Radikalisierung

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Im Prozess der Radikalisierung treffen häufig eine kurzfristige und eine mittelfristige, ja sogar langfristige Entwicklung zusammen. Man radikalisiert sich nicht in ein paar Tagen. Der Prozess nimmt mehr Zeit in Anspruch, er setzt Monate der „Reifung“ voraus: anfangs ganz unscheinbare Veränderungen der Denkweise, der Affektivität, des sozialen Umgangs des Betreffenden, dessen Umgebung zuweilen eine merkwürdige Veränderung spürt, ohne sie recht greifen zu können. Die kurzfristige Entwicklung kann nach einer individuellen, in manchen Fällen auch kollektiven „Reifezeit“ (von mehreren Individuen gemeinsam) im Übergang zur Gewalttat bestehen: Geiselnahmen, Morde, Massaker … Einmal in Gang gekommen, schließt die Radikalisierung eine symbolische Mobilisierung ein, bei der die Medien dazu beitragen, den Status des „negativen Helden“ aufzubauen, den die Radikalisierten (extremistische Islamisten oder säkulare Extremisten wie Breivik in Norwegen) sich bereitwillig zu eigen machen. Diese symbolische Dimension, die bei den klassischen Spielarten des Terrorismus nicht zu beobachten war (die Anarchisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts legten es nicht auf diese Art der Berühmtheit an), unterstreicht den psychoanthropologischen Aspekt neuer Formen der Radikalisierung.

Bis in die 1980er Jahre, vor dem Berliner Mauerfall, konnte die Radikalisierung auf ein wohldefiniertes und staatlich untermauertes ideologisches Inventar zurückgreifen. Die bipolare Welt ließ für eine „Psychologisierung“ der Radikalisierung keinen Raum. Das Psychische spielte eine Rolle, aber alles war darauf angelegt, seine Wirkungen in Grenzen zu halten. In beiden Blöcken gab es eine gut eingeführte Terminologie, genau bestimmte Einsätze und institutionalisierte Formen sozialen Verhaltens, die eine „individuelle Verwilderung“ sehr unwahrscheinlich machten. Heute dagegen hat die Radikalisierung zwar „objektive Gründe“ (Exklusion von Jugendlichen mit muslimischen Migrationshintergrund, Konflikte in der islamischen Welt, die proisraelische Politik der Vereinigten Staaten gegenüber den Palästinensern …), aber die rein subjektive Dimension gewinnt eine immer größere Bedeutung. Sie ist es, die durch einen soziologischen und anthropologischen Zugang freigelegt werden kann.

Der Begriff der Radikalisierung wirft daher in den Sozialwissenschaften Erkenntnisprobleme auf, die weit über die von Sicherheitsbedürfnissen geleitete Perspektive der Geheimdienste und der Polizei hinausgehen.

Bleibt festzuhalten, dass der Begriff des Terrorismus ein Gebiet absteckt, das sich mit dem der Radikalisierung weitgehend deckt.3 Er soll eine soziologische Erklärung für die Tendenz bestimmter Gruppen bieten, zu ideologisierter Gewalt zu greifen (Wieviorka 1988). Aber er schließt den Staatsterrorismus ein, während Radikalisierung, wie wir schon hervorgehoben haben, auf begrenzte Gruppen beschränkt ist und den Staat gerade ausschließt. Wenn es um den Begriff Terrorismus geht, interessiert sich der Soziologe weniger dafür, dass Individuen sich radikalisieren, als vielmehr für die politische und soziale Bedeutung des Problems. Die Rolle der Individuen, ihrer mentalen und psychischen Verfassung, bleibt der sozialen, politischen und internationalen Dynamik untergeordnet. Der Begriff der Radikalisierung dagegen lenkt die Aufmerksamkeit des Soziologen auf das Individuum, seine Subjektivität, die Modalitäten seiner Subjektwerdung und seines Anschlusses an die Gruppe. Und auf die Interaktion von Gruppe und Individuum in einem Zusammenspiel, in dem die individuelle Psychologie ebenso eine Rolle spielt wie das Charisma des Anführers und die von der Gruppe proklamierten Ideale. Auch im Begriff der „Masse“ mit ihren komplexen Beziehungen zum Führer, wie Freud, Canetti oder Le Bon sie beschreiben, finden sich Querverbindungen zu dem der Radikalisierung. Aber der Radikalisierungsbegriff ist vor allem auf den radikalen Islamismus und seine Eigentümlichkeiten zugeschnitten und stellt den „sektiererischen“ und „gesellschaftsfeindlichen“ Charakter der meisten Gruppen heraus, die diesem Weltbild anhängen – im Namen einer Ideologie, die sich unmittelbar auf die Religion beruft, und säkularer Ideologien, deren Angelpunkt das „Volk“ oder das „Proletariat“, die „weiße Rasse“ oder das „Arische“ ist, mythische Personifikationen immanenter menschlicher Kollektive.

