Der amerikanische Agent

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Im Geist rekapituliere ich die Anweisungen. An der Ecke Via Camillo Colombi entdecke ich das weiße Auto, einen Alfasud. Er ist exakt da geparkt, wo man es mir gesagt hat. Das Nummernschild stimmt. Ich nähere mich dem Wagen. Öffne den Kofferraum, der, wie erwartet, unverschlossen ist. Ich hebe den roten Trolley in den Kofferraum, mache ihn wieder zu, und als ich mich umdrehe, bemerke ich einen Mann. Ein junges Gesicht der Politik. Ein Versprechen aus dem Mitte-Rechts-Lager. Seit Monaten sehe ich ihn immer mal wieder im Fernsehen, vor allem in lokalen Sendern. Jetzt weiß ich, dass er Karriere machen wird. Ich gehe weiter, ohne mich noch einmal umzudrehen. Höre, wie er die Wagentür öffnet. Und wieder schließt. Vor allem aber höre ich das Knirschen der Gangschaltung.

»Er ist ganz schön nervös«, denke ich.

»Wer ist der Politiker?«

Simone Pace lächelt. Seine Stimme ist noch leiser, als er sagt: »Einer, der damals noch ganz am Anfang stand. Und der den Amerikanern offenkundig gefallen hat.«

»Und hat er dann Karriere gemacht?«

»Ja.«

»Wo ist er heute?«

»Er ist immer noch in der Politik«, antwortet Simone Pace und sieht mir in die Augen.

»Sein Name?«

»Sehen Sie, wie ich schon gesagt habe, handelt es sich um verdeckte Operationen. Es existiert kein einziges Dokument, kein einziger Beweis, der belegt, was geschehen ist. Den Namen sage ich Ihnen nicht. Zu Ihrer eigenen Sicherheit. Und zu meiner. Es gibt nicht viele Zeugen. Ich weiß, wer dieser Politiker ist. Er weiß es. Die Amerikaner, die die Operation genehmigt haben, wissen es. Auf der ganzen Welt gibt es drei, vier, höchstens fünf Personen, die den Namen kennen«, bemerkt Simone Pace. Er hat recht.

»Er ist also ein erpressbarer Politiker«, bohre ich nach. Das ist schließlich meine Aufgabe als Journalist.

»Sicher, aber erpressbar nicht durch mich. Das ist nicht mein Stil. Und wie gesagt, es gibt kein einziges Dokument, das belegt, was geschehen ist. Vielleicht haben Sie es noch nicht bemerkt, aber ein großer Teil der zeitgenössischen Geschichte ist auf Wasser geschrieben. Und zwar mit voller Absicht. Was man uns erzählt, ist nur die offizielle Version. Die Wahrheit lautet oft anders und ist gut versteckt. Die Demokratie oder vielmehr die im Verfall begriffene Demokratie der medialen Welt, in der wir heute leben, braucht die Lüge. Wenn die Wähler die ganze Wahrheit kennen würden, wie könnten dann die Herrschenden den Konsens aufrechterhalten?«

»Ich verstehe, was Sie meinen. Aber was war in dem roten Trolley? War er schwer?«

»Schwer? Wenn Sie glauben, es waren Waffen drin, lautet die Antwort Nein«, sagt Simone Pace und muss lachen.

»Nicht unbedingt Waffen, aber …«

»Ich habe den Koffer nicht geöffnet, er war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Aber es war Geld drin. Ich weiß nicht, wie viel, aber dieser Trolley war voller Geld«, verrät mir Simone Pace. »Patrick hat es mir gesagt, als er mir die Operation zugewiesen hat. Es ist Sommer 1989. Die Welt steht vor einem epochalen Umbruch: Fall der Berliner Mauer, Ende des Kalten Kriegs, Kapitulation der Sowjetunion. Und auch in Italien, das aufgrund seiner strategischen Lage am Mittelmeer ein wichtiger Verbündeter der Vereinigten Staaten ist, muss dieser Umbruch unterstützt werden. Nachdem die Amerikaner den Kalten Krieg gewonnen haben, denken sie vielleicht schon darüber nach, der korrupten Politik der Ersten Italienischen Republik ein Ende zu bereiten.«

»Ich verstehe.«

Simone Pace lacht. »Ja, aber diejenigen, die diesen Umbruch finanzieren und steuern, sind dieselben wie zuvor.«

»Wie ist der Koffer zum Flughafen Linate gelangt?«, frage ich.

