.

Maria überlegt, ob vielleicht auch die Nazis das gleiche wollen und es nur auf ihre Weise zu verwirklichen suchen. Aber nein, die Nazis sind böse und sehr gefährlich. Besonders für sie Juden.

„He, du bist dran!“

Axel stößt sie an. Maria erwacht aus ihren Gedanken und versucht, sich auf das Spiel zu konzentrieren.

Axel ist bereits sehr siegessicher: er hat drei Murmeln versenkt. Paul seine liegen auch sehr gut. Pauline geht mit ihren letzten fünf sparsam und vorsichtig um. Drei liegen ganz nah an der Mulde, die das Ziel darstellt.

Maria zielt genau und trifft eine von Pauls Murmeln. Beide Kügelchen rollen in die Mulde, die Axel in den Gehweg vor seinem Haus gegraben hat.

„Mensch, gut!“

Axel freut sich für sie. Maria zielt nochmal. Doch diesmal rollt die kleine rote Kugel an der Mulde vorbei und bleibt ein paar Zentimeter weiter vor den Füßen einer älteren Frau liegen.

„Schade“, lächelt die Frau.

Es ist die alte Frau Silberstein von Nr. 38. Sie hat immer ein freundliches Wort oder ein Lächeln für Kinder. Ihre leuchtenden, flinken Augen strahlen freundlich.

„Na, wer gewinnt denn?“ fragt sie mit ihrer weichen hellen Stimme.

„Er!“

Paul deutet auf Axel. Der grinst stolz und setzt seinen Siegeszug fort. Die nächste Murmel landet haargenau in der Mulde.

„Oh“, sagt die alte Frau. „Na, Pauline? Das schaffst du aber auch, nicht wahr?“

Paulines Murmel rollt tatsächlich genau in die Mulde, in der bereits zehn bunte Kügelchen liegen.

„Sehr schön“, freut sich die alte Frau mit Pauline.

„Und ihr anderen? Nur Mut, ihr schafft das bestimmt auch.“

Paul versenkt eine seiner Murmeln.

„Gut, Paul“, freuen sich die alte Frau und die kleine Liza, die – ihre Puppe im Arm – neugierig zuguckt.

Stolz sieht Paul seinen Freund Axel an.

„Diesmal gewinne ich“, prophezeit er. „Dann kriege ich alle meine schönen Murmeln wieder, die du mir abgewonnen hast.“

Axel lacht.

„Glaubst du“, grinst er und wedelt mit seinem Murmelbeutel, in dem die Beute aus den letzten Spielen klimpert.

„Jetzt seht lieber Mariechen zu“, lächelt die alte Frau.

Maria zielt und trifft. Jetzt hat sie noch zwei Murmeln übrig; Axel hat noch drei.

„Nun zeig mal, was du kannst“, grinst sie.

Axels Murmel kullert über den Sandweg und stößt eine von Pauls weiter in Richtung Mulde. Beide bleiben etwa einen Fingerbreit neben der Mulde liegen.

„Der große Meister ist wohl etwas geschwächt“, lächelt die alte Frau Silberstein freundlich und greift in ihre große Einkaufstasche.

„Hier. Zur Stärkung“, lächelt sie und reicht jedem eine bunte Zuckerstange.

„Vielen Dank“, rufen alle fünf glücklich.

„Vielen Dank noch für die Lakritzstange und die anderen Sachen“, sagt Maria.

Die alte Frau lächelt freundlich.

„Gern geschehen, mein Kind“, sagt sie und geht dann nach einem freundlichen Nicken in die Runde langsam weiter.

„Du bist dran“, sagt Axel zu Paul, der auch nur noch drei Murmeln übrig hat.

Paul versenkt eine von Marias Murmeln gleich mit.

„Danke schön“, grinst Maria.

„Bitte schön“, grinst der kleine Junge zurück.

Pauline trifft die Mulde nicht, Axel auch nicht. Dafür versenkt aber Maria gleich zwei Stück

„Ha, was soll denn das?“

Axel verfolgt die Spielzüge mit wachsendem Missfallen.

„Diesmal gewinnt Maria“, lacht Paul, als Axel die letzte Murmel daneben spielt.

„Wetten nicht?“

Die kleine Liza schlägt ein.

