Der amerikanische Agent

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ein paar Minuten verharren wir erneut in Schweigen und sehen dem Gewusel zu, als sich die Schulklasse wieder in Bewegung setzt. Hintereinander treten die Schüler und Schülerinnen in die kleine Vertiefung unter dem Altar, um die Ketten des heiligen Petrus aus der Nähe zu betrachten, bevor sie mit einem Höllenlärm von Stimmen und Schritten wieder herauskommen.

»Kennen Sie den Film Insider von Michael Mann mit Russell Crowe und Al Pacino?«, frage ich jetzt.

Simone Pace sieht mich an, ohne zu antworten.

»Er erzählt davon, wie die internationalen Tabakkonzerne die Inhaltsstoffe der Zigaretten falsch deklarieren.«

»Ich erinnere mich nur vage«, gesteht er. »Aber was hat dieser Film mit mir zu tun?«

»Sehen Sie ihn sich an, wenn Sie können. Er ist ein Lehrstück darüber, wie sich ein Journalist gegenüber seiner Quelle verhalten sollte. Und umgekehrt. Die Quelle muss alles über sich sagen, sie muss vertrauen und sich anvertrauen. Ein Fehler, ein Laster, eine Perversion der Quelle kann alle ihre Aussagen zunichtemachen. Das, was Sie mir vorschlagen, ist kein Interview, an dessen Ende jeder wieder in sein eigenes Leben zurückkehrt. Ich werde alles über Sie wissen müssen. Auch alles über Ihr Privatleben. Familie, Liebschaften, Geliebte, Laster, Vorstrafen.«

Simone Pace – wer weiß, was er befürchtet hat – lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, seine Antwort kommt prompt. »Ich habe derzeit keine Liebesbeziehung und nicht einmal eine Geliebte. Aber ich werde Sie diesbezüglich auf dem Laufenden halten. Ich bin geschieden. Meine Frau wusste nichts. Wir haben sehr jung geheiratet. Irgendwann konnte sie meine ständige Abwesenheit nicht mehr aushalten. Und weil mir keine Ausreden mehr eingefallen sind, habe ich ihr eines Sonntagabends die Wahrheit gesagt. Ich sagte zu ihr: Ich bin ein Informant der CIA.«

»Und Ihre Frau?«

»Sie sagte, dann sei sie die Jungfrau Maria. Sie ging ins Schlafzimmer und räumte meine Hälfte des Kleiderschranks aus. Sie packte meine Hosen, Hemden und Schuhe in eine große Reisetasche und warf sie hinaus auf den Treppenabsatz. Das letzte Bild, das ich von meiner Familie habe, ist meine Frau auf der Türschwelle: Verschwinde, sagte sie immer wieder, verschwinde von hier, verschwinde, verschwinde. Als ich draußen war, schrie sie mir nach, ich solle zu meinen Huren gehen, mit denen ich ihrer Ansicht nach auch dieses Wochenende verbracht hatte.«

»Und gab es in Ihrem Leben Huren?«

»Keine einzige. Die Hure war ich.«

»Haben Sie Kinder?«

»Eine erwachsene Tochter, die heute nichts mehr von mir wissen will. Ihr habe ich nie etwas gesagt.«

»Sie haben einen hohen Preis bezahlt. Hatten Sie keine Angst, dass Ihre Frau Ihr Geheimnis herumerzählt?«

»Nein, denn sie hat mir ja nicht geglaubt. Vielen passiert es, dass sie ihre Familie opfern müssen. Wenn du all deinen Mut zusammennimmst und zu Hause die Wahrheit sagst, glaubt dir keiner. Deshalb lautet der Spitzname der CIA auch die Mama. Denn wenn du aus dem Haus geworfen wirst, nimmt sie dich in ihre Obhut wie eine Mutter. Und dann liegt dein Leben ganz in ihren Händen. Du wirst ihr Eigentum.«

»Irgendwelche Laster, die Sie in Misskredit bringen könnten? Vorstrafen?«

»Ich nehme keine Drogen, ich besaufe mich nicht, ich trinke keine hochprozentigen Sachen, ich rauche nicht. Wenn mir aber eine Frau gefällt, ziehe ich mich nicht zurück. Keine Vorstrafen. Oder vielmehr: Man hat mich nicht erwischt. Aber verlangen Sie kein polizeiliches Führungszeugnis von mir.«

»Das Problem ist nicht das polizeiliche Führungszeugnis. Sie waren es, der gesagt hat, Beweise kann man fälschen. Es geht darum, wie ich Ihre Aufrichtigkeit überprüfen kann. Aber das werde ich im Laufe unserer Treffen herausfinden. Also, wie machen wir’s?«

Simone Pace ist jetzt wieder ganz in seinem Element. Er erklärt mir, wie wir verfahren. Wir werden uns jeden oder fast jeden Tag treffen. Und zwar hier, in San Pietro in Vincoli. Aufnahmegerät, Filmkamera und Fotoapparat sind nicht gestattet. Nur Kugelschreiber und Notizheft.