Der Begriff der Radikalisierung versucht, eine allgemeine sozialwissenschaftliche Erklärung für ein zumindest aus westlicher Sicht seltsam anmutendes Phänomen zu geben: Die Rückkehr des Religiösen in einer gewalttätigen Form, in der das letzte Ziel der Akteure der Tod ist – sei es der dem Feind zugefügte, sei es der durch ihn erlittene, durch den man Märtyrerstatus erlangt. Das Phänomen hat eine völlig neuartige Dimension, zumal in seiner massiven Verbreitung bei denen, die sich dem geheiligten Tod, dem Märtyrertum, verschrieben haben, um einen Kampf zu führen und Werte zu verteidigen, die seit der Aufklärung längst überwunden schienen: Die in Europa und namentlich in Frankreich herrschende Überzeugung, die Entscheidung über soziale und politische Belange liege beim „Volk“, lässt für Gott keinen Raum mehr. Angesichts jener Rückkehr mehren sich Stimmen, die den „innerweltlichen“ Blick der Sozialwissenschaften in Frage stellen. Tatsächlich geht es dem Begriff der Radikalisierung unter anderem darum, eine immanente Erklärung für Beweggründe zu bieten, die von den Akteuren selbst als „transzendent“ ausgegeben werden – im Rekurs auf eine Religiosität, die in den 1960er Jahren noch als veraltet, ja archaisch galt. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive soll der Radikalisierungsbegriff die Überlebensfähigkeit von „todesträchtigen“ Formen der Religiosität (die Feier des Märtyrertodes) oder – das Oxymoron ist aktueller denn je – „neoarchaischen“ Ausdrucksmöglichkeiten erklären, bei denen es unter religiösen Vorzeichen zu einer Verkehrung der Lebensideale kommt. Die Herausforderung an die Adresse der Sozialwissenschaften besteht darin, diesen Typ von Religiosität ohne Rekurs auf die Theologie zu erklären. Die theologischen Vorstellungen der Akteure müssen einen nichttranszendenten, immanenten Bedeutungsgehalt haben, der sich in soziologischen und anthropologischen Begriffen klären lässt.

Im Westen steht im Übrigen das massive Auftreten der Radikalisierung in einem ganz bestimmten Kontext, nämlich dem der Deinstitutionalisierung. Zahlreiche Institutionen haben zum Schaden weiter Teile der Bevölkerung eine Schwächung erfahren, manche sind ganz zerfallen. Das gilt für die Gewerkschaften oder für politische Parteien wie die Kommunistische Partei, deren Verschwinden oder Marginalisierung die wirtschaftliche und soziale Integration der Unterschichten extrem erschwert hat. Solange in Frankreich und Italien die Kommunistische Partei stark war, bot sie zahlreichen Arbeitern oder Arbeiterkindern eine genau umrissene soziale Identität und eine damit einhergehende Selbstachtung. Der Niedergang der Kommunistischen Partei hat sich überdies in einer Situation vollzogen, in der ein bedeutender Teil der Unterschichten wirtschaftlich ausgegrenzt wurde und keine sozialen Aufstiegsmöglichkeiten mehr hat. Wenn zur Exklusion die Stigmatisierung hinzukommt, entsteht eine explosive Mischung. Doppelt geschlagen und ihrer politischen Ausdrucksmittel beraubt, neigen diese Gruppen dazu, entweder in stummer Passivität zu verharren, die von wachsender Kriminalität begleitet wird, oder aber ihrem Aufbegehren durch eine Gewalt Ausdruck zu verleihen, zu deren Ausdrucksweisen der radikale Islamismus zählt. Die Lage verschärft sich aufgrund der mentalen Verfassung derjenigen, die zu einem solchen Typus von Aktion neigen. Der Bezugspunkt „islamisch“ setzt einen Steigerungsmechanismus in Gang, der sehr weit führen kann, sobald die Symbole des Dschihad, des Heiligen Krieges, einmal mobilisiert sind und Aktivistengruppen aus anderen Teilen der Welt, insbesondere über das Internet, eine Verstärkerfunktion ausüben. In der muslimischen Welt haben die neoliberalen Politiken der Öffnung, der Infitah, Ende der 1980er Jahre die implizite Übereinkunft in Frage gestellt, die darin bestand, den Autoritarismus zu akzeptieren, um im Gegenzug in den Genuss sozialer Vergünstigungen zu kommen. Der Dschihadismus ist Ausdruck dieser Situation, in der das Aufbegehren, aber auch das offenbare Scheitern des autokratischen Nationalismus und der Mythos des „ursprünglichen Islam“ neue antimoderne Utopien hervorbringen.

