Der amerikanische Agent

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Ich schaue auf die Uhr. »Es ist eins.«

»Willst du, dass ich gehe? Bist du müde?«, fragt sie enttäuscht.

»Ja, danke für die nette Gesellschaft.«

Lena steht auf. Sie dreht sich mit ihrem federleichten Körper schwungvoll auf einem Fuß um und steuert auf die Tür zu. Ich höre, wie sie sich am Lichtschalter zu schaffen macht, und im nächsten Moment ist es dunkel. Ich sehe nichts mehr. Ich kapiere nichts. Ich höre nur ein Rascheln. Es sind ihre Schritte auf dem Boden. Sekunden später umhüllt ihr warmer Atem meinen Körper. Sie setzt sich auf mich. Ich klammere mich an sie. Sie ist nackt. Im raschelnden Dunkel hat sie ihren Pullover, die weiße Bluse, die Satinhose und alles ausgezogen, was sie sonst noch anhatte.

Blitzschnell streift Lena mir die Hose herunter. Jetzt bewegt sie sich langsam. Ich spüre, wie ihr magerer Körper sich meiner Wärme öffnet. Ihre Haut ist so dünn, dass ich, während sie sich schlängelnd und gleitend bewegt, das Gefühl habe, es wäre meine eigene. Ich drücke mit den Daumen auf ihren grazilen Oberkörper und ertaste ihre Rippenbögen. Ich fange ihren Atem in meinen Händen ein und umfasse ihre Brüste. Plötzlich gleiten die Scheinwerfer eines Autos über die zugezogenen Vorhänge hinweg. Für einen kurzen Moment taucht ihr Gesicht aus der völligen Dunkelheit auf. Ihr Kopf ist nach hinten gebeugt. Ihre Pupillen wirken starr unter dem Weiß der Lider. Die offenen Haare kleben ihr an den glühend heißen Wangen und umhüllen ihre Schultern wie der blonde Mantel einer Prinzessin. Sie keucht und bewegt sich, bis der Rhythmus ihres Atems sehr lange stockt. Ich spüre, wie mir das Blut in die Venen schießt, während Lena, nun wieder im Dunkeln, meine Arme noch fester umklammert. Ihre Fingernägel, ihre Finger übertragen das Pochen ihres Herzens tief in meinen Körper. Es gibt tatsächlich Engel. Als sich ihr Griff lockert, versuche ich, mir diesen Moment unauslöschlich einzuprägen.

»Wenn Sie mit den Schilderungen Ihres Liebesabenteuers noch lange fortfahren«, unterbreche ich ihn, »wird Moses uns seine Marmortafeln um die Ohren hauen, dass es uns unauslöschlich in Erinnerung bleiben wird.«

»Es gibt Momente, Fotografien des Lebens, die uns auf ewig begleiten«, gibt Simone Pace ernst zurück, aber ich muss lachen.

»Fahren Sie ruhig fort.«

Der nächste Tag ist ein Sonntag. Das dumpfe Läuten von Kirchenglocken weckt mich. Ich liege allein im Bett und habe den Verdacht, dass ich alles nur geträumt habe. Ein wunderschöner Traum. Ich gehe ins Bad. Was habe ich da im Gesicht? O Gott, ist es Blut? Bin ich verletzt? Ich stelle mein Bild im Spiegel scharf. Reibe mir die Augen, um vollständig wach zu werden. Betaste meinen Kopf, mein Gesicht. Erfreut sehe ich, dass es Lippenstift ist. Dann war es also kein Traum. Alles ist wahr. Zufrieden betrachte ich mich im Spiegel.

Ich erledige alles in Ruhe. Doch als Erstes möchte ich die Papiere, die ich aushändigen wollte, ins Klo spülen. Die Blätter mit den Daten der Terrorverdächtigen sind nutzlos geworden. Nach meiner Ankunft im Hotel habe ich sie zwischen den Seiten der Bibel versteckt, die ich in der Nachttischschublade gefunden habe. Patrick wird nicht nach Innsbruck kommen, so viel ist klar. Ich bin ein unnötiges Risiko eingegangen, das muss ich mir immer vor Augen halten.

Gut, aber ich rauche nicht. Wie soll ich die Blätter verbrennen? Ich kann sie nur in winzig kleine Schnipsel reißen. Ich lasse das Waschbecken mit heißem Wasser volllaufen und weiche sie ein, bis sie zu einem Papierbrei geworden sind. Den schütte ich ins Klo und spüle ihn hinunter. Diese alte Methode funktioniert immer.