»Wenn Sie einverstanden sind, können wir gleich morgen früh anfangen«, sagt er.

»Morgen früh um neun hier auf dieser Bank.«

»Also dann bis morgen. Aber ich gehe zuerst hinaus. Sie warten zehn Minuten und folgen mir nicht«, weist Simone Pace mich an. Er steht auf und geht hinaus in das gleißende Licht des geöffneten Hauptportals.

Die Welt der Phantome darf ihre Geheimnisse niemals dem Unterland der Ahnungslosen preisgeben. Wer es getan hat, bekam Schwierigkeiten. Manche wurden getötet. Hier, vor dem Moses der Basilika San Pietro in Vincoli, weiß Simone Pace ganz genau, dass er eine weitere Schwelle seines Lebens überschritten hat. Wie an jenem Sonntagabend vor vielen Jahren, als er für immer sein Zuhause verlassen hat. Und während er jetzt die Via Cavour hinunter zum römischen Hauptbahnhof zurückgeht, fühlt er sich nicht einmal erleichtert. Er empfindet Gleichgültigkeit, wie immer. Das Motto eines Frontkämpfers lautet fight or flight, kämpfe oder fliehe. Und er, der an der schmalen, unsichtbaren Grenze überlebt hat, die die Welt der Phantome vom Unterland der ahnungslosen Bürger, Regierungen und Staaten trennt, weiß genau, dass ein operativer Agent keine Fluchtmöglichkeit hat. Er kann nur kämpfen. Mit Vorsicht und Geduld, aber er muss kämpfen. Simone Paces Ermordung vollzieht sich sehr langsam.

Die vergoldete Statue von Christus dem Erlöser auf der Spitze des Campanile von Sacro Cuore steigt immer höher in den Himmel, je näher man kommt. Jetzt glänzt sie im Sonnenlicht hinter dem Bahnhofsplatz am Ende der Via Cavour. Dieser Christus ist nicht nur eine der zahllosen religiösen Ikonen, die auf Rom hinabblicken. Er ist auch seit Jahrzehnten ein Orientierungspunkt für Spione, Terroristen, Kriminelle und Geheimagenten, sobald sie aus dem Zug steigen. Das zumindest ist die Funktion, die Simone Pace der Statue zuschreibt, wenn er das Haus des Friedens sucht oder jemandem den Weg dorthin beschreiben muss.

Der doppelte Eingang aus verspiegeltem Glas befindet sich am Anfang einer kleinen Seitenstraße, nur ein paar Häuserblocks von Christus dem Erlöser entfernt. Eine abgelegene Kreuzung mit wenig Verkehr. Simone Pace rückt die blaue Baseballmütze auf seinem Kopf zurecht, schiebt die gefakte Brille auf der Nase zurück, ein Tick von ihm, und überquert die Straße exakt gegenüber der Tür, die sein Spiegelbild immer größer zurückwirft. Das Haus sieht von außen aus wie eines der vielen eleganten Bed & Breakfast der italienischen Hauptstadt, wo Touristen und die Wasserträger der Politik übernachten. Innen ist es sehr viel mehr. Sein Luxus und seine Ruhe sind heute nur mit der VIP-Lounge am Flughafen von Dubai vergleichbar, die jenen Passagieren vorbehalten ist, für die Geld keine Rolle spielt. Auf dem Klingelschild aus Messing funkelt die gravierte Schrift in arabischen und lateinischen Buchstaben: Bait as-Salaam – Casa della pace. Haus des Friedens.