Außer Frage steht die Beziehung zwischen Dschihadismus und sozialer Exklusion – in Europa die Exklusion der Generationen mit Migrationshintergrund, die der Marginalisierung überantwortet sind, in der muslimischen Welt die Exklusion modernisierter Gesellschaftsschichten, vor allem der Mittelschicht. Zahllose ausgebildete Jugendliche finden dort keinen Arbeitsplatz, fühlen sich von despotischen und korrupten Machthabern ausgegrenzt und werden zu selbsternannten Fürsprechern der zu Armut oder Machtlosigkeit verurteilten Schichten (mustadafun). Dazu kommt das Ende der bipolaren Welt, in der die Ideologie auf der einen wie der anderen Seite eine maßgebliche Rolle spielte. Der Islam übernimmt fortan die Funktion, die einst Utopien kollektiven Heils hatten, sei es in ihrer marxistischen Version (der Klassenkampf, der der sozialen Ungerechtigkeit ein Ende setzt), sei es in ihrer liberalen Version (der Markt als Wunderlösung aller Probleme).

In der Forschung wird Radikalisierung häufig als Verknüpfung einer extremistischen Ideologie mit einem mehr oder weniger organisierten Gewalthandeln begriffen (Bronner 2009). Gewalthandeln ohne radikale Ideologie kann verschiedene Formen annehmen (Kriminalität, mehr oder weniger situationsbedingte oder durch mentale Störungen hervorgerufene Gewalt). Und radikale Ideologien können auf einer theoretischen Ebene verharren, ohne zum Einsatz von Gewalt zu führen. Von Radikalisierung im strengen Sinne des Begriffs kann erst dann gesprochen werden, wenn es zu einer Verbindung beider kommt.

 

Eine zu massiver Gewalt führende Radikalisierung war nicht vor der Einführung neuer Technologien möglich. Erst mit der Erfindung des Dynamits, der Fotografie und der Telegrafie war es den Dezembristen (antizaristischen Revolutionären in Russland vom Dezember 1825) möglich, eine Reihe von Taten zu verüben, denen eine mehr oder weniger große Zahl von Menschen zum Opfer fiel, und dafür zu sorgen, dass die Nachricht von diesen Taten um die ganze Welt ging. Zugleich hat der Wille zur Selbstbehauptung durch den vom Dschihadismus gefeierten Märtyrertod zu neuen Formen des Handelns geführt, etwa dem der „menschlichen Bomben“, die bereit sind, sich zu opfern, um Dutzende, ja Hunderte von Personen mit sich in den Tod zu reißen (Cook 2010; Kepel 2003). Und die Medien werden im großen Stil dafür genutzt, die Nachricht zu verbreiten, um die „Feinde“ einzuschüchtern und den „Freunden“ Mut zu machen.

Kennzeichnend für die Radikalisierung ist die Verknüpfung einer radikalen Ideologie mit der finsteren Entschlossenheit, sie in die Tat umzusetzen.4 Wir haben es also mit einer zweifachen Radikalität zu tun, die keines ihrer beiden Elemente für sich genommen besitzt. Auf der einen Seite die extremistische Ideologie, auf der anderen die extremistische Gewalttat, die gewiss unter dem Einfluss jener Ideologie steht, aber ihre irreduzible Besonderheit besitzt und sich nicht in der bloßen Ausführung erschöpft. Ist der Übergang zur Tat einmal vollzogen, folgt sie in Anbetracht der Risiken und Notwendigkeiten ihrer Ausführung einer eigenen Logik.