„Um die Ehre“, lacht sie.

Ihr bringt das Zugucken viel Spaß; besonders, wenn sie dabei auch noch an einer Zuckerstange schlecken kann.

„Du triffst“, feuert Paul Maria an.

Maria lacht.

„Ach was.“

Sie glaubt nicht so recht an ihr Glück. Doch Paul gewinnt seine Wette. Die kleine Liza ist nicht traurig. Sie streckt Paul die Rechte hin.

„Hier, meine Ehre“, sagt sie todernst.

Paul grinst. „Nee, nee. Behalt sie ruhig.“ Er ist großzügig.

„Aber ich hab doch verloren“, widerspricht das kleine Mädchen und sieht ihn mit ihren mandelbraunen Augen erstaunt an.

„Strafe muss sein“, sagt auch Pauline.

Axel nickt ebenfalls. Paul überlegt.

„Na, was?“ will Liza wissen. Paul zögert. „Ein Kuss?“ fragt er leise.

Das kleine Mädchen errötet. Doch dann fasst sie sich ein Herz und drückt ihre Lippen kurz auf seine.

Axel und Pauline grinsen. Auch Maria lächelt. Liza schaut mit hochroten Wangen zu Boden. Paul sieht Axel stolz ins Gesicht.

„Na, was sagste nun?“

Er überspielt seine Verlegenheit glänzend.

„Wie süß!“ spottet Axel und zwinkert Maria übermütig zu.

„Und was ist mit mir?“ fragt Pauline.

Sofort wenden sich beide Jungen zu ihr um und sinken mit geneigtem Kopf wie ein Ritter vor seiner Dame auf ein Knie. Dann schauen sie treuherzig zu Pauline auf, die zu lachen beginnt. Sie lacht und lacht immer weiter.

„Jaja, ihr zwei beiden!“

Sie lacht, bis sie Seitenstechen bekommt.

„Wieso?“ fragt Paul frech. „Was willste denn noch? Ich mag Liza, na und?“

Er zieht das kleine Mädchen an sich und legt einen Arm um ihre schmalen Schultern. Liza wird rot und beißt sich auf die Lippen. Maria zwinkert ihr zu. Da findet das zierliche Mädchen sein niedliches Lächeln wieder.

„Was macht ihr denn hier? Schert euch weg! Dies ist ein Bürgersteig und kein Kinderspielplatz.“

Erschrocken fahren sie zusammen. Vor ihnen steht Herr Braun.

„Verschwindet“, schnaubt er und tritt nach den Murmeln in der Mulde.

Hastig klauben sie ihre Murmeln zusammen und flüchten auf die andere Straßenseite. Herr Braun sieht ihnen nach, betritt dann aber doch den Hausflur von Nr. 18. Er wohnt auf derselben Etage wie Kirchhoffs, will aber am liebsten eine der Wohnungen im Erdgeschoss beziehen. Am liebsten die, in der Müllers wohnen.

Herr Müller ist sehr gläubig und hat früher die christliche Partei Zentrum gewählt. Jetzt geht er nicht mehr nach draußen, da er ein steifes Bein hat. Er ist im Hof gestolpert, als er Kohle aus dem Keller holen wollte. Beinah hätte er sich auf der Treppe den Hals gebrochen, als er über den Besen fiel, der schlecht sichtbar im Weg stand. Der Besen gehört Herrn Braun.

„Blöder Kerl“, brummt Paul.

„Wer hat denn jetzt wie viele?“ will die kleine Liza wissen.

„Sechzehn lagen drin“, erinnert sich Pauline.

„Plus eine von Maria, macht siebzehn“, sagt Paul.

„Such dir siebzehn raus“, bietet Axel an und hält ihr seinen Beutel mit den bunten Kügelchen hin. Paul und Pauline halten ihr die vollen Hände hin.

Maria sucht sich die schönen blauen von Axel heraus, sechs rote von Paul, vier weiße von Pauline und zwei von ihren eigenen grünen.

„Ich hatte noch vierzehn“, sagt Paul und sucht sich welche aus.

„Ich war schon pleite“, murmelt Pauline betreten.