»Das weiß ich nicht. Ich habe niemanden getroffen. Ich habe den Koffer vom Gepäckband dieses Fluges aus Rom genommen. So lautete die Anweisung.«

Niemand, fährt Simone Pace fort, sagt mir, ob meine Mitarbeit wertgeschätzt wird. Aber sie bezahlen mich weiter, und dafür muss es einen Grund geben. In meiner Dienststelle wird der Arbeitsrhythmus immer hektischer. Inzwischen fotokopiere ich fast alle Dokumente, die dann direkt nach Langley gehen. So stelle ich es mir jedenfalls vor.

Einmal im Monat, manchmal auch öfter, treffe ich mich mit Enrique. Der Venezolaner, der mich in Innsbruck dem Test unterzogen hat, hat Patricks Posten übernommen. Wir treffen uns jedes Mal in einem anderen Land oder einer anderen Stadt. Immer Samstagnachmittag oder Sonntag. Nie in der Schweiz. Eines Tages erklärt mir Enrique, dass aufgrund irgendwelcher Abkommen die Schweiz das einzige Land Europas ist, in dem die CIA nicht operieren kann.

Wenn ich die Instruktionen zu einem Treffpunkt erhalte, hoffe ich jedes Mal, dass er nicht allzu weit entfernt liegt. Denn je länger ich unterwegs bin, desto größer ist das Risiko. Wenn ich das Haus verlasse, bin ich unerreichbar. Nicht einmal zu Diana sage ich, wohin ich gehe. Falls etwas schiefgeht, darf meine Frau, selbst wenn sie unter Druck gesetzt wird, nichts zu erzählen haben. Diana weiß nichts von meinem zweiten Job. Ich schätze ihre Zurückhaltung. Im Lauf der Zeit jedoch merke ich, dass sie eine Erklärung für meine ständige Abwesenheit möchte. Manchmal bin ich nahe daran, ihr die Wahrheit zu sagen. Aber sie fragt nie nach. Und ich sage nichts. Bis heute bin ich überzeugt, dass ich mich richtig verhalten habe. Im Moment nimmt sie die Situation hin, wie sie ist. Wir haben keine Geldsorgen mehr. Und das hilft, die vielen Unstimmigkeiten zwischen uns zu lösen.

Nur die ersten Male, als ich verschwinde, sagt Diana: »Und wenn jemand nach dir fragt?« Ich erkläre ihr, sie solle sagen, wir hätten uns gestritten und ich sei rausgegangen. Aber es hat nie jemand nach mir gefragt. Wenn ich gezwungen bin, länger als einen Tag von zu Hause fortzubleiben, vermeide ich es anzurufen. Aber in einer Familie kann immer etwas passieren. So wie an jenem Abend, als ich die Tür öffne und niemand da ist. Auf dem Tisch liegt ein Zettel: »Mach dir keine Sorgen. Ich bin mit der Kleinen in der Notaufnahme.«

Ich soll mir keine Sorgen machen? Ich setze mich ins Auto und rase ins Krankenhaus. Ich hätte fast drei Unfälle gebaut und eine Frau auf dem Zebrastreifen überfahren. Die Kleine hat hohes Fieber. Sie erbricht. Nichts Ernstes, gewiss. Beschwerden, wie sie Kleinkinder öfter haben. Ich betrachte sie in ihrem Bettchen auf der Kinderstation des Krankenhauses und zittere und bange, von Schuldgefühlen gepeinigt.

GERALD BULL MUSS STERBEN

Enrique muss ganz plötzlich abreisen. Er verlässt Europa. Das teilt er mir an einem Sonntag Ende November in Florenz mit. Unser Treffpunkt ist die Piazza della Signoria. Bevor wir miteinander sprechen, gehen wir zwei Mal aneinander vorbei, ohne uns zu beachten. Wir wollen sichergehen, dass wir nicht beschattet werden. Das ist nicht leicht zu beurteilen. Der Platz wimmelt von Leuten unterschiedlichen Aussehens und unterschiedlicher Herkunft. Aber wir bauen auf unsere Erfahrung. Ich folge ihm, als ich ihn in die Via Chiasso dei Baroncelli einbiegen sehe, eine schmale Gasse zwischen der Loggia dei Lanzi und den sechs Fenstern einer schmalen, dreistöckigen Fassade. Es ist halb zwölf Uhr Mittag, und das Echo unserer Schritte erfüllt die kühle Luft. Plötzlich verlangsamt Enrique seinen Schritt, sodass ich ihn einholen kann. Er dreht sich um und begrüßt mich herzlich. Wir gehen nach links in die Via Lambertesca und dann gleich wieder nach rechts in die Via dei Georgofili. Hier übergebe ich ihm ein Konvolut mit Informationen über die Politiker der Sozialistischen Partei PSI in Mailand und über Spitzenfunktionäre der Industrie, die mit dieser Partei verbunden sind. Jetzt erreichen wir den Lungarno degli Archibusieri und wenden uns erneut nach rechts zum Arkadengang des Corridoio Vasariano.