Es ist ein herrlicher Tag. Die Sonne hat den Nebel besiegt. Und obwohl es eisig ist, öffne ich das Fenster und lasse die würzige Gebirgsluft in meine Lungen strömen. Der kalte Sauerstoff explodiert förmlich in meinem Körper, dringt mir bis ins Gehirn und reinigt das Blut. Meine Sinne sind erneut hellwach.

Ich bemerke Enrique sofort auf dem Bürgersteig. Jetzt trägt er eine beige Breitcordhose und eine feine cremefarbene Strickweste, darüber einen eleganten, leichten weißen Anorak, den er trotz der Temperatur vorne ein wenig offen gelassen hat. Ich kenne diese Daunenjacke. Es ist das Modell Moncler aus einer limitierten Auflage, die von 1986 bis 1987 produziert wurde.

»Guten Tag, gut geschlafen?«, fragt Enrique. Und dann flüstert er mir ins linke Ohr: »Ist es spät geworden heute Nacht?« Er zwinkert mir zu und gibt mir einen Klaps auf die Schulter.

»Ja, danke. Alles bestens«, antworte ich.

Ich denke kurz über seine Frage nach: »Ist es spät geworden?« Will er auf irgendetwas anspielen? Haben sie mir nachspioniert? Ehrlich gesagt, hoffe ich es nicht. Die Amerikaner sind sehr puritanisch, jedenfalls nach außen hin. Familienwerte, Moral. Und außerdem weiß ich nichts über diesen Enrique. Ich tue so, als hätte ich seine Anspielung nicht gehört.

»Kennst du ein Café, wo wir frühstücken können?«, frage ich ihn. Aber er schlägt unvermittelt einen anderen Ton an. Er schaut auf die Uhr.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir sofort in dein Zimmer gehen? Wir sind spät dran, er wird gleich da sein«, sagt er.

Dann also auch heute kein Frühstück. Außerdem: Spät dran wofür? Wer wird gleich da sein? Die Hotellobby ist voller Menschen im Aufbruch, die mit ihren Koffern Schlange stehen, um zu zahlen. Keiner achtet auf uns, als wir die Treppe hochsteigen. Kaum sind wir in meinem Zimmer, stürzt Enrique zum Fenster, zieht den Vorhang zu und schaltet den Fernseher ein. Die BBC überträgt eine Sondersendung anlässlich der Vereidigung von George Herbert Walker Bush in Washington. Geboren am 12. Juni 1924 in Massachusetts, war er Vorsitzender der Republikanischen Partei, Direktor der CIA und Vizepräsident von Ronald Reagan. Er gehört der Episkopalkirche an und ist nun der einundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.

Enrique dreht sich zu mir um und hebt den Daumen. »Es wurde Zeit. Für uns brechen jetzt bessere Zeiten an«, sagt er leise. Ich quittiere seine Zufriedenheit mit einem Lächeln. Ich frage nicht, warum, aber er meint wahrscheinlich, dass Bush als ehemaliger CIA-Direktor dem Auslandsgeheimdienst seine Wertschätzung zeigen wird.

Jemand trommelt mit den Fingerknöcheln an die Tür. Enrique öffnet. Es ist ein etwa dreißigjähriger Mann. Groß. Kräftig. Brillenträger. Braune Cordhose und unter der Winterjacke ein Flanellhemd mit roten und gelben Karos. Draußen ist es kalt, aber er hat Schweiß auf der Stirn.

»Sehr erfreut, Logan«, stellt er sich vor. »Man hat mir gesagt, dass du Englisch sprichst. Das ist gut.«

Ich drücke ihm die Hand, die noch verschwitzter ist als seine Stirn. Enrique ist im Bad verschwunden und kommt mit sämtlichen Handtüchern im Arm wieder heraus. Er hat sie befeuchtet und legt sie unten an die Tür und unters Fenster, um jeden Spalt abzudichten, der uns mit der Außenwelt verbindet.

Logan kramt unterdessen in einem riesigen Rucksack, den er aufs Bett gestellt hat. Ich stehe mitten im Zimmer und verfolge die Szene, ohne zu verstehen, was vor sich geht. Endlich beruhigen sich die beiden.

»Er ist von der NSA, der National Security Agency«, erklärt Enrique mit Blick auf Logan. »Er ist aus Washington gekommen, um dir beizubringen, wie du mit uns kommunizieren kannst. Aber vorher muss er etwas anderes machen. Simone, weißt du, was ein Polygraf ist?«

Ich bin so überrumpelt, dass ich gar nicht verstehe, was Enrique sagt. Und ich verneine instinktiv. Die beiden sehen mich verwundert an. Stehe ich jetzt als Dummkopf da?

