Die NATO

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Anzahl gefechtsbereiter und in Reserve gehaltener NuklearwaffenAtomwaffen (Quelle: Kristensen und Korda (2020), Kristensen et al. (2020), Kimball (2019), eigene Darstellung)

Ab den 1960er Jahren herrschte zwischen den beiden Polen ein Gleichgewicht des SchreckensGleichgewicht des Schreckens (balance of terrorbalance of terrorGleichgewicht des Schreckens), in dem die Sowjetunion die USA und umgekehrt hätten auslöschen bzw. beträchtlichen Schaden an Territorium und Bevölkerung zufügen können. Zu diesem Gleichgewicht trugen auch Frankreich und das Vereinigte Königreich bei. Nachdem es bereits mit dem USA im Rahmen deren Manhattan-ProjektManhattan-Projekt (Nuklearprogramm)s, das die US-amerikanische Atomwaffe hervorbrachte, kooperiert hatte, entwickelte Großbritannien ab 1945 allein weiter, zündete seine erste Atomwaffe im Jahr 1952 und baute danach eine Atomstreitmacht auf. Großbritannien verlässt sich bis heute auf US-amerikanische ballistische Trägerraketen, die es mit selbstentwickelten Sprengköpfen bestückt und auf eigenen strategischen U-Booten5 stationiert (Görtemaker 1979, 56ff.; Schrafstetter 2010, Kap. 1; Yost 1984, 50). Das Vereinigte Königreich besitzt ca. 120 einsatzbereite AtomwaffenAtomwaffen. Frankreich hatte seit 1951, vor allem aber unter dem Antrieb des ehemaligen Weltkriegsgenerals und späteren Staatspräsidenten Charles de Gaullede Gaulle, Charles den Erwerb von NuklearwaffenAtomwaffen vorangetrieben, sodass Frankreich 1960 seine erste AtombombeAtomwaffen zündete und in den Jahren danach eine unabhängige AbschreckungAbschreckung (nuklear) und Nuklearstreitmacht, die sogenannte force de frappeforce de frappe (Frankreich) (Schlagkraft), entwickelte (Tertrais 2007, 71ff.). Zunächst basierte die französische Nuklearstreitmacht auf Bombern, während in den 1970er Jahren auch landgestützte ballistische Raketen und strategische U-Boote mit Nuklearraketen entwickelt wurden. Heute besitzt Frankreich keine Boden-Boden-Raketen mehr, sondern nur noch ca. 300 luftgestützte und seegestützte AtomwaffenAtomwaffen auf strategischen U-Booten (Kristensen und Korda 2019). Strategische Unterseeboote haben eine zentrale Rolle in der Sicherung der ZweitschlZweitschlagsfähigkeitagsfähigkeit, da sie nur schwer auffindbar sind und die nuklearen KapazitätenKapazitäten (militärische) eines Landes somit verteilen und vor Angriffen schützen (Brodie 1959, 218, 285). Dadurch wird das zweite Prinzip der AbschreckungAbschreckung (nuklear) implementiert: Glaubwürdigkeit der ZweitschlZweitschlagsfähigkeitagsfähigkeit (ibid., 273ff.). Die Entwicklung und der Erhalt eigener AtomwaffenAtomwaffen sind bis heute für beide Länder ein Zeichen ihres MachtMachtstatus in der internationalen Politik, von grandeurgrandeur (Frankreich) und empireempire (GB) (Grosser 1986; Schrafstetter 2010, 27, 37f.; Tertrais 2007, 76). Neben der AbschreckungAbschreckung (nuklear)skomponente gegenüber Gegnern sind sie aber vor allem auch ein Unterpfand der eigenen, nationalen Unabhängigkeit. Durch die SuezSuez(krise)krise mussten sowohl Frankreich als auch Großbritannien lernen, dass ihr eigener MachtMachtstatus nicht mehr dem früherer Kolonialzeiten entsprach. Die NuklearwaffenAtomwaffen sollten deshalb die ultimative souveräne Entscheidungsfähigkeit der Nation in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen herstellen (Schrafstetter 2010, 33f.; Vaïsse 2009b, 79ff.; Yost 1984, 49f., 54f.). Neben anderen Problemen war die nukleare Unabhängigkeit ein Grund für das französische Verlassen der integrierten Militärstruktur der NATO in den Jahren 1966/67 – eine Entscheidung für eine Sonderstellung, die Frankreich bis 2009 beibehielt (Irondelle 2009).