Festzuhalten ist auch, dass es Radikalisierung nicht allein in muslimischen Ländern oder bei Gruppierungen gibt, die sich im Westen oder anderswo (Indien, Thailand, China …) auf den Islam berufen. Man kann sich im Namen anderer religiöser oder säkularer Ideologien radikalisieren, wie es sie auf der ganzen Welt gibt: Neonazismus und Neofaschismus in Europa, ökologischer Extremismus (Ökoterrorismus, ein Ableger der deep ecology), Pro-Life-Ideologien, die nicht davor zurückschrecken, gewaltsam gegen Abtreibung oder Homosexualität vorzugehen (Tote in den Vereinigten Staaten und den muslimischen Ländern). Gleichwohl steht der radikale Islamismus im Zentrum der überwältigenden Mehrheit der Studien zur Radikalisierung, nicht allein wegen der Wucht der Anschläge vom 11. September 2001 und der wechselvollen Geschichte des Mittleren und Nahen Ostens, sondern auch, weil die islamistischen Anschläge in Europa und den Vereinigten Staaten gegenüber jenen, die auf das Konto anderer Formen des Terrorismus gehen, als sehr viel bedrohlicher erlebt werden (selbst wenn die Zahlen das Gegenteil sagen). Wie die Bedrohung im Westen wahrgenommen wird, hängt also entscheidend von der symbolischen Dimension des islamistischen Terrors ab.

Im Prozess der Radikalisierung lassen sich verschiedene Phasen voneinander abheben:

•die Phase der Präradikalisierung,

•die der Identifikation des Akteurs mit radikalen Bewegungen,

•die der Indoktrinierung als Beeinflussung durch extremistische Lehren und schließlich

•die Phase der direkten Einbeziehung der Adepten in die Ausführung von Gewalttaten (Silber & Bhatt 2007; McCauley & Moskalenko 2008).

•Die Theorien der Radikalisierung konzentrieren sich mit unterschiedlicher Gewichtung auf kulturelle, politische, psychologische und internationale Faktoren, aber auch auf Faktoren innerhalb der radikalisierten Gruppen sowie auf die Rolle der Medien und sozialen Netzwerke (Internet) … Sie betonen die Auflösung sozialer Bindungen5 wie auch politische Faktoren und deren Wahrnehmung durch die radikalisierten Akteure (Crenshaw 2005). Manchen Analysen ist es vorwiegend um Besonderheiten von Splittergruppen zu tun, die sich gegenüber der Außenwelt verschließen. Zur Radikalisierung kommt es hier durch Abschottung innerhalb einer sektiererischen Organisation, die eine starke, gegen die Gesamtgesellschaft gerichtete Identität ausgebildet hat. Innerhalb der Untergrundgruppe hat man alle Brücken zur Gesellschaft und zur Realität abgebrochen, um nur noch den Kontakt zu anderen Gruppenmitgliedern aufrechtzuerhalten, die ihrerseits keine anderen Kontakte mehr pflegen und der Außenwelt feindlich gegenüberstehen. Durch das Leben in diesem verborgenen und abgeschlossenen Universum im Zeichen eines Reinheitsideals, das bis zur Gewalt gegen andere gehen kann, wird man zusehends „radikalisiert“.6

Die Beteiligung an Gewalttaten kann eine individuelle Entscheidung sein (der einsame Wolf). Oder sie ergibt sich, wenn das Individuum sich einmal einer Gruppe angeschlossen hat, aus der Interaktion mit deren Mitgliedern. Entscheidend sind sowohl die Abschottung gegenüber der Außenwelt – insbesondere in Verbindung mit Strategien, die das Abtauchen in den Untergrund voraussetzen7 – als auch die Dynamik innerhalb der Gruppe. Hat sie den Weg in die Gewalt einmal eingeschlagen, ist die Gruppe bedroht, was eine gemeinsame Identität stiftet, durch die diejenigen sozialen Dynamiken verstärkt werden, die den Zusammenhalt der Gruppe über das rationale Urteil von Einzelnen stellen. Daher kann der Einsatz von Gewalt umso verlockender werden, je mehr die Gruppe kraft ihrer sektiererischen Isolation den Realitätssinn verliert. Natürlich greift nicht jede sektiererische Gruppe zur Gewalt. Und nicht alle Mitglieder solcher Gruppen radikalisieren sich. Aber sind die Elemente der Radikalisierung einmal beisammen, kann die gemeinsame Abschottung gegenüber anderen den Übergang zur Gewalt begünstigen.