»La macchina della verìta«, sagt Logan auf Italienisch, aber mit einer falschen Betonung.

»Ach so, natürlich, der Lügendetektor«, wiederhole ich auf Englisch.

»Weißt du, wie er funktioniert?«, fragt Enrique.

»Ja. Das heißt, nein.«

»Ich muss dich fragen, ob du dich diesem Test unterziehen willst«, mischt sich Logan ein.

Was kann ich antworten? Habe ich eine Wahl? Ist das die Prozedur, die man durchlaufen muss, um bei der CIA arbeiten zu dürfen?

»Klar, ich bin einverstanden«, sage ich, als hätten sie mich aufgefordert zu gehen und nie mehr zurückzukommen.

Ich weiß wenig über Lügendetektoren. Mir fällt ein, was der Mossad-Mann in Rom bei einer Sitzung gesagt hat: »Ihr müsst euch bewusst sein, dass alles, was ihr tut, beobachtet wird, sobald ihr euch an den Ort begebt, wo der Test stattfindet. Im Wartesaal und in den Toiletten könnten versteckte Videokameras installiert sein. Und der Raum mit dem Lügendetektor hat ziemlich sicher eine Videokamera oder einen Einwegspiegel. Der Test beginnt, lange bevor ihr an den Apparat angeschlossen werdet, und er endet erst, wenn ihr wieder gegangen seid.«

Ist das tatsächlich so? Die Sache macht mich etwas nervös. Aber mir bleibt keine Zeit zu überlegen. Logan verkabelt mich bereits überall. Auch auf der Stirn. Der Instrukteur von der Nationalen Sicherheitsbehörde gibt sich jetzt nicht mehr freundlich und zugewandt. Er hat etwas Bedrohliches. Als wollte er mir Angst einjagen. Im Gespräch mit Enrique wiederholt er mehrmals, dass sich die Maschine niemals irrt. Vielleicht sagt er das, um mich unter Druck zu setzen. Je größer die Angst, bei einer Lüge ertappt zu werden, desto stärkere körperliche Reaktionen zeigt man normalerweise, wenn man gezwungen ist zu lügen.

»Wenn du willst, kannst du dir die Hände waschen, bevor wir anfangen. Dann wird die Maschine deine Schweißabsonderungen präzise messen«, sagt Logan zu mir. Sofort kommt mir der Gedanke, dass im Bad womöglich eine Videokamera installiert ist, die dokumentiert, dass ich mich für das Händewaschen entschieden habe: der Beweis, dass ich, noch ehe der Test begonnen hat, Angst vor meinen Reaktionen habe.

»Nein, muss nicht sein«, sage ich, »wir können anfangen.«

 

Enrique ist jetzt hinter mir. Ich sehe ihn nicht. Und um keine emotionale Regung zu zeigen, konzentriere ich mich auf meinen Atem. Ich muss einen Rhythmus von zehn, höchstens fünfzehn Atemzügen pro Minute beibehalten.

»Wie heißt du?«, fragt Enrique.

»Simone.«

»Hast du schon einmal Nudeln gegessen?«

»Ja.«

»Hast du jemandem von dieser Reise erzählt?«

»Nein.«

»Hast du jemals gestohlen?«

»Ja, als Kind.«

»Nein, nein, Simone. Du darfst nur mit Ja oder Nein antworten«, ermahnt mich Logan.

»Hast du jemals mit Drogen gedealt?«

»Nein.«

»Hast du Kinder?«

»Ja.«

»Hast du jemals deine Frau betrogen?«

»Nein.«

»Hast du gestern Abend Alkohol getrunken?«

»Nein«, antworte ich trocken. Ich möchte kein schlechtes Bild von mir abgeben. Deshalb habe ich die beiden letzten Fragen mit Nein beantwortet. Mich jetzt zu korrigieren wäre schlimmer.

»Bist du ein Spion?«, fragt Enrique weiter.

»Nein.«

So geht es zehn Minuten. Nicht länger. Aber mir kommt es vor wie eine Ewigkeit. Ich bin so angespannt, wie ich auf dem Bett sitze, dass mir der Rücken wehtut. Vielleicht lassen sie mich ganz bewusst in dieser unbequemen Position verharren. Und dann ist der Test zu Ende.

Logan befreit mich von den Sensoren. Er nimmt etwas zur Hand, das aussieht wie ein PC, und während er das Ergebnis des Tests liest, brummelt er vor sich hin.

»Enrique, komm mit ins Bad. Ich muss mit dir sprechen«, wendet er sich an seinen Kollegen.

Gut. Und was passiert jetzt? Gehört dieses Theater zum Test? Ich bleibe in meiner unbequemen Position auf dem Bett sitzen und erwarte das Urteil. Enrique kommt als Erster aus dem Bad.