»In welchem Jahr sind wir?«, frage ich ihn.

»1989«, antwortet Simone Pace.

»Die CIA interessiert sich also für den PSI und deren Vorsitzenden Bettino Craxi bereits drei Jahre vor Beginn der Ermittlungen wegen Korruption in den Parteien? Diese Untersuchungen, die Italien erschüttern, beginnen am 17. Februar 1992.«

»Ja«, bestätigt Simone Pace, »drei Jahre vor den Ermittlungen von Mani pulite. Bedenken Sie, wir haben Ende November 1989. Die Berliner Mauer ist am 9. November gefallen. Der Kalte Krieg ist zu Ende, und zu unserem Glück stehen wir aufseiten der Sieger. Es gilt, die Welt neu zu gestalten. Sie dürfen sich die CIA nicht als einen Spionagedienst vorstellen. Die CIA ist viel mehr als das, war es jedenfalls damals. Es gibt nicht nur operative Agenten wie mich. Ganz oben steht ein Kreis von Historikern, die imstande sind, Geschichte zu schreiben, bevor sich die Geschichte manifestiert. Fähige und kluge Historiker, die der Politik und dem Wählerkonsens wie Bulldozer den Weg ebnen, damit sich in den verbündeten Staaten der Wandel vollzieht, ohne dass Washington die Kontrolle darüber verliert. Diese Führungsspitze ist der Thinktank der CIA, die Denkfabrik, die Expertengruppe. Wir vor Ort sind die Ausführenden … die Ausführenden eines Plans, der uns nicht einmal enthüllt wird. In den Vereinigten Staaten gibt es viele öffentliche und private Thinktanks.«

Der große Moses hört ihm zu und beobachtet uns mit merkwürdigen Augenbewegungen. Das unablässig wechselnde Licht, das durch die großen Fenster fällt, ein Spiel von Sonne und Wolken, verwandelt die Reflexe auf dem behauenen Marmor in einen lebendigen Blick. Simone Pace fährt mit seiner Erzählung fort.

Enrique steckt das Dossier zur Sozialistischen Partei in einen Umschlag und klebt ihn zu. Dann legt er ihn in seinen Diplomatenkoffer aus schwarzem Leder. Wenn er angehalten wird, schützt ihn seine Immunität. Niemand darf seinen Koffer öffnen und nachschauen, was er darin versteckt hat.

 

»Wir müssen zu einer Trattoria in der Nähe, beim Ponte Vecchio, vor der wir verabredet sind«, sagt er dann.

Auf dem Gehsteig, nur wenige Meter entfernt, stehen zwei Männer. Sie haben uns den Rücken zugedreht und sehen uns nicht kommen.

»Buongiorno«, begrüßt Enrique sie und berührt flüchtig den linken Arm des Größeren der beiden in einem weißen Trenchcoat. Sie drehen sich gleichzeitig um. Ich weiß nicht, was ich für eine Grimasse schneide. Meine Gesichtszüge entgleiten mir. Mein Mund wird schlagartig trocken, und ich muss schlucken. Es ist unglaublich, wie in manchen Situationen die Zeit ihre Bedeutung verliert. Die Geräusche werden unscharf, gedämpft, wie durch Watte. Der Körper hat keine Bodenhaftung mehr. Giacomo? Die unvermeidliche Zigarre im Mund. Die Brille viel zu groß für sein Gesicht. Der Körper noch etwas schwerer als damals. Ja, er ist es. Der Ehrengast des Mittagessens im Restaurant Ibiza in Mailand. Der finstere Verschwörer, der uns am Tag des Jahrhundertschnees in das Büro in der Via Turati bestellt und mich gebeten hat, Informationen über einen Topmanager des größten italienischen Chemiekonzerns zu sammeln. Jenes Treffen, bei dem Mattia, der im militärischen Nachrichtendienst Karriere macht, feierlich und von sich eingenommen erklärt, wir seien es, die sich um die Sicherheit Italiens kümmern müssten. Enriques Stimme holt mich in die Gegenwart zurück.

»Darf ich dir Martin vorstellen?«, fragt er, und mein neuer Controller, der Kommandant, der von Langley geschickte Operationschef, schüttelt mir die Hand.