Bei bestimmten Individuen spielen die im Internet geknüpften Beziehungen zu radikalisierten Gruppen eine wesentliche Rolle. Das Individuum wie seine „Kampfgenossen“ üben gewalttätige Reflexe ein, und die wechselseitige Imitation wie der Heldenkult verstärken ihre antagonistische Haltung gegenüber der Gesellschaft. Die Führerschaft nimmt in solchen Gruppen eine dezentrale und nicht hierarchisierte Form an (Sageman 2004; Leiken & Brooke 2006). In dieser Hinsicht schwächen derlei Netzwerke die Rolle der Persönlichkeiten und rufen radikale Splittergruppen ohne Führer (leaderless) auf den Plan (Sageman 2008).

Man kann diese Auffassung freilich bestreiten, insbesondere im Hinblick auf die Entfaltung neuer Formen der Radikalisierung im Gefängnis, aber auch auf der Straße, wo der charismatische Führer eine unleugbare Rolle dabei spielt, andere, zuweilen unterwürfige oder psychisch gefährdete Personen in Gruppen einzubinden, die weniger als drei Mitglieder haben können (Khosrokhavar 2013).

Bestimmte Experten wollen die Radikalisierung aus dem Zusammenspiel der Entscheidungsprozesse innerhalb terroristischen Eliten, der Motivation von Individuen auf der Ebene einfacher „Infanteristen“ und schließlich der organisatorischen Probleme der Rekrutierung und der Sozialisation der Rekruten erklären.8 Diese Elemente tragen zur Radikalisierung durch die Kumulierung ihrer Effekte in der Interaktion innerhalb der geschlossenen Gruppe bei.

Andere insistieren auf kulturellen Prägungen und der entscheidenden Rolle, die sie in einem globalisierten Kontext spielen. Auf diesen kulturalistischen Zugang geht etwa die Rede von „Gewaltkulturen“ (Jürgensmeyer 2003) oder „gewalttätigen Subkulturen“ in Gesellschaften zurück. Im Übrigen können Gruppierungen aufgrund ihrer Stigmatisierung oder ihrer Geschichte (das mag der „interne Kolonialismus“ oder jede andere Kränkung sein, die Grund zur Klage gegen die Gesamtgesellschaft gibt) ein starkes Gefühl der Viktimisierung, ein Opferbewusstsein, entwickeln („wir sind die unschuldigen Opfer der Gesellschaft“), das sie zur „legitimen“ Gewalt gegen andere greifen lässt.

Ein anderes Korpus von Forschungen zur Radikalisierung konzentriert sich spezifischer auf religiöse Ideologien. Diese Forschungen verweisen darauf, dass in den durch Immigration entstanden muslimischen Gemeinschaften in Europa strenggläubige Auslegungen des Islam (vor allem in Organisationen wie den Tablighi Jamaat oder bei den Salafisten) auf fruchtbaren Boden stoßen. Daher die Sympathie für radikale Versionen der Religion Allahs (Coolsaet 2005). Diese Theorien bleiben freilich eine Antwort auf die Frage schuldig, weshalb extremistische Versionen anderer Religionen nicht in den „Heiligen Krieg“ münden.

Schließlich versuchen sich Theorien der rationalen Entscheidung (rational choice theories) an einer „rationalen“ Deutung radikalen Handelns. Aus ihrer Perspektive gehen terroristische Akte als bewusst vollzogene Handlungen auf eine wohlüberlegte Entscheidung zurück, die auf Strategien setzt, mit denen sich die ins Auge gefassten Ziele am besten erreichen lassen – insbesondere dann, wenn der Gegner auf militärischer Ebene derart überlegen ist, dass die Gruppe in einem klassischen Krieg keine Aussicht auf einen Sieg hätte (vgl. Gambetta 2005). Wenn al-Qaida sich für den Terrorismus entscheidet, ist dies in Anbetracht der eigenen Größe im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und zum Westen überhaupt eine rationale Entscheidung für eine Strategie, die der Organisation Handlungsmöglichkeiten einräumt, die ihr in einem klassischen Krieg verschlossen blieben. Die Radikalität der Akteure hat also eine Dimension, die sich nicht aus affektiven Gegebenheiten erklären lässt, und ist Teil eines strategischen Kalküls, das eine eigene „Rationalität“ besitzt.

Grundlegend für die neuen Formen der Radikalisierung ist das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer imaginären Gemeinschaft. Durch die Identifikation mit einer Neo-Umma (die ersehnte innige muslimische Gemeinschaft von mythischer Homogenität) versucht der Dschihadist der kalten Gesellschaft, in der er lebt, zu entrinnen, wo seine Anomie (Nichtzugehörigkeit zu einer identitätsstiftenden Gruppe) mit Stigmatisierung und sozialer Bedeutungslosigkeit einhergeht.