3.4.2 Konflikte: Kubakrise und die Debatte um flexible response

Das Gleichgewicht des SchreckensGleichgewicht des Schreckens sollte nichtKuba(krise) dazu führenflexible response, dass es keine Konflikte mehr zwischen den Nuklearmächten gab. Im Herbst 1962 stand die Welt am Rand eines nuklearen Abgrunds, als die Sowjetunion damit begann, nukleare taktische Sprengkörper und MarschflugkörperMarschflugkörper (cruise missilescruise missilesMarschflugkörper)1 sowie IRBMIRBM (Nuklearwaffe)s im sozialistischen Bruderstaat in der Karibik zu stationieren (Münger 2003, Kap. 6). Die IRBMIRBM (Nuklearwaffe)s hätten die meisten US-Städte südlich einer Kreislinie von San Francisco nach Seattle treffen können, die näheren davon nur mit einer sehr geringen Vorwarnzeit (George 2013, 182). Sie stellten für die USA eine unmittelbare Gefahr und fundamentale Verletzung der Monroe-DoktrinMonroe-Doktrin dar, post mortem benannt nach dem 5. Präsidenten der USA, James MonroeMonroe, James (1758-1831, Präsident 1817-1825), nach der kein anderer (europäischer) Staat in der nord- und südamerikanischen Hemisphäre in der Lage sein sollte, die Führungsposition der USA infrage zu stellen oder Besitzansprüche zu erheben. Die Handlungen der USA und der Sowjetunion im Verlauf der KubaKuba(krise)krise (Cuban Missile Crisis) waren extrem konfrontativ und bewegten sich an der Schwelle zu offenem Krieg und nuklearer Eskalation, bevor sie Ende Oktober 1962 nach ein paar heißen Wochen zu Ende gingen (George 2013; Görtemaker 1979, 42ff.). Es ging der Sowjetunion in der Krise zweifelsohne darum, PrestigePrestige, Status gegenüber den USA zu erlangen, ihre atomare Schlagfähigkeit gegenüber dem Gegner, die technologisch noch nicht so weit entwickelt war, massiv zu erhöhen und den Erzfeind der USA, Fidel CastroCastro, Fidel, in seinem kommunistischKommunismusen Kampf zu unterstützen. Die Ereignisse in KubaKuba(krise) standen zudem nach heutiger Auffassung in Zusammenhang mit der Berlin-KriseBerlin-Krise (Münger 2003, 202ff.). Der amerikanische und westliche Widerstand gegen ChruschtschowChruschtschow, Nikitas Drohung der Isolation der Hauptstadt und einer einseitigen Veränderung des Status quo wurde von der sowjetischen Führung als vehement und kompromisslos wahrgenommen, sodass eine graduelle Eskalation auf KubaKuba(krise) in Kombination der o. g. Gründe als gute Lösung erschien (Combs 2012, 267ff.; Wettig 2005). Knorr (1990, 223) erörtert, dass KubaKuba(krise) ein „‚Drucktest‘“ der Sowjetunion für den neuen, jungen Präsidenten KennedyKennedy, John F. sein sollte.

Auch innerhalb der Allianz gab es zunehmende Uneinigkeit über nukleare Fragen (Görtemaker 1979, 56ff.). Seit 1960 holte die Sowjetunion technologisch in der Raketentechnik2 auf und war dadurch in der Lage, mögliche nukleare Angriffe auf ihr Territorium zu kontern (Kahn 1960, 24). Westdeutschland sah wegen seiner Rolle als Frontlinienstaat eine Abschwächung der nuklearen Drohung mit Argwohn, weil dies eine Verlagerung konventioneller Gefechte auf bundesdeutsches Territorium zur Folge gehabt hätte, musste aber die Konsequenzen eines möglichen nuklearen Kriegs auf eigenem Territorium bedenken (Hellmann 2007, 608; Küntzel 1992, 54ff.). Gleichzeitig begannen nach chinesischChinaen Nukleartests (1964) 1965 die UN-Verhandlungen zum AtomwaffenAtomwaffensperrvertrag (NPTAtomwaffensperrvertrag (NPT), s. dazu nächster Abschnitt), sodass insgesamt Unsicherheit entstand, wie ernst es die USA mit der nuklearen Garantie meinten (Bockenförde 2013, 40f.; Snyder 1961, 7). Charles de Gaullede Gaulle, Charless Bonmot, dass „Kein US-Präsident bereit sein wird, Chicago für Lyon einzutauschen“ (Pedlow 1997, XXI), drückte die Stimmung vieler aus (Yost 1984, 29ff.; Kahn 1960, 15ff.). Durch die Entwicklung der Wasserstoffbombe hatte sich die Zerstörungskraft von AtomwaffenAtomwaffen vervielfacht, sodass eine thermonukleare Antwort auf kleinere Auseinandersetzungen nicht mehr adäquat erschien. Gerade mit Blick auf die Situation in Berlin nach dem Bau der Mauer 1961 wurde über die richtige Staffelung einer Eskalation mit der Sowjetunion nachgedacht, z. B. durch den Einsatz kleinerer, taktischer NuklearwaffenAtomwaffen (Brodie 1959, 261ff., 337ff.). Der amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamaraMcNamara, Robert, ein wichtiger Akteur in der KubaKuba(krise)krise, stellte aber heraus, dass KubaKuba(krise) gezeigt habe, dass NuklearwaffenAtomwaffen zwar wichtig seien, sie letztlich aber im Hintergrund von Auseinandersetzungen verblieben, in denen konventionelle Kräfte zunächst über Erfolg oder Misserfolg entscheiden würden (Pedlow 1997, XXII; s. auch Görtemaker 1979, 71f.; Snyder 1961, 63ff.). Gleichzeitig baute die Sowjetunion jedoch konsequent ein auf Europa zielendes, nukleares Drohungs- und Kriegspotentials auf (u. a. mit den SS-20-SS-20-RaketeRaketen, die zum NATO-DoppelbeschlussNATO-Doppelbeschluss führten, s. Exkurs). Somit trat die Nuklearfrage für die alliierte Verteidigungsstrategie für Europa nicht vollends in den Hintergrund, zumal die NATO seit Mitte der 1960er Jahre kaum vergleichbare nukleare KapazitätenKapazitäten (militärische) in Europa positionierte (Heuser 1995; Nuti et al. 2015; Yost 1984, 33ff., 87ff.).