Ich versuche, mich auf ihn zu konzentrieren, um mein Unbehagen zu verbergen. Doch Giacomo entfernt sich, als ob nichts wäre und ohne uns vorgestellt worden zu sein. Er geht den Arno entlang in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Weder Martin noch Enrique sagen etwas. Ich suche bei ihnen nach Anzeichen der Verlegenheit, nach einvernehmlichen Blicken. Nichts. Es scheint, als wäre ich der Einzige, der Giacomo überhaupt gesehen hat.

Es ist ein kurzes Treffen. Plötzlich geben sie mir zu verstehen, dass sie es eilig haben. Enrique verabschiedet sich und sagt, er müsse nach Rom weiterfahren. Und sobald ich mit Martin allein bin, gesteht er mir, dass er alles andere als glücklich darüber ist, sonntags arbeiten zu müssen. Er möchte schnellstmöglich zu seiner Familie nach Mailand zurück. Ja, er bietet mir sogar an, mich mitzunehmen. Und was ist mit unseren Sicherheitsregeln? Natürlich lehne ich ab. Für einen so kurzen Austausch hätten wir uns, statt in Florenz, auch in Mailand treffen können.

Die Zugehörigkeit zu einer Behörde, einer Firma oder einer Mannschaft reicht nicht aus, um alle ihre Eigenschaften zu repräsentieren. Es sind die Menschen, die den Unterschied machen. Und jeder Mensch ist anders. Deshalb versetzt mich Martin, mein neuer Controller, von der ersten Minute unserer Begegnung an in Angst. Und das ändert sich auch nicht, als wir uns häufiger sehen. Aber ich sage nichts. Bevor wir uns verabschieden, beschließen wir, an dem mit Enrique abgesprochenen Terminplan für unsere Treffen festzuhalten.

Als auch Martin gegangen ist, bleibe ich noch ein paar Minuten und schaue vom Ponte Vecchio auf den Fluss hinunter. Auf das in Strudeln wirbelnde Wasser. Jahrhunderte der Geschichte und der Kunst haben den Arno auf seinem Weg ins Tyrrhenische Meer begleitet. Ich lasse den Blick langsam nach rechts und links schweifen. Als würde ich erwarten, dass etwas geschieht. Aber es geschieht nichts. Giacomo taucht nicht wieder auf.

Meine Rückfahrt habe ich für fünfzehn Uhr gebucht. Mir bleibt also noch Zeit für einen Spaziergang und ein kurzes Mittagessen. Ich schlendere zwischen den Ständen umher, an denen Krimskrams für Touristen ausgestellt ist, aber ich könnte auch irgendwo anders sein. Ich bin ein Gefangener meiner Gedanken.

Giacomo arbeitet für die CIA? Mir fällt ein, was Tommaso an dem Tag gesagt hat, als ich mit ihm im Auto fuhr: »Das ist der Geheimdienst, der steckt dahinter.« Aber welcher Geheimdienst? Die Italiener oder die Amerikaner? Und meine Deckung? Weiß Giacomo über meine Doppeltätigkeit Bescheid? Und wie viele wissen sonst noch davon?

Während der Zugfahrt überlege ich, dass es vielleicht klüger wäre, ganz aufzuhören. Dass es besser ist, dieses Spiel zu beenden, um mich und meine Familie zu schützen. Aber ich bin nicht jemand, der aufgibt. Und noch bevor der Zug in den Hauptbahnhof von Mailand einfährt, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass eigentlich gar nichts Ungewöhnliches passiert ist. Dass sie wissen, was ich mache. Und dass ich, wenn ich manche Dinge nicht wissen darf, sie eben einfach nicht wissen darf, und Schluss.

Die Wochen vergehen, und Martin scheint das Interesse an mir ganz verloren zu haben. Womöglich liest und gibt er ja nicht einmal die Informationen weiter, die ich ihm übermittle. Ich bin ziemlich enttäuscht. Aber auf diese Weise sind die Risiken, die ich eingehe, wenigstens nicht ganz so groß. Patrick hat einmal zu mir gesagt, dass es für alles eine Erklärung gibt. Und dass es für die CIA wichtig ist, vertrauenswürdige Leute zu haben, auf die man im richtigen Moment zählen kann.

Dieser Moment kommt an einem Spätnachmittag kurz vor Weihnachten, am 22. Dezember. Das Telefon auf meinem Schreibtisch klingelt.