Mein Ansatzpunkt ist der einer soziologischen Akteurstheorie, die das Handeln des radikalisierten Individuums in einer globalisierten Welt in den Blick nimmt, in der sein Verhalten drei Bedingungen gehorcht:

•als gedemütigtes Individuum: Das ist der Fall der Jugendlichen aus französischen Vororten und getto­isierten Vierteln in Großbritannien oder der von Israel gedemütigten jungen Palästinenser, aber auch der Jugendlichen des Nahen und Mittleren Ostens, die häufig eine gute wissenschaftliche Ausbildung genossen haben, aber keine Arbeit finden oder sich von autoritären Regimen ausgegrenzt fühlen … Ob sie aus den Unterschichten oder der Mittelschicht stammen – diese Individuen werfen dem System vor, sie zur Bedeutungslosigkeit zu verurteilen und zu demütigen, indem es sie politisch und ökonomisch an den Rand drängt.

•als viktimisiertes Individuum: Demütigung, Frustration, Rassismus, soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung werden innerhalb einer imaginären Struktur erlebt, die dem Individuum das halb reale, halb fiktive Gefühl, keine Zukunft zu haben, vor verschlossenen Türen zu stehen, kurzum: das Gefühl einer inneren Gettoisierung vermittelt.

Wer diese Situation passiv erduldet, mag in die Kriminalität oder individuelle Gewalt abrutschen. Wer dagegen aufbegehrt und aktiv wird, tut dies häufig, indem er seine innere Erfahrung ideologisiert und durch Übernahme dschihadistischer Vorstellungen seinen Hass gegen die „Nichtmuslime“ richtet. Der Islamismus bietet eine aktivistische Alternative, die linksextreme Ideologien nicht mehr zu bieten vermögen,

•als Mitglied einer verfolgten Gruppe, der „Neo-Umma“, die in den historisch gewordenen muslimischen Gemeinschaften (der muslimischen Umma) keine Entsprechung hat. Dieses Zugehörigkeitsgefühl lässt das Individuum seine Stigmatisierung überwinden und verleiht ihm eine neue Identität. Born again, wiedergeboren, erfährt es, wie in einer Gesellschaft, deren unerbittlicher Feind es geworden ist, seine Stellung sich gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt. Zuvor von niedriger sozialer Stellung – Immigrant oder Immigrantensohn, Palästinenser, eingesperrt in eines der erstickenden Viertel im Gazastreifen, oder Ägypter, der in einem Elendsviertel lebt –, wird der junge Mann zum Helden des Islam, der die Gestalt einer „Religion der Unterdrückten“ annimmt. Gegenüber der bekämpften Außenwelt gewinnt er den Status des „negativen Helden“ (siehe weiter unten): Je mehr die in schwarzen Farben gemalte Welt ihn fürchtet, verabscheut, zurückstößt, desto größer sein Ruhm – ein Held für alle, die sein Glaubensbekenntnis teilen, ein Staatsfeind für alle anderen. Die Berichterstattung der Medien, durch die er sich selbst als „Medienheld“ erfährt, lässt zur rationalen Dimension die narzisstische hinzutreten. Die ganze Welt wird ihn kennen, die Medien, die doch auf der Seite des Gegners stehen, werden ihn emporheben und verherrlichen. Mohammed Merah trägt eine Kamera um den Hals, um seine Taten zu filmen und sie über die Fernsehkanäle in der gesamten Welt zu verbreiten; Moussaoui hält im Mai 2006 vor Gericht menschenverachtende Reden, in denen er die Opfer des 11. September beleidigt, weil er nur zu gut weiß, dass seine weltweite Berühmtheit umso mehr wächst, je mehr er die Empörung der Amerikaner erregt und sich als finstere Gestalt darstellt. Diese Dimension des „negativen Stars“ ist grundlegend für die Subjektivierung derer, die sich heute radikalisieren, insbesondere die Dschihadisten, aber auch jemandes wie Anders Breivik, der zur extremen Rechten zählende norwegische Terrorist, auf dessen Konto das Gemetzel vom 22. Juli 2011 geht. Breivik hatte „Werbung“ für seine Ideologie gemacht, indem er am Tag des Anschlags elektronisch ein Dokument verbreitete, das seinen „Kulturkonservatismus“, seinen Ultranationalismus, seine Islamophobie, seinen Antifeminismus, seinen „weißen Nationalismus“ und seinen Zionismus feiert, um dem Multikulturalismus „Eurabias“9 und den Muslimen entgegenzutreten, die es zur Rettung des Christentums aus Europa zu vertreiben gelte. 1518 Seiten stark, ging sein Manifest 2083, das er nicht auf Norwegisch, sondern auf Englisch verfasst hatte, um es der ganzen Welt zugänglich zu machen, an mehr als tausend Adressaten, unterstützt von zahlreichen Posts auf der Seite document.no, die ihrerseits der weltweiten Information und Verführung dienen sollten. Für Breivik waren die Anschläge selber Teil seines Werbefeldzugs für das Projekt eines neuen Europa.