Auf Basis dieser verschiedenen Überlegungen und Szenarien entstand ab 1962 die neue Doktrin der flexible responseflexible response. Nach dieser Nukleardoktrin wurde ein Atomangriff durch die NATO zwar nicht mehr ausgeschlossen, aber die IdeeIdeen (Konzept) war nun, dass „ein Angriff nun zunächst auf demselben Niveau beantwortet werden sollte, auf dem der Gegner angegriffen hatte“ (Bockenförde 2013, 40). Diese Strategie trug der neuen Situation Rechnung, dass im Falle eines alliierten Erstschlags ab den 1960er Jahren auch mit einer massiven nuklearen Antwort der Sowjetunion gerechnet werden musste, die ihre Raketenentwicklung vorangetrieben hatte.3 Außer Frankreich, das von der Strategie der massiven Vergeltungmassive Vergeltung nicht abweichen wollte, weil die durch flexible responseflexible response erhöhte Einsatzschwelle von NuklearwaffenAtomwaffen unvereinbar mit der eigenen AbschreckungAbschreckung (nuklear)sdoktrin gegenüber der UdSSR war (Kugler 1991, 57f.; Rühl 1997; Yost 1984, 54ff., 154f.), schlossen sich nach und nach alle Alliierten dieser Sichtweise an. Sie wurde jedoch erst nach dem französischen Austritt aus der integrierten Militärstruktur im Jahr 1967 offizielle Doktrin (Kugler 1991, 59; Combs 2012, 270f.). Letztlich verletzt flexible responseflexible response nicht die AbschreckungAbschreckung (nuklear)sprinzipien, weil in Anbetracht des engen und hochbevölkerten potentiellen europäischen Schlachtfelds auch ein begrenzter Einsatz von NuklearwaffenAtomwaffen schnell dieselben entgrenzten Folgen hätte haben können wie ein totaler Atomkrieg. Somit verschoben sich die Gefahren, genauso wie die Handlungsoptionen, wieder deutlicher in den konventionellen Bereich (Brodie 1959, 341). Auch das neue Strategische Konzept der Allianz aus dem Januar 1968 (MCMilitärkomitee 14/3, NATO 1968) trug dieser größeren Flexibilität in der militärischen Strategie der NATO Rechnung und formulierte wieder stärker konventionelle Antworten auf die Sicherheitsherausforderung durch die UdSSR. Durch die Einrichtung der Nuklearen Planungsgruppe im Dezember 1966 innerhalb der NATO-Militärstruktur wurde zudem ein neues Forum geschaffen, in dem Nuklearfragen auch unter Teilhabe der zwölf nichtnuklearen Mitglieder (und ohne Frankreich) besprochen werden konnten (Kugler 1991, 61f., 63ff.). Die 1968er Strategiedokumente waren flexibel genug, um bis zum Ende des Kalten KriegsEnde des Kalten Kriegs nicht mehr verändert werden zu müssen (Pedlow 1997, XXIIIff.). Es entwickelte sich nach 1968 dann eine größere EntspannungEntspannung(spolitik)sphase in der Blockkonfrontation, die sich durch erste Schritte hin zur RüstungskontrollRüstungskontrollee und AbrüstungAbrüstung ausdrückte. Der im Namen der NATO vom belgischen Außenminister Pierre HarmelHarmel, Pierre verfasste HarmelHarmel-Bericht-Bericht machte durch den Beschluss des NACNordatlantikrat (NAC) vom Dezember 1967 die Dualität aus Verteidigung/AbschreckungAbschreckung (nuklear) und EntspannungEntspannung(spolitik) zur offiziellen NATO-Strategie (Görtemaker 1979, 58ff.).