»Hallo?«

»Ciao, wie geht’s?«, fragt er. Er braucht sich gar nicht vorzustellen. Sein Italienisch mit halb amerikanischem, halb abruzzischem Akzent ist unverwechselbar. Ich habe Wochen gebraucht, um dahinterzukommen, was es für ein Akzent ist. Martin ist am Apparat. Ich denke, er muss verrückt geworden sein, mich im Büro anzurufen. Oder es ist etwas wirklich Ernstes passiert.

»Sag bloß nicht, dass wir keine Zeit haben, uns schöne Weihnachten zu wünschen. Wir sehen uns heute Abend um sieben zu einem Aperitif. Bis dann«, sagt er und legt auf.

Ich sitze da, den Hörer in der Hand. Dann hebe ich den Kopf und bemerke, dass mein Kollege am Schreibtisch mir gegenüber mich ansieht.

»Ist etwas passiert?«, fragt er.

»Nein. Mir ist nur gerade eingefallen, dass ich noch das Geschenk für Diana kaufen muss. Wir machen an Heiligabend Bescherung, und so bleibt mir nicht mehr viel Zeit. Jetzt ist es schon sechs. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich gehe?«

»Wo hast du bloß deinen Kopf, Simone? Du willst doch nicht, dass sie sauer auf dich ist? Also dann bis morgen.«

Auf den Straßen herrscht viel Verkehr. In zwei Tagen ist Weihnachten. Ich beschließe, die U-Bahn zu nehmen. Ich bin fast zwanzig Minuten zu früh am vereinbarten Treffpunkt. Wie immer in solchen Fällen nutze ich die Zeit, um mich abzusichern: mir ein Alibi zu konstruieren und zu kontrollieren, ob ich beschattet werde. Das ist inzwischen zu meinem Lebensstil geworden. Egal, wohin ich gehe, erfindet mein Verstand eine Ausrede, eine Rechtfertigung dafür, dass ich an diesem Ort bin. Und ich lasse niemals zu, dass ein Auto oder eine Person mir längere Zeit folgt. Nach ein paar Kreuzungen ändere ich die Richtung oder halte an. Und wenn der Betreffende immer noch hinter mir ist, lasse ich ihn überholen.

Es ist neunzehn Uhr. Niemand ist zu sehen. Mir kommen Zweifel, ob ich nicht vielleicht die Stunden hinzurechnen muss, die wir für dringende Treffen einkalkulieren. Martin hat deren Anzahl von drei auf zwei verkürzt. Nach einer halben Stunde beschließe ich, meinen Standort zu wechseln. Der Notfallplan tritt immer eine Stunde später in Kraft.

»Ach so, ich muss Ihnen erklären, was ich mit Notfallplan meine«, sagt Simone Pace und wendet den Kopf zu mir.

»Ich kann es mir denken: Wenn einer der beiden das Treffen aus irgendeinem Grund verpasst, probiert man es eine Stunde später noch einmal.«

»Richtig.«

Ich setze mich an der Trambahnhaltestelle auf eine Bank, von der aus ich die Straße gut im Blick habe. Nacheinander erlischt die Beleuchtung der Ladenschilder und Schaufenster. Es ist acht Uhr vorbei. Gegen alle Regeln beschließe ich, noch etwas länger zu warten. Ich sehe Martin aus einem Taxi steigen und loslaufen. Er käme auch für den Notfallplan zu spät. Ich bin nicht einmal zwanzig Meter entfernt. Aber er sieht mich nicht sofort. Er sucht in der Menschenmenge. Ich stehe auf. Gehe ihm entgegen. Endlich entdeckt er mich.

»Entschuldige«, sagt er, »aber es ist ein Wahnsinnsverkehr. Ich musste das Auto stehen lassen und ein Taxi nehmen. Danke, dass du gewartet hast.«

»Was ist denn los?«, frage ich. Ich möchte wissen, warum er mich so dringend sehen will.

»Reden wir in einer Bar«, sagt Martin und senkt dabei die Stimme.

Wir suchen uns einen kleinen Tisch ganz hinten. Die Bar ist leer, bis auf den Mann am Tresen. Wir bestellen zwei Espressi und setzen uns.

»Simone, du hast doch in Belgien gearbeitet, stimmt’s?« Offenkundig kennt er bereits die Antwort.

»Ja«, sage ich.

»Hast du noch Freunde dort?«

»Ja, sicher. Ich habe immer noch Kontakt zu meinen Informanten.«

»Ausgezeichnet, Simone.« Martin lächelt. »Du musst so schnell wie möglich nach Brüssel.«

»Aber wie soll ich jetzt sofort vom Büro wegkommen?«

»Keine Sorge, nicht sofort«, sagt Martin beschwichtigend. »Wir werden dem italienischen Innenministerium mitteilen, dass sich in Brüssel mutmaßliche Terroristen aufhalten, die in Anschläge in Italien verwickelt sind. Wir werden dafür sorgen, dass die Ermittlungen …«

»Lass nur. Ich kann problemlos ein paar Tage Urlaub nehmen und nach Belgien fahren«, schlage ich vor.