Paul, Axel und Maria werfen einander einen raschen Blick zu. Dann sagen alle drei gleichzeitig „Hier“ und drücken Pauline je drei, vier Murmeln in die Hand.

„Danke“, grinst Pauline.

„Du sollst ja mitspielen können“, erklärt Axel.

Pauline grinst noch breiter.

„Kommt, wir spielen nochmal“, schlägt sie dann vor.

Axel nickt begeistert. Er will sein Eigentum zurückgewinnen. Aber kaum haben sie sich niedergelassen, da reißt auch schon Herr Braun im 1. Stock ein Fenster auf.

„Verschwindet!“ schreit er. „Das ist ein öffentlicher Bürgersteig!“

Und er knallt das Fenster wieder zu, dass es in den Angeln bebt und die Fensterläden wackeln.

„Na, denn nicht!“ Paul starrt wütend zum Fenster hoch.

„Kommt, dann spielen wir halt Fußball.“

Sie gehen auf den Hof, der hinter den Häusern 16, 18 und 20 liegt und auf die von der Parallelstraße stößt. Man kann durch die angrenzenden Häuser auf die nächste Straße gelangen, an der auch Frau Steiners Laden liegt. Dort gibt es neben Nahrungsmitteln und Süßigkeiten auch Schulhefte und Bleistifte. Maria hat sich gerade letzte Woche einen schönen kaufen dürfen. Einen mit roten und weißen Streifen hat sie genommen.

Axel läuft schnell ins Haus Nr. 20 und holt seinen Ball, der aus Lumpen besteht. Wenn man nicht aufpasst, verstaucht man sich die Zehen, oder sieht nach einem Kopfball Sterne, so hart ist das runde Ding, das einen Ball darstellen soll.

„Die gleichen Mannschaften wie vorgestern?“ fragt Pauline.

Axel nickt. Er hat mit Maria und der kleinen Liza gegen Paul und Pauline gespielt.

Zwei alte Holzkisten sind die Tore, das Spielfeld verläuft längs den Häusern.

Paul und Pauline haben den Ball. Pauline spielt gut Fußball. Auch Maria und die kleine Liza sind nicht schlecht. Die beiden Jungen haben ihnen nicht nur die Regeln erklärt, sondern ihnen auch einige Tricks verraten. Die Mannschaften sind gleich stark.

Die kleine Liza steht immer hinten in der Abwehr. Paul und Pauline stürmen zusammen, keiner von beiden ist Torwart. Trotzdem schaffen es Axel und Maria selten bis vors gegnerische Tor. Dafür schießen Paul und Pauline schnell jeder ein Tor. Dann hat Axel das eher eiförmige Lumpenbündel. Flink läuft er vor, passt Maria zu und wartet vor dem gegnerischen Tor auf eine Flanke. Doch Maria zieht es vor, selbst zu schießen. Und sie trifft. Laut jubelnd läuft sie mit Axel zusammen wieder in die eigene Spielfeldhälfte zurück, um Pauls und Paulines Angriff abzuwarten. Da fliegt im 1. Stock ein Fenster auf.

„Ist hier bald mal Ruhe?“ brüllt Herr Braun.

„Wo sollen die Kinder denn sonst spielen?“ fragt jemand hinter Maria. Es ist Pauls Vater, der das gefragt hat. Er steht da in seinem Mantel, die Arbeitermütze schief auf den dunklen Locken, in der Linken die Tasche, aus der die Thermoskanne hervorlugt.

„Was weiß ich“, brummt Herr Braun. „Auf der Straße oder so.“

Paul zupft seinen Vater am Ärmel.

„Da hat er uns aber vorhin weggeschickt“, sagt er laut.

Max Kirchhoff sieht ärgerlich zu dem Mann im Fenster hinauf.

„Wer gibt ihnen denn das Recht, die Kinder von einer öffentlichen Straße zu verscheuchen?“ fragt er betont deutlich.

Herrn Braun bleibt die Spucke weg.

„Na, dann geht man“, sagt Pauls Vater mit einem Zwinkern zu ihnen.

Gemeinsam gehen sie ins Haus Nr. 18. Max Kirchhoff steigt die Treppe zum ersten Stock hinauf. Maria geht mit den anderen wieder hinaus auf die Straße.

*****

 
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