 

Exkurs: Der französische Rückzug aus der integrierten NATO-Militärstruktur 1966/67

Frankreich war ein starker Verfechter einer Politik nationaler AutonomieSouveränität, Autonomie (Grosser 1986, 223), die es sowohl aus historischem Antrieb als ehemalige Welt- und Kolonialmacht – seine letzte Kolonie Algerien gab Frankreich erst 1962 ab – mit demokratisch-universalistischem Führungsanspruch (grandeurgrandeur (Frankreich), Cerny 1980; Godin und Chafer 2006) als auch tagespolitischen, strategischen Gründen verfolgte. Frankreich positionierte sich nach dem Ende des Zweiten WeltkriegZweiter Weltkriegs klar im westlichen Lager, stand aber dem US-amerikanischen Führungsanspruch, den es als kulturgleichmachend und paternalistisch empfand, kritisch gegenüber, nicht zuletzt wegen des SuezSuez(krise)debakels und der US-amerikanischen Unterstützung für den Dekolonisierungsprozess. Charles de Gaullede Gaulle, Charles wandte sich daher strikt gegen eine Abhängigkeit von den USA (Grosser 1986, 191, 254 et al.) und wollte der Blockkonfrontation entkommen, die die US-Amerikaner*innen nach französischem Verständnis in den 1960er Jahren anheizten. De Gaulle widersetzte sich zunehmend der tiefgreifenden militärischen Integration in den NATO-Strukturen und zog bereits 1959 und 1963 französische Einheiten aus alliierten Marineverbänden ab (Vaïsse 2009a). Versuche zur Wiederbelebung eines amerikanisch-britisch-französischen Triumvirats zum Erreichen mehr außenpolitischer Koordination liefen ins Leere. Auch in Nuklearfragen waren Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten mit den USA an der Tagesordnung. Frankreich schlug (neben anderen Alliierten) ebenfalls US-Pläne zur Errichtung einer multilateralen Atomstreitmacht (MLF) aus, bei der ein Teil des Nukleararsenals der Verbündeten unter alliiertes Kommando gestellt worden wäre (Combs 2012, 269f.; Grosser 1986, 245ff.; Kugler 1991, 47ff.; Schmidt 1997, 115ff.; Vaïsse 2009b, 167ff.).

Die Divergenzen über die NATO-Integration, atomare Fragen und die Blockkonfrontation wurden schließlich so groß, dass de Gaullede Gaulle, Charles im Juni 1966 beschloss, der integrierten Militärstruktur – nicht aber der Allianz selbst, als dessen Teil er Frankreich unvermindert ansah – den Rücken zu kehren. Er zog in der Folge Luft- und Armeeeinheiten aus Deutschland ab und französische Offiziere verließen die gemeinsamen alliierten Stäbe, sodass beide nicht mehr unter direktem NATO-Oberbefehl standen. Daraufhin mussten US-amerikanische Truppen Stützpunkte in Frankreich und ihr EUCOM-Hauptquartier bis April 1967 verlassen und die NATO ihre politischen und militärischen Hauptquartiere aus Frankreich nach Brüssel und Mons (Belgien), verlegen.

Frankreich war durch diesen Schritt in der Lage, sich einen größeren AutonomieSouveränität, Autonomie- und Handlungsspielraum gegenüber den USA zu verschaffen, die nun neben der NATO auch bilateral mit Frankreich verhandeln mussten, um Einigkeit für die Verteidigung des nordatlantischen Raumes herzustellen. Frankreich kooperierte weiterhin auf militärischer und politischer Ebene mit der Allianz, konnte dies aber mit mehr Entscheidungsfreiheit tun (Vaïsse 2009b, 185ff.). Ironischerweise trug es so auch zu einer noch stärkeren Stellung der USA in der Militärstruktur bei. Diese vorteilhafte Position behielt Frankreich bis zum Ende des Kalten Krieges bei und blieb ihr auch darüber hinaus trotz erheblicher Einflusseinbußen nach dem Ende der Blockkonfrontation (Bertram 1997; Meimeth 1997; Menon 2000) bis ins Jahr 2009 treu, als es unter Präsident SarkozySarkozy, Nicolas in die Militärstruktur zurückkehrte (Fortmann et al. 2010; Ostermann 2019b). Zur Reintegration s. Exkurs in Kap. 4.3.