»Simone, hast du schon mal von der Superkanone gehört?«, fragt er und schwenkt mit einer leichten Bewegung des Handgelenks den Espresso in seinem Tässchen, um ihn abkühlen zu lassen.

»Ich habe in der Zeitung darüber gelesen.«

»Wir können nicht tatenlos zusehen«, sagt Martin ernst und kippt seinen Espresso hinunter. »Die Israelis haben uns um Hilfe gebeten. Die Reichweite der neuen Waffe würde Israel zu einem Angriffsziel machen. Und ich bin überzeugt, dass die Israelis, wenn sie sich bedroht fühlen, nicht zögern werden, die Atombombe einzusetzen. Das hätte unabsehbare Folgen, weltweit.«

»Und?«, unterbreche ich ihn. »Was kann ich tun, was die beiden mächtigsten Geheimdienste der Welt nicht tun können? Martin, willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Wir müssen den Ingenieur ausschalten, der die Superkanone konzipiert. Die Operation wurde in Washington beschlossen. Aber der Kongress verbietet uns, zu töten und zu foltern. Außerdem ist der Ingenieur ein Bürger Kanadas, eines verbündeten Staates.«

»Dann sollen es doch die Israelis machen«, antworte ich und hoffe, dass dieses ganze Theater bald ein Ende hat.

»Sie werden es ja machen«, verrät Martin. »Aber sie wollen uns in Brüssel dabeihaben. Als Zeugen gewissermaßen. Wir können nicht kneifen. Du sprichst Englisch wie ein Amerikaner. Die Israelis werden denken, du bist einer von uns. Und wenn etwas passiert, wenn irgendetwas schiefgeht, werden die Vereinigten Staaten nicht involviert sein. Du bist kein amerikanischer Staatsbürger.«

»Noch nicht«, sage ich und trinke meinen inzwischen fast kalten Espresso.

Ich weiß: Ich könnte vom Tisch aufstehen und gehen. Ich bin im Begriff, alles aufs Spiel zu setzen. Mein Leben. Meine Familie. Aber um bestimmte Entscheidungen zu treffen, braucht man ein überdimensionales Ego. Und in jenen Jahren habe ich das leider.

»Denk darüber nach. Wir werden uns erkenntlich zeigen«, sagt Martin und führt das Tässchen noch einmal an den Mund, als er entdeckt, dass noch ein letzter Tropfen Kaffee drin ist.

Er lügt, das ist offenkundig.

»Ich möchte nur, dass ihr euch um meine Familie kümmert, wenn etwas passiert«, sage ich und senke den Blick auf die leeren Espressotässchen in der Tischmitte. Mir ist klar, dass meine Bitte ins Leere läuft.

Es vergehen drei Monate, bevor der von Martin angekündigte Plan umgesetzt wird. Zu Hause habe ich gesagt, ich sei mit einer Auslandsmission betraut. Als ich in Brüssel aus dem Bahnhof trete, sehe ich ihn sofort. Charles, mein belgischer Freund, hat Falten im Gesicht, er ist alt geworden. Seit unserer letzten Begegnung sind Jahre vergangen; die Kinder und eine gescheiterte Beziehung haben ihre Spuren hinterlassen. Wir umarmen uns wie alte Freunde. Er begleitet mich ins Hotel und sagt, er komme abends wieder, damit wir gemeinsam essen gehen.

»Um halb neun in der Lobby«, wiederhole ich, bevor wir uns verabschieden.

Ich gehe hoch in mein Zimmer. Ich schaue auf die Uhr. Erst zwei Uhr Nachmittag. Ich lasse meinen Blick herumschweifen. Mein Magen ist leer, und ich habe rasende Kopfschmerzen. Angst ist etwas, was dich packt, ohne dass du es merkst. Du kannst so tun, als ob nichts wäre. Versuchen, dich abzulenken. An schöne Dinge denken. Doch die Angst ist immer da und wartet auf dich. Du glaubst, wenn du nicht daran denkst, verschwindet sie. Aber das stimmt nicht. Ich möchte wieder ein Kind sein und glauben können, dass mich niemand sieht, wenn ich die Augen schließe.