Simone klingelt und senkt den Blick auf seine Schuhe. Er weiß, dass die Videokamera läuft, sobald er den Finger auf den Knopf legt. Das winzige Objektiv befindet sich mit Sicherheit hinter den verspiegelten Eingangstüren, die sich gleich öffnen werden, eine nach der anderen. Aber niemand öffnet, niemand meldet sich. Er klingelt ein zweites Mal. Und erst jetzt nehmen seine Augen etwas wahr, was ihnen bisher entgangen ist. Die Glastür ist mit einer Staubschicht bedeckt und von unten bis oben hoffnungslos schmutzig. Unten links hat jemand seine Notdurft verrichtet, und das eklige Rinnsal auf der Türschwelle aus schwarzem Marmor verläuft bis zum Asphalt des Gehsteigs. Reste von Altpapier und aufgeweichtem Laub füllen den schmalen Spalt zwischen Schiebetür und Boden. Laub. Folglich wurde die Tür schon seit Wochen nicht mehr geöffnet. Das sagt ihm seine lange Erfahrung als Polizist sofort. Bei genauerem Hinsehen weist sogar das Messingschild dunkle Oxidationsflecken auf, es wurde also schon lange nicht mehr gereinigt. Er läutet ein drittes Mal. Und endlich merkt er, dass die Klingel, die ein aufmerksames Ohr auch hier draußen hören müsste, stumm bleibt. Der Strom ist abgeschaltet. Das Haus des Friedens existiert nicht mehr. Er bekommt ein flaues Gefühl im Magen. Er ist nicht enttäuscht, sondern erschrocken.

Simone Pace dreht sich auf dem Absatz um und geht. Die Brille auf der Nase, den Blick immer noch auf seine Schuhe gesenkt. Und jetzt ist da ein neuer Gedanke, der erste Schritt auf einem Weg, der bergauf führt. Er war sicher, sie hier anzutreffen. Nur sie könnte seine wahre Identität enthüllen und das Phantom wieder zum Leben erwecken. Soweit er weiß, ist sie wütend auf ihn. Bestimmt wegen dieser Verhaftung in Mali. Eine Frau, die in einer solchen Gegend der Welt wegen Terrorismus eingesperrt ist, hat, wenn sie bei ihrer Befreiung nicht stirbt, alles überlebt. Wirklich alles. Deshalb könnte sie von maßloser Wut erfüllt sein. Und deshalb könnte sie allein das Schweigen brechen und Simone Pace, wenn er tot und begraben ist, ins Leben zurückbringen. Er muss sie sehen. Er muss mit ihr sprechen. Er muss wissen, was sie vorhat. Seine ganze Angst spiegelt sich in der einzigen Frage, die seine Gedanken beherrscht: Wie finde ich Latifa?

Die Statue von Christus dem Erlöser immer noch im Blick, macht sich Simone auf den Weg zum Immobilienbüro des Viertels. Vor ein paar Tagen hat er im Internet die Anzeige für eine Zweizimmerwohnung im obersten Stock eines Altbaus gesehen. Zimmer, Wohnküche, Bad, Balkon und Fenster mit Blick auf den Sonnenuntergang und über die Dächer Roms. Er muss den Mietvertrag unterschreiben und die Kaution bezahlen. Fehlt nur noch die Anmeldung für Wasser, Gas und Strom, und er kann sein römisches Leben beginnen. Vorbei die Zeit, als er es sich leisten konnte, wochenlang zwischen den Edelholzmöbeln seines Lieblingshotels zu logieren.

 

Es bleibt sogar noch Zeit für einen langen Spaziergang in der frühlingshaften Sonne dieses ungewöhnlich warmen Novembertags. Wie ein Tourist, bis zum Forum Romanum. Dann das Warten auf den Sonnenuntergang in den Ruinen des antiken Rom. Und ein Abendessen im Restaurant der Schauspieler, im La Matriciana gleich gegenüber der Oper. Es ist berühmt für seine Pasta all’amatriciana, für seine Mezze maniche mit Muscheln und Pecorino und für viele andere Gerichte. In den Tiefen seines narzisstischen Bewusstseins fühlt sich Simone Pace wie ein großer Schauspieler. Nur dass die Filme, deren Hauptdarsteller er ist, immer live gedreht werden: ohne Double und ohne die Möglichkeit, eine Szene zu wiederholen. Wie im Theater.

Um Mitternacht liegt er schon in seinem Doppelbett und denkt nach, eingehüllt in die Duftessenzen von Zimmer Nummer 922. Das Licht gelöscht. Vom offenen Fenster das Rauschen der Stadt. Die Hände im Nacken verschränkt und noch einmal die Gewissheit, die Welt in der Hand zu haben. Er ist lange nicht mehr in Rom gewesen, und Rom fehlt ihm immer. Und so schläft er, noch angekleidet, ein.