3.5 Beginn der Abrüstung und Entspannungspolitik ab 1963

DasAbrüstung seit denEntspannung(spolitik) 1960er Jahren bestehende Gleichgewicht des SchreckensGleichgewicht des Schreckens regte nach dem Ende der KubaKuba(krise)krise die Verantwortlichen in Sowjetunion und USA zum Nachdenken an (Münger 2003, 297f.) und führte langsam eine EntspannungEntspannung(spolitik) im Verhältnis zwischen den beiden Blöcken herbei, die bis Ende der 1970er Jahre auf eine Dualität von AbschreckungAbschreckung (nuklear) und verbesserten Beziehungen setzten (Erickson 2018, 403; Görtemaker 1979, 44, 46ff.; Niedhart 2014, 13ff.). Bereits 1963 wurde der Limited Test Ban TreatyLTBT (LTBTLTBT) zwischen UdSSR, USA und Großbritannien abgeschlossen, der Nukleartests in der Atmosphäre, unter Wasser und im Weltraum verbot, unterirdische Tests aber noch erlaubte (Görtemaker 1979, 73). Frankreich lehnte den Vertrag ab und unterzeichnete ihn nie. Es stand AbrüstungAbrüstungsgesprächen zwischen den USA und der Sowjetunion/Russland von je her kritisch gegenüber, weil es aus den Verhandlungen dazu meist ausgeschlossen war und die unabhängige AbschreckungAbschreckung (nuklear)skomponente seiner Nuklearstreitkräfte erhalten wollte (Grosser 1986, 249; Vaïsse 2009b, 179; Yost 1984, 54ff.).1 Insgesamt 125 Staaten schlossen sich dem LTBTLTBT an, sodass dies ein erster Erfolg von EntspannungEntspannung(spolitik) und AbrüstungAbrüstung zwischen den Blöcken war. Auch Deutschland unterzeichnete bereits im Jahr 1963 (United Nations o. J.-a). Interessanterweise war im Zuge der Gespräche zum LTBTLTBT auch eine Regelung der schwelenden Berlin-KriseBerlin-Krise möglich, weil die KennedyKennedy, John F.-Regierung auf Forderungen der UdSSR für eine formalere Feststellung der deutschen Teilung einging und somit de facto die innerdeutsche Grenze akzeptierte – sehr zum Unmut der westdeutschen AdenauerAdenauer, Konrad-Regierung, da die WiedervereinigungWiedervereinigung (deutsche) somit in weite Ferne rückte (Münger 2003, Kap. 9).

In der Folge entstanden Gedanken über weitere Schritte der RüstungskontrollRüstungskontrollee bis hin zu ersten IdeeIdeen (Konzept)n über AbrüstungAbrüstung. Letzteres war zwar aufgrund von Widerständen aus der Sowjetunion noch nicht möglich (Kugler 1991, 61), aber dennoch unternahm die internationale Gemeinschaft bereits ab 1965 einen Anlauf zu Verhandlungen zu einem AtomwaffenAtomwaffensperrvertrag, der zumindest die Verbreitung der Waffen eindämmen sollte.2 Die Verhandlungen führten am 1. Juli 1968 zur Unterzeichnung des Treaty on the Non-Proliferation(Non-)Proliferation pooling of Nuclear Weapons (NPTAtomwaffensperrvertrag (NPT)). Der NPTAtomwaffensperrvertrag (NPT) gilt mit seinen 191 Parteien (Staaten) als das Rückgrat internationaler AbrüstungAbrüstungs- und RüstungskontrollRüstungskontrollebemühungen. Er ist heute unbegrenzt gültig. 2019 waren nur Indien, Israel, Nordkorea, Pakistan und Südsudan nicht Vertragspartei (bpb 2015b).3 Der NPTAtomwaffensperrvertrag (NPT) unterscheidet zwischen AtomwaffenAtomwaffenstaaten (damals ChinaChina, Frankreich, Großbritannien, UdSSR, USA) und solchen ohne NuklearwaffenAtomwaffen. AtomwaffenAtomwaffenstaaten verpflichten sich, keine Waffen oder waffenfähiges Material (nukleare Brennstoffe, militärische Nukleartechnik) an andere Staaten weiterzugeben und niemanden zum Erwerb von AtomwaffenAtomwaffen zu ermuntern. Nichtnukleare Staaten verpflichten sich, den Erwerb von AtomwaffenAtomwaffen nicht anzustreben und anderen Staaten ebenfalls kein Nuklearmaterial zur Verfügung zu stellen. Des Weiteren etabliert der Vertrag einen Kontrollmechanismus für die nichtnuklearen Staaten in Kooperation mit der Internationalen AtomenergiebehördeIAEA (IAEAIAEA) und Überprüfungskonferenzen, die alle fünf Jahre stattfinden. Ausdrücklich vom Vertrag erlaubt ist die friedlichFriedene Nutzung der Kernenergie (d.h. für Atomreaktoren oder medizinische Zwecke; United Nations o. J.-b; Görtemaker 1979, 73ff.). Wenngleich der NPTAtomwaffensperrvertrag (NPT) die Proliferation von NuklearwaffenAtomwaffen nicht gänzlich stoppen konnte und einige Staaten wie Indien, Israel, Nordkorea oder Pakistan militärische Nuklearkapazitäten erreicht haben (s. Tab. 13), so hat er doch zusammen mit anderen Faktoren wie Protestbewegungen und einer sozialen NormNormenentwicklung gegen den Einsatz von NuklearwaffenAtomwaffen (Tannenwald 1999) eine weitgreifende Verbreitung von NuklearwaffenAtomwaffen verlangsamt und durch Transparenz und Überprüfung für mehr Sicherheit gesorgt (Erickson 2018, 404; Fuhrmann und Lupu 2016).