 

Ich bewege mich so langsam wie möglich und versuche, die Kontrolle über mich wiederzugewinnen. Schließlich schalte ich den Fernseher ein, ziehe den Vorhang zu und lege mich angekleidet, wie ich bin, aufs Bett. Jemand hat mir erklärt, Ohnmacht sei eine Reaktion des Körpers, um nicht von Schmerzen oder von unerträglichem Stress überwältigt zu werden. Beim Aufwachen habe ich das Gefühl, ich wäre ohnmächtig gewesen.

Als ich die Augen öffne, spüre ich Kälteschauder. Ich habe versehentlich die Klimaanlage eingeschaltet und liege mitten in der kalten Luftströmung. Meine Arme, die ich hinter dem Kopf verschränkt habe, sind eingeschlafen. Ich spüre sie nicht mehr. Es vergehen ein paar Minuten, bevor ich es schaffe aufzustehen. Ich trete ans Fenster und entdecke in der Ferne das zur Weltausstellung 1958 errichtete Atomium. Die neun Stahlkugeln von jeweils achtzehn Meter Durchmesser schweben scheinbar frei in der Luft. In meiner Nähe die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos, erleuchtete Fenster, Straßenlaternen und gleichmäßiges Verkehrsrauschen. Es ist schon Abend.

Fast acht. Ich ziehe mich aus und drehe die Dusche auf. Erst, als sich der Dampf auch im Zimmer ausbreitet, betrete ich die Duschkabine. Ich seife mich ein und genieße den heißen Regen, der mir den Kopf massiert, bevor er über meinen Körper rinnt. Ab und zu hebe ich den Kopf, um die Wärme auf meinem Gesicht zu spüren. Ich sagte bereits, wie sehr mir all das hilft, in Momenten der Anspannung meine Verkrampfung zu lösen. Und nachzudenken. Es ist die kleine Barriere, die mich von der Welt abschirmt.

Ich rekapituliere alle Informationen, die Martin mir übermittelt hat. Der Mann ist zweiundsechzig Jahre alt. Kanadier. Ingenieur. Verheiratet. Martin hat mir sogar Fotos von ihm gezeigt. Der Ingenieur erinnert mich an den Schauspieler Alberto Sordi. Sie sehen sich ähnlich.

Eingehüllt in ein kratziges weißes Handtuch, das nach Bleichmittel riecht, betrachte ich mich im Spiegel. Das Einzige, was mir auffällt, sind meine halb geschlossenen, vom heißen Duschwasser und von der Seife geröteten Augen.

Wenn die Augen der Spiegel der Seele sind, kann ich in diesem Moment meine Seele nicht sehen.

Simone Pace verstummt für eine Weile. Sein Blick geht zum Moses. Aber wahrscheinlich nimmt er ihn gar nicht wahr. Er stößt einen Seufzer aus, dann fährt er fort.

Charles kommt auf die Minute pünktlich. Brüssel ist eine Stadt, die mich traurig stimmt. Immer grau. Aber der Abend mit Miesmuscheln und Pommes frites, dazu Charles’ Zugewandtheit, ist wirklich angenehm. Gegen elf Uhr liege ich schon wieder im Bett.

Am nächsten Morgen wache ich spät auf. Ich trödle in meinem Zimmer herum und verlasse es erst am Nachmittag, um mich mit Charles zu treffen. Wir machen einen kleinen Spaziergang. Trinken irgendwo einen Kaffee. Er möchte, dass wir bis zum Abend draußen bleiben und dann zusammen essen gehen.

»Danke, Charles, aber ich würde lieber ins Hotel zurückkehren. Ich esse heute nicht zu Abend.«

»Ist alles in Ordnung?«, fragt er.

»Ich würde gerne wissen, was ich da gestern Abend zu mir genommen habe. Die Muscheln waren vergiftet«, antworte ich. »Ich habe die ganze Nacht auf der Toilette verbracht und bin wie zerschlagen. Ich habe keinen Hunger, nur das Bedürfnis, mich wieder hinzulegen.«

Er schaut mich besorgt an. Dann belustigt. Und fängt an zu lachen. »Mir geht es blendend. Was redest du da? Die belgischen Moules Frites sind die besten der Welt.« Und auf Flämisch fügt er etwas hinzu, das ich nicht verstehe, mit Sicherheit etwas Kränkendes.

»Ich reise morgen sehr früh ab. Mach dir keine Umstände, Charles. Ich komme allein zurecht, ich werde ein Taxi nehmen.«

Charles insistiert nicht. Er umarmt mich, jetzt erneut ernst. So trennen wir uns.