 

Diese drei Dimensionen, die im Kontext der Globalisierung ineinandergreifen, haben die radikalisierten Personen verinnerlicht. Die Gewalttat und die Berichterstattung über sie sind nicht mehr voneinander zu trennen. Die symbolische Dimension, die nicht allein der Information, sondern auch der Einschüchterung und Verführung dient, und die Konditionierung des Gegners durch den Schock der Bilder (die beim Täter das Gefühl der Allmacht wecken) gehen Hand in Hand mit der Brutalität der Tat: Das radikalisierte Subjekt handelt nicht allein, um Schaden anzurichten, sondern auch, um im Dienst der eigenen Sache „die Trommel zu rühren“.

Im Übrigen radikalisiert man sich stets aus dem Gefühl heraus, man selbst oder die Gruppe, der man sich zugehörig glaubt, sei Opfer tiefer Ungerechtigkeit, und aus der Überzeugung, dass reformerische Absichten dagegen nichts ausrichten. Nicht jedes Gefühl einer unerträglichen Ungerechtigkeit führt zur Radikalisierung, aber jede Radikalisierung setzt dieses Gefühl bei den Akteuren an der Basis voraus. Das Gefühl der Ungerechtigkeit kann eine Alltagserfahrung sein (die Unterdrückung der Tschetschenen durch die russische Armee, der Palästinenser durch die israelische Armee, der Kaschmirer durch die indische Armee, um nur ein paar Fälle zu zitieren), die eine Radikalisierung nationalistischen Typs nach sich zieht. Aber die Ungerechtigkeitserfahrung kann sich auch durch eigene Erfahrung oder Übertragung auf die gesamte Weltsicht eines sich radikalisierenden Akteurs ausdehnen. Junge Franzosen maghrebinischer Herkunft, die unter sozialer Marginalisierung leiden, übertragen die Erfahrung der Palästinenser mit der israelischen Armee auf ihre eigene Situation in den französischen Vorstädten, wenn sie gegen Ordnungskräfte aufbegehren. Diese imaginäre Übertragung hat nicht zwangsläufig eine reale Entsprechung (die französische Polizei ist nicht die israelische Armee), aber sie nährt sich durch Nachahmung und erstreckt sich schließlich auf sämtliche sozialen und politischen Beziehungen des Individuums. Um das bereits zitierte Beispiel noch einmal aufzugreifen: Wenn Jugendliche aus französischen Vorstädten sich in dem Glauben radikalisieren, der Westen verfolge den Islam, dann stützen sie sich nicht nur auf eigene Erfahrungen mit den Ordnungskräften (Muslime, die von der Polizei misshandelt werden, die Islamophobie), sondern zitieren auch bosnische, afghanische, irakische oder malische Beispiele, um daraus den Schluss zu ziehen, dass Frankreich und die Vereinigten Staaten sich verschworen haben, um die Muslime auf der ganzen Welt zu unterdrücken. Also verwandeln sie sich in Retter des Islam und entscheiden sich für den Dschihadismus im Inland (Mohammed Merah) oder im Ausland (die Gruppe um Farid Benyettou). Das Imaginäre, die Subjektivierung, die Nachahmung, die subjektive Übertragung und das Gefühl der Erniedrigung spielen im Prozess der Radikalisierung eine maßgebliche Rolle. Der junge Franzose nordafrikanischer Herkunft versetzt sich in die Lage des Palästinensers oder, allgemeiner, des muslimischen Arabers, der von Israel oder vom Westen gedemütigt wird. Der junge „Paki“10 identifiziert sich mit dem von der indischen Armee unterjochten Kaschmirer, der junge Tschetschene begehrt gegen die Unterdrückung der russischen Armee auf, aber er kann sich, noch realitätsferner, durch Übertragung auch gegen das Aufnahmeland radikalisieren und sich zum Helden des Islam im erbarmungslosen Kampf gegen ein unterdrückerisches „Amerika“ erklären.