Parallel zum Inkrafttreten des NPTAtomwaffensperrvertrag (NPT) am 5. März 1970 verhandelten die UdSSR und die USA bereits über weitere RüstungskontrollRüstungskontrolle- und AbrüstungAbrüstungsabkommen. Diese wurden in den 1970er Jahren als SALT ISALT I & II (Strategic Arms Limitation TalksSALT I & II, 1972 unterzeichnet) und SALT ISALT I & III (1979) bekannt. Aus diesen langwierigen Gesprächen ging ein auf fünf Jahre geschlossenes Interimsabkommen zur Reduzierung land- und seegestützter Raketen hervor, das die Anzahl einsatzbereiter Sprengköpfe auf beiden Seiten reduzierte. Wichtigster Bestandteil von SALT ISALT I & II war das fast vollständige Verbot anti-ballistischer Raketensysteme im Anti-Ballistic Missile TreatyABM-Vertrag (ABMABM-Vertrag), der bis zum Rückzug der USA im Jahr 2002 galt (Ray 2020). Der ABMABM-Vertrag-Vertrag wird allgemein als Anerkennung des Prinzips der M.A.D.M.A.D. gesehen, also der Ära der mutually assured destruction (Yost 1984, 71ff.). Im Gegensatz zu den bisherigen Nichtverbreitungs- und Teststoppbemühungen untersagte dieser Vertrag die Entwicklung und Stationierung von Abfangsystemen (mit Ausnahmen für nur jeweils ein Gebiet und 100 Abwehrraketen), die einen erfolgreichen Angriff mit ballistischen Raketen verhindern könnten. Diese IdeeIdeen (Konzept) hatte zum Ziel, das Gleichgewicht zu wahren, indem die ZweitschlZweitschlagsfähigkeitagsfähigkeiten gesichert wurden und so nach Nuklearstratege Thomas C. Schelling geringere Anreize bestanden, aus einem Unsicherheitsgefühl heraus auf den Knopf zu drücken (zitiert nach Brodie 1959, 302; s. auch Combs 2012, 270f.; Görtemaker 1979, 77ff.; Müller und Schaper 2003, 11). Schelling und andere Nukleartheoretiker*innen wiesen in dieser Argumentation auf die Problematik von totalem Krieg im nuklearen Zeitalter hin. Trotzdem enthielten die Nukleardoktrinen der UdSSR und der USA vereinzelte offensive Elemente, vor allem auf Seiten der Sowjetunion mit ihrem nuklearen Droh- und Kriegsführungsdenken in Europa. In der UdSSR wurde die Möglichkeit eines nuklearen Kriegs trotz seiner Zerstörungskraft wohl zumindest ansatzweise strategisch durchdacht, in den USA lediglich akademisch (Kahn 1960; Yost 1984, 67ff.).