Der Tag kündigt sich mit der Kühle der Morgendämmerung an, die vom offenen Fenster hereindringt. Simone Pace steht auf, um es zu schließen. Doch dann verharrt er am Fenster und betrachtet die beiden großen Kuppeln der Basilika Santa Maria Maggiore, wo Gian Lorenzo Bernini, der Bildhauer der Päpste, begraben liegt: zwei Kuppeln nebeneinander wie ein praller junger Busen, eine Hommage an die weibliche Fruchtbarkeit. Er wendet sich etwas nach rechts und nimmt zwischen den im ersten Tageslicht rosa schimmernden Ziegeln, den ausgedehnten, noch dunklen Terrassen und den schirmförmigen Kronen der Pinien das obere Gesims des Kolosseums in den Blick. Gleich dahinter, weit hinten in der Ebene, entdeckt er die Konturen des Colosseo quadrato, des E.U.R.-Palasts, die schönste und eleganteste architektonische Parodie aus der Zeit des italienischen Futurismus. Simone Pace findet das Bauwerk sogar eleganter als das Original. Ein Stück weiter rechts zeichnen sich am heller werdenden Himmel die Umrisse der Zypressen ab, hinter denen sich der Palatin verbirgt, die Residenz der römischen Kaiser. Und noch weiter rechts verschönert die Morgenröte eine chaotische Landschaft aus Dächern, Schornsteinen, Klimaanlagen, Antennen und Fernsehkabeln, die kreuz und quer aufgehängt sind. Über diesem Wirrwarr, höher als alles andere, bläht sich auf der Fahnenstange des Quirinalspalastes, dem Sitz des Präsidenten der Republik, die italienische Fahne im Wind. Gleich dahinter, isoliert und noch größer, scheint sie von der riesigen, unbewegten Halbkugel der Kuppel von Sankt Peter beobachtet zu werden. Erstaunt, als wäre es das erste Mal, bemerkt Simone, dass man von seinem Standort aus sogar den Dreiecksgiebel der Basilika sieht. Und daneben die Fassade mit dem Fenster der Papstwohnung. Von Zimmer Nummer 922 erfasst man mit einem einzigen Blick mehr als zweitausend Jahre Geschichte.

Tief einatmend, genießt er die Schönheit dieser Szenerie. Plötzlich ist ihm kalt. Er erinnert sich, dass er das Fenster schließen wollte, dann setzt er sich im perfekten Schneidersitz aufs Bett. So verharrt er fast eine Stunde. Er nimmt eine heiße Dusche. Dann geht er hoch zur Terrasse des Hotels. Frühstück im Freien mit einem Panoramablick über die Stadt. Fast wie im Frühling. Frisches Obst, Ziegenkäse, Brot, Honig. Und Espresso, sehr schwarz, sehr stark.

Um neun Uhr erstrahlt die Fassade von San Pietro in Vincoli in der Sonne. Das Portal ist bereits geöffnet und gibt das Halbdunkel des weiträumigen Kircheninnern frei. Erst nach vielen Schritten haben sich die Augen an den Dämmer gewöhnt. Wenige Bänke, wie am Tag zuvor. Ich sitze in der letzten gegenüber dem Altar. Ich drehe mich um. Simone Pace lässt seine Augen umherschweifen, eine letzte Kontrolle. Dann nimmt er neben mir Platz. Vor den Ketten des heiligen Petrus, Moses’ gestrengem Blick ausgesetzt.

»Bevor wir anfangen«, sagt er leise, nachdem wir uns begrüßt haben, »möchte ich Ihnen sagen, dass ich meiner Geschichte keine in irgendeiner Weise religiöse Bedeutung geben will. Ich habe diese Kirche nur deshalb als Treffpunkt vorgeschlagen, weil man, während ich Ihnen meine Geschichte erzähle, die Umgebung besser im Auge behalten kann. Ich bin Gott sei Dank Atheist.«

»Ich bin kein Priester und könnte Sie von den Sünden, die Sie mir beichten werden, ohnehin nicht lossprechen«, erwidere ich, während ich Notizheft und Stift aus meiner Jackentasche hole, wie es mir unsere Abmachung gestattet. »Beginnen wir mit den Morden?«

»Nein«, sagt Simone Pace, »beginnen wir mit dem ersten Treffen. Und mit meiner Anwerbung.«

DAS ERSTE TREFFEN

»Nun lade ich Sie ein, mir bei diesem Sprung in die Vergangenheit zu folgen. Kehren wir nach Italien zurück, nach Mailand, auf den Corso Garibaldi. Ich war ein junger Mann, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Kennen Sie den Corso Garibaldi?«

»Klar, die Gegend mit den angesagten Restaurants und Bars«, antworte ich.