In der Hotellobby spricht mich der Portier an. Er gibt mir einen verschlossenen weißen Umschlag, auf dem nichts steht. Ich bedanke mich, und sobald sich die Aufzugstüren hinter mir geschlossen haben, öffne ich ihn. Auf dem Blatt Papier, das ich mit zwei Fingern langsam aus dem Umschlag ziehe, steht nicht viel. Nur eine Adresse, Datum und Uhrzeit, maschinengeschrieben.

Am nächsten Morgen frühstücke ich in einer Bar auf dem Grand-Place, dem historischen Marktplatz der Stadt. Ich betrachte die gotischen Fassaden der Maison du Roi und des Rathauses mit seiner Tour Inimitable, dem Turm, der sich wie ein Zeigefinger in den wolkenverhangenen Himmel reckt. Ich frage eine sehr nette Kellnerin, wie man mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Uccle kommt, einer Gemeinde im Großraum Brüssel. Sie nennt mir die Haltestelle, von der alle zehn Minuten ein Bus fährt. Die Fahrt dauert zwanzig Minuten.

Ihre Freundlichkeit und die Präzision ihrer Information genügen schon, damit ich mich besser fühle. Ich habe nicht die Absicht, ein Taxi zu nehmen und Spuren zu hinterlassen. Zeugen, die wissen, wohin ich unterwegs bin. Der Taxifahrer wäre bestimmt ein Physiognomiker, von Natur aus argwöhnisch und mit einem Polizisten befreundet. In meinem Leben war nie etwas einfach. Auch nicht in den kleinen Dingen des Alltags. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Operation, die man mir zugewiesen hat, einfach sein wird.

Ich nehme den Stadtplan zur Hand und finde problemlos die verabredete Adresse. Vor einem kleinen Eisentor, das erst vor Kurzem schwarz gestrichen worden ist, bleibe ich stehen. Ich schaue nach oben. Das Gebäude ist schmal, eingezwängt zwischen zwei anderen Häusern. Eine Fassade aus weißem Marmor. Zwei Stockwerke und vielleicht eine Mansarde. Im ersten Stock vier Fenster. Im zweiten Stock ein halbkreisförmiger kleiner Balkon und daneben, über der Tür, ein großes Fenster.

Keine Klingel. Und während ich noch versuche herauszufinden, wie man hineinkommt, höre ich das metallische Klacken des sich öffnenden Schlosses. Ich hebe erneut den Kopf und entdecke hinter dem dunklen Fenster im zweiten Stock das Gesicht einer Frau. Ich lege etwa drei Meter zurück. Acht Treppenstufen trennen mich vom Eingang. Ich steige hoch und bleibe vor der angelehnten Haustür stehen, überzeugt, dass man mich beobachtet und dass jemand kommen und die Tür vollständig öffnen wird. Links an der Fassade entdecke ich ein Schild in derselben Farbe wie die Marmorplatten. Vielleicht habe ich es deshalb nicht gleich bemerkt. Während ich noch versuche, die Schrift zu entziffern, geht die Tür ganz auf.

Die Person, die mich hereinlässt, bleibt im Dunkel des Eingangs verborgen. Sie wahrt ihre Deckung und rührt sich nicht vom Fleck. Sie streckt die Hand aus, um meine Hand zu drücken, und schließt hinter mir sofort wieder die Tür. Sie trägt eine schwarze Hose und ein weißes Hemd. Das bemerke ich sofort, obwohl der Flur im Halbdunkel liegt. Der Mann dreht sich um und geht die Treppe hoch. Ich folge ihm und sehe, dass er eine Kippa trägt, das Scheitelkäppchen der frommen Juden. Im ersten und zweiten Stock höre ich Stimmen. Eine Tür öffnet sich. Eine Frau mit Aktenmappen in der Hand kommt heraus. Und ohne uns eines Blickes zu würdigen, verschwindet sie hinter mir. Eine weitere spaltbreit geöffnete Tür gibt den Blick frei auf Büros mit Leuten, die an Tischen sitzen. Ich höre das Klappern ihrer Schreibmaschinen.

Die Stufen sind aus Holz und knarren bei jedem Schritt. Der dritte Stock, der von außen aussah wie eine Mansarde, ist ein Raum ohne trennende Wände und mit einem Parkettboden, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Der Mann mit weißem Hemd und Kippa, der an der Tür war, streckt den rechten Arm aus und lässt mich vorbei. Mit der linken Hand, vielleicht eine mechanische Geste, streicht er sich über den langen rötlichen Bart, dann dreht er sich um und geht schnell wieder die knarrende Treppe hinunter.

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