Die Radikalisierung gewinnt also eine imaginäre Dimension ausgehend von Bildern, die man im Internet oder im Fernsehen gesehen hat, und aufgrund von Freundschaften, die nicht nur in der Nähe (die Kumpel), sondern auch in der Ferne, im Internet oder im Gefängnis mit Individuen geschlossen werden, die schon radikalisiert sind oder aufbegehren, weil sie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit (als Muslim) oder ethnischer Merkmale (als Araber, Schwarzer, „Gris“, wie Franzosen maghrebinischer Herkunft in Frankreich genannt werden) ungerecht behandelt werden.

Auf anthropologischer Ebene hat die Radikalisierung eine unleugbare politische Dimension, die sich aber auf eine Weise ausdrückt, die man infra- oder suprapolitisch nennen kann (Wieviorka 1988). Infrapolitisch: Indem es sie mit einer affektiven Dimension überblendet und Gewalt zum Mittel seines Handelns macht, bringt das radikalisierte Individuum seinen Groll und seinen Willen zur Veränderung zum Ausdruck, ohne auf Lösungen zu sinnen, die politisch umsetzbar wären. Gewalt kann durchaus zu Lösungen führen, aber häufig verschärft sie Spannungen und hat eine kontraproduktive Wirkung, weil sie den Gegner seinerseits radikalisiert, statt Verhandlungsbereitschaft zu wecken. Die suprapolitische Dimension liegt darin, dass es mitunter haltlose Utopien sind, die zur Radikalisierung führen (die Utopie eines universalen, in sämtlichen islamischen Gesellschaften, ja der ganzen Welt herrschenden Neokalifats, der die Dschihadisten anhängen, ist metapolitisch und so wenig zu verwirklichen wie eine klassenlose Gesellschaft).

Dergestalt wird die Politik durch die Logik der Radikalisierung fehlgeleitet, insbesondere dann, wenn Letztere sich einer supranationalen oder transnationalen Utopie verschrieben hat. Robert Pape (2006) hat darauf hingewiesen, dass die überwältigende Mehrheit von Selbstmordattentaten nicht religiösen Motiven, sondern der Anwesenheit einer fremden Armee auf nationalem Gebiet geschuldet ist. Tatsächlich ist es mir darum zu tun, zwischen zwei Typen von Utopie zu unterscheiden. Die erste ist begrenzt und beruht häufig auf präzisen Beanstandungen und „realistischen“ Forderungen. Der Nationalismus oder seine islamonationalistische Spielart sind das verbreitetste Modell. Das angestrebte Ideal ist ein konkretes, nämlich die Bildung einer Nation. Das ist der palästinensische Fall, aber auch der kaschmirische, tschetschenische … Wenn dieser Utopie derart unüberwindbare Hürden im Weg stehen, dass die Verfechter an ihrer Verwirklichung verzweifeln, tritt eine zweiter Typ von Utopie auf den Plan, den ich „entfesselt“ nenne und bei dem es sich um die Radikalisierung des erstgenannten Typs handelt. Auf den ersten Fall trifft die Hypothese von Robert Pape zu: Nimmt eine fremde Armee für einen mehr oder weniger langen Zeitraum ein Gebiet ein, so besteht bei eklatantem Missverhältnis der Kräfte eines der Mittel zu ihrer Bekämpfung in Selbstmordanschlägen. Ist die Utopie dagegen „entfesselt“ – wie der globale Kampf gegen den Imperialismus, die Errichtung einer weltweiten klassenlosen Gesellschaft oder das von al-Qaida und den von ihr beeinflussten Gruppen verfochtene Neokalifat –, ist ihre Verwirklichung in keiner absehbaren Zukunft denkbar. In Europa haben die Entscheidung für den radikalen Islamismus und die wenigen Selbstmordanschläge nichts mit einer bewaffneten Präsenz im Heimatland ihrer Urheber zu tun, bei denen es sich größtenteils um hausgemachte Terroristen handelt. Diese werden von einem doppelten Groll umgetrieben. Demütigung im Heimatland (in Europa) und Bedrängnis der muslimischen Länder anderswo verschränken sich in einem Modell, in dem die imaginäre Konstruktion von eminenter Bedeutung ist. Die Radikalisierung ist im Fall der beschränkten Utopie anderer Art als in dem der entfesselten Utopie.

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