»Ja. Vor dreißig Jahren war dieses neue Viertel längst nicht so en vogue wie heute. Ich schicke voraus, dass die Namen, die ich Ihnen nennen werde, Tarnnamen sind. Aber dahinter stehen real existierende Personen, von denen viele bis heute im Dienst sind.«

»Im Dienst der CIA?«

»Richtig. In der CIA, aber auch in staatlichen Behörden und privaten Institutionen, für die sie arbeiten. Aber damals war die CIA für uns nur eine Abkürzung, die wir aus Filmen kannten. Wir waren noch nicht angeworben worden. Nicht alle, glaube ich zumindest. Also, wir sind in Mailand, auf dem Corso Garibaldi.«

Auch an diesem Tag bin ich zu früh da, fährt Simone Pace fort. Wenn man als Erster zu einer Verabredung erscheint, ist man immer im Vorteil. Sie hatten mir den Namen des Lokals genannt, in dem wir uns treffen sollten. Das Restaurant war neu eröffnet, und ich kannte es nicht. Weiße Markise mit schwarzem Schriftzug: Ibiza, wie die Insel.

Ich sehe, wie sie hereinkommen, einer nach dem anderen. Als Letzter und ganz pünktlich trifft unser Gastgeber ein. Er ist der Anlass dafür, dass wir alle zusammenkommen, Kollegen und vertraute Freunde. Ich sehe ihn zum ersten Mal und versuche sofort, ihn nach seiner Kleidung einzuschätzen. Eleganter grauer Anzug. Hellblaues Hemd mit weißem Kragen und weißen Manschetten, damals groß in Mode. Goldene Manschettenknöpfe. Kurz geschnittenes Haar und lange Koteletten. Das Auffälligste allerdings sind seine Schuhe: schwarze Lederschuhe Modell Oxford mit Verzierungen an der Vorderkappe, den Ösen und Nähten, garantiert Handarbeit. Sein Alter ist schwer zu schätzen, denn er trägt eine Brille mit dicken Gläsern: ein schwarzes rechteckiges Gestell, zu groß für sein Gesicht. Zwischen den Fingern der rechten Hand hält er eine dicke erloschene Zigarre, die bei der Begrüßung in die linke wechselt. Vom Aussehen her könnte Giacomo, mit diesem Namen stellt er sich vor, ein arroganter staatlicher Spitzenfunktionär, aber auch ein Stahlwerksbesitzer oder ein Zuhälter sein. Seine Kleidung hat etwas von allen dreien. Wie ich später erfahre, ist er der Direktor einer Bank. Einer sehr bekannten Bank.

Als wir im Restaurant Ibiza am Tisch sitzen, ist es Andrea, der ihn offiziell begrüßt: »Giacomo ist Piemontese wie ich. Wir sind in Turin zusammen aufgewachsen, und ich wollte ihn euch vorstellen, weil er ein großes Projekt hat.«

Giacomo wirkt verlegen. Eine einstudierte Verlegenheit. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern jedoch verraten einen raschen Verstand. In dem etwas schweren Körper wirkt sein Verstand wie der Motor eines Rennwagens unter der Haube einer alten Limousine.

»Danke, dass ihr gekommen seid, und danke für das, was ihr für unser Land tut«, sagt Giacomo schlicht. Dann greift er nach der Speisekarte und fängt an zu lesen.

Wir tauschen überraschte Blicke. War das alles? Warum hat er uns hier versammelt wie eine Bande von Verschwörern? Andrea, der Unternehmungslustigste der Gruppe und ihr Kopf, hat seine Sache gut gemacht. Er hat uns alle kontaktiert. Er sagte, Giacomo sei in Organisationen eingeschleust gewesen, die mit Kolumbien Drogenschmuggel betreiben. Ich hatte ihn mir groß, sportlich und muskulös vorgestellt und nicht diesen blassen, gespielt schüchternen Mann erwartet, der in die Speisekarte vertieft am Kopfende des Tisches sitzt.

Jedenfalls hatte Andrea unsere Neugier schnell geweckt. Er versteht es, andere mitzureißen, und kann es sich erlauben, mit dem Flugzeug zu reisen und teure Klamotten zu kaufen. Und er rühmt sich wichtiger Freunde. Ich beobachte ihn, wie er neben Giacomo sitzt. Auch diesmal wirkt er wie eingenäht in sein zweireihiges blaues Sakko über einem weißen Hemd ohne Krawatte. Dazu trägt er Jeans und braune Wildlederschuhe. Seine langen blonden Haare umrahmen sein Gesicht, als wären sie gemeißelt. Als er uns Giacomo vorstellte, hat er seine Stimme moduliert, um ihr mehr Nachdruck zu verleihen. Bei jeder Gelegenheit plustert er sich auf und dominiert alles und uns alle.