»Du bist NDI«, verkündet er.

»NDI?«, frage ich besorgt.

»No Deception Indicated«, erläutert Enrique. Es gibt keine Hinweise auf Täuschung.

Ich entspanne mich.

»Bis auf eine Antwort, die nicht klar ist«, sagt Logan hinter ihm.

»Welche?«, frage ich.

»Kannst du es dir nicht denken?«, stellt Enrique die Gegenfrage. Und ich fange an, etwas vor mich hin zu brabbeln.

»Macht nichts«, beendet Logan das Gespräch und lässt mich, wohl absichtlich, im Ungewissen.

»Jetzt erkläre ich dir, mit welchem System du sicher mit uns kommunizieren kannst. Wir fangen heute an und machen morgen Vormittag weiter«, fügt er hinzu.

Morgen? Ist es wirklich so kompliziert, frage ich mich. Ich möchte nicht gleich sagen, dass ich noch heute Abend zurückfahren muss, wie ich es meiner Frau versprochen habe. Und auch nicht, dass ich übermorgen zur Arbeit muss. Aber einen Tag länger in Innsbruck zu bleiben wäre tatsächlich ein Problem. Es klopft an der Tür. Ich erstarre.

»Wer ist da?«, frage ich. Meine Kehle ist wie zugeschnürt.

»Enrique.«

Er kommt mit drei belegten Brötchen in einer Papiertüte herein. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er das Zimmer verlassen hat.

»Da ist Käse drauf, ist das okay?«, fragt er.

Nach zwei Stunden habe ich kapiert, wie die Methode funktioniert. Wir machen mehrere Kommunikationsversuche, um sicher zu sein, dass ich es auch wirklich verstanden habe. Aber ich brauche keinen Tag länger zu bleiben. Enrique und Logan gratulieren mir zu meiner schnellen Auffassungsgabe. Dann lädt sich Logan den riesigen Rucksack mit den Geräten auf die Schulter und geht. Enrique fragt, wann mein Zug nach Mailand fährt. Ich schaue auf die Uhr, und obwohl ich noch fast drei Stunden Zeit habe, sage ich, dass ich sofort aufbrechen werde, wenn er gegangen ist. Mehr nicht. Und so verabschiedet sich auch Enrique und verlässt das Zimmer.

Um die Wahrheit zu sagen, habe ich vor der Abfahrt meines Zuges noch etwas zu tun. Ich gehe ins Tourismusbüro. Eine Gruppe von Jugendlichen, beladen mit jeder Menge Gepäck, verhindert, dass ich mit einem Blick sehe, ob Lena da ist. Obwohl ich weiß, dass sie mich halblaut beschimpfen werden, gehe ich an der Schlange vorbei nach vorn. Das missbilligende Gemurmel über mein Verhalten weckt die Aufmerksamkeit eines Angestellten hinter dem Schalter. Und noch bevor ich ihn sehe, steht er auf, richtet den Zeigefinger auf mich und weist mich an, mich wieder in die Schlange zu stellen.

Mit gesenktem Blick trete ich den Rückzug an. Ich habe keinen Grund, länger zu bleiben. Lena ist heute nicht im Dienst. Aber ich möchte nicht gehen, ohne sie wiederzusehen. Und obwohl die Wahrscheinlichkeit nicht besonders groß ist, beschließe ich, die Straßen im Umkreis des Hotels abzulaufen. Und stehe unversehens vor dem historischen Bogengang in der Maria-Theresien-Straße Nummer 38. Ich passiere ihn, durchquere den Hof und öffne langsam die gläserne Eingangstür zum Café im Hof. Der Duft von Zimt und frischem Brot steigt mir in die Nase. Bevor ich etwas bestelle, werfe ich einen Blick auf die Kuchen in der Vitrine. Ich schwanke zwischen dem köstlichen Apfelstrudel und einem Stück Sachertorte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt das Mädchen an der Kasse.

»Ja, danke. Ich möchte …« Ich deute auf den Apfelstrudel. Ein Lachen von jenseits der Wand, die den Gästeraum abtrennt, lenkt mich ab. Ein unverwechselbares Lachen. Ich entferne mich von der Theke, während ich weiter auf den Apfelstrudel deute. Eine unwillkürliche, schwungvolle Bewegung. Und als ich Lena am selben Tisch, an dem ich am Abend zuvor mit ihr saß, jetzt mit Enrique sitzen sehe, halte ich instinktiv inne. Die beiden sehen mich nicht.