In der Zwischenzeit war außerhalb nuklearer Fragen mit der Akte von HelsinkiKSZE (1. August 1975) zur Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in EuropaKSZE (KSZEKSZE, 1973-1975) ein weiterer Rahmen für EntspannungEntspannung(spolitik)spolitik geschaffen worden. Unterzeichnet von 35 Staaten aus beiden Blöcken war der wesentliche Beitrag der KSZEKSZE-Schlussakte die Schaffung von Diskussionskanälen und Themen der Ost-West-Beziehungen jenseits von Fragen der Sicherheitspolitik. Zusätzlich vereinbarten die Staaten die Wahrung nationaler Souveränität und territorialer Integrität (Görtemaker 1979, 112ff.). Aus der KSZEKSZE ging 1995 die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in EuropaOSZE, die OSZE, hervor, die wichtige Aufgaben im Bereich der MenschenrechteMenschenrechte, RüstungskontrollRüstungskontrollee und Wahlbeobachtung übernimmt (bpb 2015a; Hill 2018; Roloff 2007). In Deutschland standen die späten 1960er und die 1970er Jahre gleichzeitig unter dem Zeichen der neuen OstpolitikOstpolitik unter BRD-Bundeskanzler Willy BrandtBrandt, Willy und später Helmut SchmidtSchmidt, Helmut (Schöllgen 2013b, Kap. 4, 5). Möglich wurde diese EntspannungEntspannung(spolitik)soffensive durch den Abschluss diverser OstverträgeOstverträge, die die Oder-Neiße-Grenze mit Polen endgültig festschrieben (Moskauer VertragOstverträge, Warschauer VertragWarschauer VertragOstverträge, beide 1970)4 und die Beziehungen zwischen der BRD und der DDR als gleichberechtigte Staaten regelten (GrundlagenvertragOstverträge 1972 – Sicherheit, Grenzen, Reiseverkehr, Familienangelegenheiten u. a., s. auch Görtemaker 1979, 106ff.; Schöllgen 2013b, 136ff.). Gemeinsam war den OstverträgeOstverträgen und der Helsinki-AkteHelsinki-AkteKSZE das Bekenntnis zu friedlichFriedenen Beziehungen als Grundlage europäischer Politik (Niedhart 2014, Kap. 5, 6; Roloff 2007, 781f.). Dass dies in Anbetracht der sicherheitspolitischen Konflikte zu einem gewissen Teil eher in die Zukunft gerichtete Hoffnungen und Absichtserklärungen waren, steht außer Frage (Görtemaker 1979, 62ff.; Niedhart 2014, 21).

 

Historisch sind diese konkreten Annäherungsschritte jedoch im Gesamtbild der konfrontativen Lage des Kalten KriegsKalter Krieg nicht zu unterschätzen. Wenngleich sie nicht immer in Einigkeit aller Partner erfolgten (Schulz und Schwartz 2010; Schöllgen 2013b, 125ff.), bereiteten sie doch die Regelungen der 1990er Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor (Hill 2018, 21ff.). Die EntspannungEntspannung(spolitik)spolitik der 1970er Jahre setzte also Unsicherheit, Verteidigung und AbschreckungAbschreckung (nuklear) nicht außer Kraft, sondern fand parallel zu ihnen statt. Trotzdem war die EntspannungEntspannung(spolitik)spolitik ein neues Element in den Beziehungen, dass das Weiterführen von RüstungskontrollRüstungskontrolle- und AbrüstungAbrüstungsinitiativen ermöglichte.

Exkurs: Der NATO-Doppelbeschluss

EndeNATO-Doppelbeschluss der 1970er Jahre begannen sich die Beziehungen zwischen den beiden Blöcken wieder zu verschlechtern. Die Sowjetunion hatte unter Leonid BreschnewBreschnew, Leonid große Anstrengungen unternommen, ihre Raketenarsenale zu modernisieren. Dies führte zur Entwicklung und Stationierung der neuen SS-20-SS-20-RaketeMittelstreckenraketeMRBM, IRBM (IRBMIRBM (Nuklearwaffe)), die mit ihrer Reichweite und größeren Sprengkraft europäische Hauptstädte bedrohte. Durch MittelstreckenraketeMRBM, IRBMn bestand eine ungleiche Bedrohungssituation, weil es für die vielen Städte Westeuropas kaum eine Vorwarnzeit gab und IRBMIRBM (Nuklearwaffe)s nicht von AbrüstungAbrüstungsabkommen gedeckt waren. Die Alliierten sorgten sich daher um die strategische Balance in Europa und waren allgemein wegen sowjetischer Aggressivität besorgt, da die UdSSR 1979 in AfghanistanAfghanistan(kriege) einmarschierte. Die BRD setzte sich unter Kanzler Helmut SchmidtSchmidt, Helmut besonders gegen die durch die SS-20 bestehende Bedrohung ein. Am 12. Dezember 1979 traf die NATO daher ihren so genannten DoppelbeschlussNATO-Doppelbeschluss, nachdem durch Verhandlungen innerhalb von vier Jahren versucht werden sollte, die UdSSR zum Abzug der SS-20 zu bewegen. Würde sie dies nicht tun, sollten neue US-amerikanische PershingPershing-II-Rakete II-Raketen (MRBMs) in Europa stationiert werden, um die strategische Dysbalance auszugleichen (bpb 2018; Combs 2012, 388; Schöllgen 2013b, 192ff.).