Im Gegensatz zu Andrea trage ich Sachen, die ich mir von meinem Polizistengehalt leisten kann: ausgewaschene Jeans, Sportschuhe von Nike, natürlich gefälscht und auf meinem Stadtteilmarkt gekauft, ein langärmeliges blaues Poloshirt von Lacoste. Das Poloshirt ist echt, darauf bin ich stolz. Aber es ist ein Geschenk meiner Frau. Ehrlich gesagt, mache ich neben meinen Freunden gar keine schlechte Figur. Filippo, der Älteste, der neben mir sitzt, trägt eine grüne Cordhose, die schon bessere Zeiten gesehen hat, und den üblichen Schal gegen seine Nackenschmerzen. Ohne das rot-blau karierte Baumwollhemd wäre seine Kleidung völlig aus der Mode. Tommaso mir gegenüber rutscht auf seinem Stuhl hin und her und wirft den Kopf herum. Er kann nicht still sitzen. Immer wieder kneift er die Augen zusammen, als durchzuckte ihn ein höllischer Schmerz. Aber wehe, man macht ihn auf diesen Tick aufmerksam. Tommaso fühlt sich als der Playboy seiner Abteilung und gibt sein ganzes Geld für Klamotten aus. Markenschuhe, Armani-Jeans, rosa Poloshirts von Ralph Lauren. Tommaso liebt Rosa, und immer, wenn er ein Poloshirt in dieser Farbe trägt, mustert ihn Giovanni, macht ihm Komplimente und fragt ihn, ob es solche Poloshirts auch für Männer gibt. Giovanni hat soeben links von Tommaso Platz genommen. Rechts von ihm sitzt Mattia, der Klon von Andrea. Die beiden sind unzertrennlich. Mattia versucht sogar, Andreas Kleidungsstil zu imitieren. Heute trägt er Jeans, ein weißes Hemd und ein zweireihiges Jackett in Blau, nur ein klein wenig dunkler als das seines besten Freundes.

»Sie müssen immer darauf achten, wie sich jemand kleidet. Die Kleidung ist der einzig echte Personalausweis«, sagt Simone Pace und wendet sich mir zu. »Aber ich weiß, dass ich anders bin als sie alle. Und der Unterschied besteht nicht in der Kleidung. Zu jener Zeit beschäftige ich mich mit Überwachung. Ich höre Telefonate ab, überprüfe bestimmte Tatbestände, solche Dinge. Manchmal schicken sie mich sonntags als Ordnungshüter ins San-Siro-Stadion, zu den Spielen zwischen Inter Mailand und AC Mailand. Ich bin nur ein Polizist, habe also feste Dienststunden und infolgedessen viel freie Zeit, in der ich das tue, was ich schon als junger Auszubildender in der Einsamkeit meines Kasernenzimmers getan habe. Ich lerne Sprachen. Als Autodidakt. Ich kaufe mir Sprachkassetten, Schnellkurse, Bücher in der Originalsprache. Zuerst perfektioniere ich mein Englisch und mein Französisch, dann beginne ich mit Arabisch und Deutsch. So baue ich mir eine Zukunft auf und das, was ich in späteren Jahren machen werde.« Simone Paces Blick geht erneut zum Altar, dann fährt er mit seiner Erzählung fort.

Als Giuda das Restaurant betritt, haben wir schon alle bestellt, und die Vorspeisen werden serviert. Seinen Spitznamen hat er sich mehr als verdient: Er betrügt regelmäßig alle Frauen, mit denen er ein Verhältnis hat. Seine Beziehung zu Andrea, der ihn für seine allzu starke Neigung zum schönen Geschlecht kritisiert, ist entsprechend konfliktgeladen. Giuda geht schnurstracks auf Giacomo zu und gibt ihm die Hand, denn Giacomo ist der Einzige am Tisch, den er nicht kennt. Er macht das so schnell, dass Giacomo gar keine Zeit hat, aufzustehen und ihn seinerseits zu begrüßen.

»Was machst du denn für ein Gesicht? Ist der Ehemann nach Hause gekommen und du musstest durchs Fenster türmen?«, spottet Tommaso, als Giuda sich ans andere Ende des Tisches setzt, dem Gastgeber gegenüber. Als er hereinkam und uns alle hier sah, hat er ganz rote Backen bekommen. Vielleicht war er überrascht oder erschrocken. Keiner von uns wusste, dass die anderen auch da sein würden. Giuda ist der Einzige, den dieses Treffen nicht besonders interessiert. Er stammt aus einer wohlhabenden Familie, hat sich mit seinen fünfundzwanzig Jahren gerade einen weißen Golf gekauft und bewohnt ein sehr schönes Appartement in der Innenstadt von Mailand.