Ich mache kehrt. Ich werfe dem Mädchen an der Kasse einen entschuldigenden Blick zu und gehe. Mir ist bewusst, dass ich weglaufe. Als hätte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht sofort zum Bahnhof gegangen bin, wie ich es Enrique gesagt hatte. Erst als der Zug die Grenze nach Italien überquert hat, scheint mein Gehirn wieder zu funktionieren. Vielleicht weil es spürt, dass ich auf italienischem Boden nicht mit neuen gefährlichen Situationen konfrontiert bin. Der Wunsch, Lena wiederzusehen, hätte mich fast dazu verleitet, die beiden zu begrüßen, ihre Reaktion zu beobachten und Enrique klarzumachen, dass ich alles durchschaut habe und kein Dummkopf bin. Aber das wäre ein schwerer Fehler gewesen. Ich sage mir, dass ich das Richtige getan habe. Im Besitz einer Information zu sein, die andere geheim halten, gibt dir eine Waffe in die Hand, die dir immense Vorteile verschaffen kann. Ich lächle in die Dunkelheit vor dem Fenster, als ich merke, dass ich anfange zu denken wie sie.

Zu Hause steht das Essen schon bereit.

* Erst mit der Reform 1981 wurde die italienische Polizei entmilitarisiert und erhielt ihren zivilen Status zurück, den sie im Faschismus verloren hatte. (A.d.Ü.)

EIN KOFFER FÜR DEN ABGEORDNETEN

Ich sperre die Tür auf. Kontrolliere das Protokoll der Alarmanlage auf dem Gerät an der Wand und vergewissere mich, dass niemand in die Wohnung eingedrungen ist. Dann schalte ich den Videorekorder ein.

Handgriffe, die ich inzwischen ganz mechanisch ausführe. Ich habe einen lautlosen Alarm installiert. Ohne Sirene. Mir genügt es zu wissen, ob jemand durch die Wohnungstür oder die Fenster eingedrungen ist oder es versucht hat. Die Sensoren sind hinter den Bilderrahmen und im Blumentopf am Eingang versteckt. Werden sie aktiviert, filmen vier Minikameras den Eindringling, sodass ich Gegenmaßnahmen ergreifen kann.

Ich strecke mich auf dem Sofa aus, während Musik das Wohnzimmer erfüllt. Diana und die Kleine sind in den Ferien. Die moderne Technik ist mir eine große Hilfe. Ich habe den Videorekorder mit dem Musikkanal MTV synchronisiert, der in Italien von einem Privatsender übertragen wird. Und ich habe den Zeitraum eingestellt, der mich interessiert. Ich nehme nur von Uhrzeit x bis Uhrzeit y auf.

Was für eine grandiose Methode. Auf diese Weise kommunizieren wir schon seit ein paar Monaten. Die Zuschauer können jemandem einen Song widmen, Freunde grüßen oder eine Liebeserklärung machen, und MTV übermittelt die Nachricht als Text unter dem Videoclip. Wenn ich nach Hause komme, spule ich das Band zurück und schaue mir die Aufnahme an. Wenn es eine neue Nachricht für mich gibt, habe ich sie in wenigen Minuten gefunden.

Ich lese die Sätze, die über den Bildschirm laufen. Ein Song folgt auf den anderen. Ich muss auf Nachrichten achten, die mit einem Tiernamen und einem Datum beginnen und enden. Jedem Tier entspricht eine ganz bestimmte Stadt. Falke ist Florenz, Rabe ist Rom. Die Adresse ist stets dieselbe und war von Anfang an festgelegt. Das tatsächliche Datum des Treffens jedoch verschiebt sich gegenüber dem im Fernsehen angezeigten um eine Woche. Die Uhrzeit bleibt gleich. Eine einfache und sichere Methode. Keine Telefonate. Keine Gefahr, abgehört zu werden.

Auch für dringende Treffen gibt es ein Verfahren. Wenn wir uns kurzfristig treffen müssen, befestigen sie ein schwarzes Klebeband am Laternenpfahl an der Ecke meiner Straße. Um sie wissen zu lassen, dass ich es entdeckt habe, muss ich es herunterreißen und auf den Abfalleimer am selben Laternenpfahl kleben. Von dem Moment an habe ich zwölf Stunden Zeit, um in dem privaten Anzeigenblatt Secondamano, Aus zweiter Hand, eine Verkaufsanzeige für eine kaputte Waschmaschine aufzugeben, in der ich Ort, Tag und Uhrzeit der Abholung nenne. Meinen Controller treffe ich dann drei Tage und drei Stunden später als zu dem in der Anzeige genannten Datum.