Die Gespräche steckten lange in einer Sackgasse, weil weder die Sowjetunion noch die USA bereit waren, auf die Forderungen der jeweiligen Gegenseite einzugehen und sich dieser Waffen zu entledigen. Daher stimmte der Bundestag am 22. November 1983 einer Beschlussvorlage zu, die die Stationierung der US-amerikanischen PershingPershing-II-Rakete II genehmigte. 572 MRBMs und atomare MarschflugkörperMarschflugkörper wurden in Belgien, Deutschland, Großbritannien und Italien stationiert. Die US-Raketen konnten so direkt das sowjetische Territorium erreichen (und nicht nur wie vorher Warschauer PaktWarschauer Pakt-Staaten), aber nicht Moskau. Die Sowjetunion antwortete mit neuen KurzstreckenraketeKurzstreckenraketeSRBM (Nuklearwaffe)n in der DDR und der Tschechoslowakei. In den Folgejahren konnte jedoch im Rahmen weiterer AbrüstungAbrüstungsgespräche unter GorbatschowGorbatschow, Michail und ReaganReagan, Ronald doch noch eine Einigung erzielt werden, die 1987 zum INFINF-Vertrag-Vertrag führte, der MRBMs und IRBMIRBM (Nuklearwaffe)s gänzlich verbot (s. u.; bpb 2018; Combs 2012, 388ff.).

In Deutschland (DDR und BRD) und anderswo setzte der NATO-DoppelbeschlussNATO-Doppelbeschluss eine bedeutende zivilgesellschaftliche Protestwelle in Gang, die im Oktober 1983, einen Monat vor dem Stationierungsbeschluss des Bundestags, ca. 1,3 Mio. Bürger*innen im Rahmen der FriedenFriedensbewegungsbewegung in der BRD auf die Straße brachte. Dies setzte eine Debatte über die Rolle von NuklearwaffenAtomwaffen in Gang. Ihre konsequente Opposition gegen AtomwaffenAtomwaffen brachte die Grünen bei den Neuwahlen im März 1983 in den Bundestag (bpb 2018; Schöllgen 2013b, 199f.).

Siehe auch:

Nuti, Leopoldo, Frédéric Bozo, Marie-Pierre Rey und Bernd Rother, Hrsg. (2015). The Euromissile Crisis and the End of the Cold War. Stanford (CAcounterinsurgency): Stanford University Press.

Yost, David S. (1984). Die Zukunft atomarer RüstungskontrollRüstungskontrollee in Europa. Von SALT zu STARTSTART I, II & III und INFINF-Vertrag. Koblenz: Bernhard & Graefe.

Unmittelbar nach dem Abschluss von SALT ISALT I & II im Jahr 1972 gingen die Verhandlungen daher weiter, um das Interimsabkommen zu land- und seegestützten Raketen zu konkretisieren. Sie führten erst im Jahr 1979 zu einem SALT ISALT I & III-Abkommen und dauerten somit deutlich länger. Dies lag vor allem an militärtechnischen Aspekten, die seit dem Abschluss von SALT ISALT I & II deutlich komplexer geworden waren, u.a. der Entwicklung von Raketen mit multiplen Sprengköpfen (MIRVMIRV (Rakete)s) durch die USA, die nach der Trennung unabhängig auf verschiedene Ziele gelenkt werden konnten. SALT ISALT I & III begrenzte die Anzahl von solchen land- und seegestützten ICBMICBM (Nuklearwaffe)/SLBMSLBM (Nuklearwaffe)s sowie die Anzahl von schweren Bombern und setzte eine allgemeine Obergrenze für alle Startvorrichtungen von 2.400 Waffensystemen. Das heißt, dass zwar mehr Waffen gelagert werden konnten, aber nur eine begrenzte Zahl abschussbereit, also auf eine Rakete montiert sein durfte (Görtemaker 1979, 82ff.). Der am 18. Juni 1979 in Wien von BreschnewBreschnew, Leonid und CarterCarter, Jimmy unterschriebene Vertrag wurde vom US-Kongress nicht ratifiziert, weil Präsident CarterCarter, Jimmy wegen der sowjetischen Invasion AfghanistanAfghanistan(kriege)s den Vertrag im Dezember 1979 aus dem Verfahren zurückzog (Combs 2012, 383ff.; Meiers 1991, 33ff.). Sowohl die USA als auch die Sowjetunion hielten sich in den Folgejahren aber an das Abkommen, das mit einer Gültigkeit bis 1985 ausgehandelt worden war (Ray 2020; State Department o. J.).