 

Das Restaurant ist neu eröffnet, das sieht man sofort. Es ist elegant, minimalistisch eingerichtet und wie geleckt. Die dominierenden Farben sind das Weiß der langen Tischdecken und das Hellblau der Vorhänge. Vielleicht liegt es daran, dass es kaum andere Gäste gibt, aber die Anzahl der Kellner scheint mir übertrieben. Allein für unseren Tisch sind es vier, immer sofort zur Stelle, um nachzuschenken, sobald ein Glas leer ist. Diese Aufmerksamkeit bringt einen fast in Verlegenheit. So wie vorhin, als ich nach der Toilette gefragt habe und einer der Kellner fast mit reingegangen wäre.

Ich beobachte Andrea in seinem eleganten Jackett und habe ein ungutes Gefühl. Giacomo und Andrea verständigen sich weniger durch Worte als durch einvernehmliche Blicke. Wenn Giacomo einen von uns ins Visier nimmt, beugt sich Andrea zu ihm hinüber und murmelt ihm etwas zu. Das Mittagessen oder vielmehr der Lunch, wie er es großspurig genannt hat, zieht sich über eineinhalb Stunden hin. Am Ende denkt keiner von uns auch nur im Traum daran, aufzustehen und die Rechnung zu bezahlen, die garantiert so hoch ist wie ein ganzes Monatsgehalt von uns. Wir sind fast alle im öffentlichen Dienst beschäftigt: als Polizeibeamte, Carabinieri, Ex-Carabinieri, Verwaltungsangestellte. Zwei Dinge verbinden uns: Wir alle haben an Gerichtsprozessen mitgearbeitet, und sei es nur als Eskorte der Angeklagten oder als einfache Hilfskräfte. Und bei uns allen ist das Geld knapp. Aus Höflichkeit deutet der eine oder andere an, dass er seinen Anteil bezahlen will. Aber Giacomo gibt uns mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er das schon erledigt hat. Draußen auf dem Bürgersteig vor dem Restaurant reicht er jedem von uns die Hand. Der Rauch seiner Zigarre, die jetzt angezündet zwischen seinen Zähnen steckt, hüllt sein Gesicht mit Spezialeffekten ein. Lichtreflexe umspielen seine kastanienbraunen Augen. Giacomo fixiert mich so penetrant, dass ich gezwungen bin, meinen Blick abzuwenden.

»Danke, danke«, sagt er. Jetzt bin ich an der Reihe. »Du bist Simone, richtig?«

»Ja, ich bin Simone Pace.«

»Hier ist ein kleines Geschenk für dich. Dafür, dass du dir die Mühe gemacht hast zu kommen. Für deine wertvolle Zeit«, fügt Giacomo hinzu und reicht mir einen weißen Umschlag. Ich stecke ihn ein. Dieselbe Szene wiederholt sich bei den anderen. Tommaso will den Umschlag öffnen, aber Giacomo hält ihn zurück. »Nein, nicht jetzt. Ich möchte nicht, dass ihr noch mehr Zeit verliert.«

Der Reihe nach, wie wir gekommen sind, trennen wir uns wieder. Der eine oder andere bleibt unterwegs stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Tommaso starrt ins Schaufenster eines leeren Geschäfts. So ist er nun mal. Ein Kontrollfreak. Er betrachtet nicht die Auslage im Schaufenster, sondern benutzt es nur, um die sich darin spiegelnde gegenüberliegende Straßenseite zu beobachten. Aber warum sollte uns jemand beschatten? Noch verstehe ich es nicht. Aber die Szene beunruhigt mich. Vielleicht weiß Tommaso etwas, das mir entgangen ist.

Erst als ich abends zu Hause bin und etwas Dickes in der Innentasche meiner Jacke spüre, fällt mir der Briefumschlag wieder ein. Ich lege ihn kurz auf die Ablage im Flur, aber dann stecke ich ihn zurück in die Jackentasche. Und vergesse ihn erneut. Jedenfalls öffne ich ihn nicht sofort. Ich erinnere mich erst wieder daran, als Filippo mich anruft, der älteste der Freunde im Restaurant: »Hallo. Hast du gesehen?« Er spricht so leise, dass ich seine Stimme nicht gleich erkenne.