Und bei einem solchen über MTV festgesetzten Treffen erhalte ich meinen ersten richtigen Auftrag. Am Tag der Operation stehe ich im Morgengrauen auf. Ich gehe unter die Dusche, wenn das Bad schon voller Dampf ist. Das heiße Wasser rinnt über meinen Körper. Ich schließe die Augen und bleibe zehn Minuten. Das mache ich immer, wenn ich mich entspannen und nachdenken will. Ich kleide mich gepflegt. Weißes Hemd. Blauer Nadelstreifenanzug. Klassische Krawatte mit weißen und blauen Streifen. Ich schnüre die schwarzen, in der Schweiz handgefertigten Schuhe der Marke Bally, Modell Flabber, zu. Inzwischen kann ich mir schöne Dinge gönnen. Mit dem Föhn erwärme ich ein paar Sekunden die ghanaische Sheabutter, die meine gebräunte Gesichtshaut glatt und glänzend macht. Der Duft von Morris, meinem Lieblingsparfüm, legt sich auf jede Faser meines Anzugs. Ich rufe in der Taxizentrale an.

»Zehn Minuten, Pisa 49«, sagt die Vermittlerin.

Ich öffne das Etui mit dem Geschenk, das ich mir mit dem ersten Geld von der Agency selbst gemacht habe: eine Rolex Cellini Date. Ich lege sie voller Stolz an. Ich überprüfe, ob die beiden Steckdosen mit der Zeitschaltuhr richtig eingestellt sind, um abwechselnd den Fernseher und die Stehlampe ein- und auszuschalten. Auf diese Weise sieht es aus, als wäre jemand zu Hause. Ich ziehe die Rollläden hoch. Mache die Vorhänge zu. Dann verlasse ich das Haus.

Ich werfe einen letzten Blick auf die gepanzerte Tür, die ich soeben abgeschlossen habe. Als könnte sie mir bei meiner Rückkehr wichtige Details verraten. Die Aufzugstür ist offen. Letzte Nacht bin ich um halb vier nach Hause gekommen, und ich weiß genau, dass ich wie immer den Lift wieder ins Erdgeschoss hinuntergeschickt habe. Ich drehe das Handgelenk und sehe, dass es 6.25 Uhr ist. Es muss also jemand in meine Etage hochgefahren sein, nachdem ich nach Hause gekommen bin. Und das war bestimmt nicht meine neunzigjährige Nachbarin. Ein elektrisierender Schauder läuft mir über den Rücken. Meine Beinmuskeln spannen sich an. Gefahr. Das ist das Signal, das mein Verstand in meinen ganzen Körper schickt.

Ich schlucke. Renne die Treppe hoch in die oberste Etage. Ich erwarte, dort jemanden zu finden, der sich auf dem Treppenabsatz versteckt hält. Von dort gelangt man auf die große Terrasse. Nichts. Der Durchgang zum Dach ist abgesperrt. Ich kehre in mein Stockwerk zurück, wo ich den Lift durch die geöffnete Tür blockiert habe. Ich ziehe meine Jacke aus und stelle fest, dass ich Schweißflecken unter den Achseln habe. Gewiss, wir haben August, und es ist schon früh am Morgen recht heiß. Ich ärgere mich über mich selbst. Ich gebe meiner Paranoia die Schuld, die mich inzwischen Tag und Nacht verfolgt.

Das Taxi ist schon da. Bevor ich einsteige, schaue ich mich in alle Richtungen um.

»Buongiorno, zum Flughafen Linate bitte«, sage ich zu dem Fahrer. Er dreht sich um und begrüßt mich mit einem Lächeln. Er ist nicht älter als dreißig. Wenn man sieht, wie viel Platz er auf dem Sitz einnimmt, kann er nicht besonders groß sein. Bürstenhaarschnitt. Graue Kapuzenjacke. Eine Kapuzenjacke im sommerlichen Mailand?

 

»Gern, Signore«, antwortet er.

Ich spanne sämtliche Muskeln an. Drücke das linke Bein zwischen die beiden Vordersitze, bereit, dem Taxifahrer mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, falls er der Köder einer Falle ist. Meine rechte Hand umklammert den Griff der Autotür. Ich würde nicht zögern, die Tür zu öffnen und zu fliehen. Auf dem Autobahnring ist kein Verkehr. Alle sind im Urlaub. Aber ich bin in der Stadt und arbeite. Je näher wir dem Flughafen kommen, desto mehr entspanne ich mich. Keine Straßensperre. Keine Kontrolle durch meine Kollegen, die vielleicht kein bloßer Zufall wäre. Nicht einmal der Taxifahrer hat mich eines zweiten Blickes gewürdigt. Auch nicht durch den Rückspiegel. In der Ablage zwischen den beiden Sitzen hinter dem Schaltknüppel liegt eine Packung Levothyroxin-Kapseln. Ich kenne die Tabletten, weil ich sie meiner neunzigjährigen Nachbarin besorge, die an Schilddrüsenunterfunktion leidet. Wer diese Krankheit hat, friert ständig. Auch im August. Deswegen trägt der Taxifahrer eine Kapuzenjacke. Nicht, um eine Pistole darunter zu verstecken. Ich muss über meinen Argwohn schmunzeln.

Ich entspanne mich vollständig und mache es mir auf dem Sitz bequem. An die Kopfstütze gelehnt, sehe ich mein Gesicht im Rückspiegel. Ich betrachte mich, als wäre ich eine fremde Person. ›Hör auf, dich wie ein Idiot zu verhalten‹, sage ich zu meinem Spiegelbild. ›Ein Idiot wäre ich, wenn ich mich nicht so verhalten würde‹, gebe ich mir zur Antwort.

Solche Selbstgespräche werden mir allmählich zur Gewohnheit. Sie helfen mir, nachzudenken und zu verstehen. Man könnte mich für schizophren halten, aber es ist eine mentale Übung. Geboren aus der Notwendigkeit, mit jemandem zu sprechen, ohne dass ich Gefahr laufe, verraten zu werden. Mit jemandem, der mir Ratschläge für das erteilen kann, was ich jeweils gerade mache. Und dieser Jemand bin ich.

»Lassen Sie mich beim Abflug raus«, sage ich zu dem Taxifahrer.

Die Klimaanlage im Innern des Flughafens ist eine Wohltat. Ich warte ein paar Minuten. Gehe wieder hinaus, um zu überprüfen, ob das Taxi weggefahren ist. Levothyroxin hin oder her, Vorsicht ist immer besser. Ich kehre ins Flughafengebäude zurück und begebe mich zum Zeitungsstand, nur um sicher zu sein, dass niemand mich beschattet. Dann gehe ich zur Rolltreppe und fahre einen Stock tiefer in die große Ankunftshalle. Ich muss auf einen Koffer warten, der von Las Vegas über Rom nach Mailand unterwegs ist. Ich werfe einen Blick auf die Anzeigetafel. Das Flugzeug ist vor wenigen Minuten gelandet.

Ich begebe mich zu dem der Polizei vorbehaltenen Eingang. Aus dem Augenwinkel sehe ich zwei Polizisten in Uniform vor dem Gepäckscanner. Ich wende mich ihnen nicht zu, sondern hebe nur beiläufig die rechte Hand zum Gruß. In der Linken habe ich die elektronische Karte, die die Betreibergesellschaft des Flughafens meiner Dienststelle vor sechs Monaten im Rahmen der Ermittlungen zu einem Terrornetzwerk zur Verfügung gestellt hat. Diese Karte habe ich noch nie benutzt und weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch aktiviert ist. Ich stecke sie in den Schlitz und hoffe, sie richtig herum hineingeschoben zu haben, sodass das Magnetband gelesen werden kann. Nichts. Nervös drehe ich die Karte mehrmals um, ohne Erfolg. Ich bemerke, dass einer der Polizisten mich beobachtet. Jetzt kommt er auf mich zu. Es sind nur fünf oder sechs Meter. Ich könnte mich umdrehen und gehen. Aber von hinten steigt mir zuerst ein starker Knoblauchgeruch in die Nase, dann spüre ich seinen warmen Atem.

»Dottore, hier funktioniert nichts. Geben Sie sie mir«, sagt er. Er arbeitet vermutlich seit Jahren in Mailand, doch seinen sizilianischen Akzent hat er nicht abgelegt. Er nimmt mir die Karte aus der Hand und reibt sie an der Hose seiner Uniform. Dann schaut er mir in die Augen, steckt den Ausweis in den Schlitz, und die Tür öffnet sich.

Er sieht mich an, als hätte er ein Zauberkunststück vorgeführt.

»Danke, danke«, sage ich zu ihm und deute eine Verbeugung an. Ich muss mir ein Schmunzeln verkneifen, weil er mich für einen seiner Vorgesetzten hält. Auch diesmal haben mein eleganter Anzug, die Schuhe und die Rolex Wirkung gezeigt. Kleider machen eben Leute. Ich agiere wie ein Schauspieler auf der Bühne. Vielleicht ist genau dies das Leben.

Die Halle mit den Gepäckbändern ist fast menschenleer. Eine Reisetasche. Zwei Koffer. Ein roter, in Zellophan eingewickelter Trolley. Sie drehen auf dem Gepäckband ihre Runden, aber niemand nimmt sie herunter. Ich warte eine weitere Runde ab, blicke mich nach allen Seiten um und greife dann nach dem Trolley, um den am Griff angebrachten Anhänger zu entziffern. Das ist er. Ich ziehe das Namensschild heraus. Auf der Rückseite stehen mein Name und eine fiktive Adresse. Ich stecke das Namensschild wieder in den Anhänger und begebe mich zum Ausgang.

Den Koffer hinter mir herziehend, passiere ich den Zoll. Im kalten Neonlicht ist ein Beamter der Finanzpolizei mit einem Drogenspürhund an der Leine damit beschäftigt, einen Chinesen zu kontrollieren. Ein anderer Zollfahnder hinter dem Tisch, auf dem das Gepäck zur Kontrolle geöffnet wird, nimmt mich in den Blick. Ich spüre, wie die Schweißflecken unter meinen Achseln immer größer werden. Und wenn man mich anhält?

Blitzartig kommt mir eine Idee. Ich fange an, mit dem Hintern zu wackeln und den rechten Arm hin und her zu schlenkern. Ich verlangsame meinen Schritt und schaue den Zollbeamten an, wie ihn mit Sicherheit keine Frau jemals angeschaut hat. Mit einem Umweg von ein paar Metern gehe ich auf ihn zu. Er ist jung. Er errötet und schlägt die Augen nieder. Jetzt bin ich zwei Meter vom Ausgang entfernt. Im Spiegelbild der automatischen Glasschiebetür sehe ich, dass er zu seinem Kollegen getreten ist und lachend und mit ausgestrecktem Arm auf mich zeigt. Ich entdecke die Videokameras an den Pfeilern der Flughafenhalle und fange an, mich wieder normal zu bewegen. Im Sommer ist die Luft in Mailand klebrig. Aber jetzt spüre ich voller Erleichterung, wie sich die schwüle Hitze auf mein Gesicht legt. Ich bin draußen.

Nur ein paar Meter entfernt steht der Bus. Alle zwanzig Minuten fährt einer in Richtung Hauptbahnhof. Ich warte, bis der Fahrer den Kofferraum geschlossen hat. Jetzt ist der Koffer in Sicherheit. Mit drei Schritten bin ich bei seinem Kollegen, der die Tickets verkauft. Er hat sich neben dem vorderen Einstieg postiert. Ich spreche ihn auf Englisch an, aber er registriert es gar nicht. Er nimmt das Geld und reicht mir das Ticket. Ich steige ein und finde einen freien Platz ganz hinten, die Tür im Blick. Der Bus fährt los. Nach mir ist niemand mehr eingestiegen.

Ich entspanne mich. Die letzte Kontrolle werde ich machen, wenn wir in der Stadt sind, auf der Busspur. Erst dann weiß man, ob man von einem Auto verfolgt wird. Ich schalte das Aufnahmegerät ein, das ich in der Tasche habe. Ich befestige das kleine Mikrofon am Aufschlag meiner Jacke und fange an, alle Modelle der Autos zu diktieren, die ich vom Fenster aus sehe, dazu die Autonummern. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es extrem schwer ist, Dutzende Modelle und Nummernschilder im Kopf zu behalten. Ich werde die so gesammelten Daten transkribieren und dann beurteilen, ob man mich beschattet hat.

Am Hauptbahnhof steige ich aus. Wie immer wimmelt es von Menschen. Das kann mir nur recht sein. Ich betrete die Halle mit dem monumentalen Gewölbe. Ich gehe langsam und gemächlich. Nach wenigen Schritten stehe ich in der Schlange vor dem Zugschalter. Kurz bevor ich an der Reihe bin, trete ich aus der Schlange heraus und begebe mich zum Taxistand. Ich lasse mich in die Via Brusuglio, Ecke Via Pietro Bembo fahren. An der äußersten Peripherie. Unter anderen Umständen hätte ich mich weit entfernt vom Treffpunkt absetzen lassen. Aber es ist heiß, ich bin müde, und ich will den roten Rollkoffer endlich loswerden. Im Kopf überschlage ich die Entfernung, die mich noch von meinem Ziel trennt. Dreihundertzwanzig Meter zu Fuß. Ich bringe sie zügig hinter mich, den Koffer hinter mir herziehend. Es ist elf Uhr. Um Viertel nach elf muss ich am Treffpunkt sein. Das Ziel ist ein riesiges Gebäude, möglicherweise eine ehemalige Fabrik. Ich habe es schon auf der Schnellstraße Viale Enrico Fermi vom Taxi aus gesehen.