»Wer ist am Apparat? Warum sprichst du so leise? Sprich lauter, ich versteh dich nicht.«

»Filippo. Ich bin Filippo. Hast du gesehen, was drin ist? Hast du ihn aufgemacht?«

»Was, Filippo? Wovon redest du?«

Und er, noch leiser: »Den Um… Das, was er uns gegeben hat.«

»Nein, Filippo«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»Ich dachte … Na ja, reden wir morgen.« Er legt grußlos auf.

Langsam gehe ich zum Schlafzimmerschrank, in den ich die Jacke gehängt habe. Ich lasse meine Hand in die Innentasche gleiten, ziehe den Umschlag heraus und öffne ihn. Er enthält einen auf meinen Namen ausgestellten Scheck: eine Summe so hoch wie mein Jahresgehalt. Ich würde am liebsten zu meiner Frau laufen, die beim Kochen ist, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen. Aber ich tue es nicht.

»Wer war das? Warum hast du am Telefon so geschrien?«, fragt sie, während ich mich zum Abendessen an den Tisch setze.

»Nichts Wichtiges«, antworte ich. »Filippo wollte mir sagen, dass ich morgen frühzeitig im Büro sein muss, und ich konnte ihn nicht richtig verstehen.«

»Papa, spielst du dann mit mir?«, fragt meine Tochter. Nach Feierabend mit ihr zu spielen ist meine einzige Ablenkung. Und so verschiebe ich die Sache mit dem Scheck auf später. Ich würde nachts im Bett darüber nachdenken.

Tags darauf, im Büro, ist Filippo außer sich vor Wut. »Wer zum Teufel ist das? Was erlaubt er sich eigentlich? Was will er von uns?« Filippo ist kaum zu bremsen. »Verstehst du? Ich will dieses Geld nicht haben. Es riecht nach Ärger.«

»Du hast ja recht«, sage ich und spüre in mir eine Leere, die ich nicht einmal mit den kühnsten Überlegungen füllen kann. »Aber hast du denn überhaupt die Adresse von diesem Giacomo?«

»Andrea hat sie mir gegeben«, sagt Filippo, »und ich habe ihm den Scheck bereits heute Morgen zurückgeschickt. Wenn er uns Geld hätte geben wollen, hätte er es uns doch in bar geben können. Aber ein Scheck auf meinen Namen? Ich hinterlasse keine Beweise.«

»Das hast du richtig gemacht. Gib mir die Adresse, ich schicke den Scheck auch zurück.«

Ich habe es nicht getan. Seit diesem Tag haben wir nicht mehr darüber gesprochen. Filippo ist ein Mensch mit unglaublichen Fähigkeiten, in vieler Hinsicht. Er hat ein Gedächtnis, das ins Guinnessbuch der Rekorde gehört, und vor allem besitzt er eine tiefe Menschlichkeit. Aber ich glaube, dass auch Filippo den Scheck nicht zurückgeschickt hat.

Ein paar Monate später wechselt Andrea den Job. Er gibt seine Tätigkeit bei der Gerichtspolizei* auf und übernimmt eine wichtige Aufgabe in der Sicherheitsabteilung eines großen Unternehmens. Tommaso wird den gleichen Weg gehen. Und Mattia schafft es sogar, sich zum italienischen militärischen Nachrichtendienst versetzen zu lassen, wofür ihn alle seine Kollegen bewundern und beneiden. Vor allem in so jungen Jahren ist ein derartiger Karrieresprung nicht einfach. Wer weiß, wer ihn empfohlen hat. Vielleicht haben Mattia und Andrea zum selben Heiligen gebetet. Zum heiligen Jakobus, San Giacomo, dem edlen Spender der Schecks. Davon bin ich fest überzeugt.

Andrea ist es, der die Gruppe zusammenhält. Uns verbindet eine besondere Freundschaft. Gewöhnlich haben Polizei und Carabinieri nichts miteinander zu tun. Das gegenseitige Misstrauen durchdringt auch das Privatleben. Bei uns ist es anders. Wir haben jahrelang rote und schwarze Terroristen gejagt, Kommunisten mit dem Revolver und Faschisten mit Sprengstoff. Wir haben dieselben Gefahren überstanden. Und deshalb haben wir gelernt, einander zu vertrauen. Tage- und nächtelang saßen wir Seite an Seite in den Büros der Staatsanwaltschaften halb Italiens. Eingesperrt in abhörsicheren Räumen, haben wir Berichte geschrieben, Telefonate abgehört und Informationen ausgetauscht. Wir waren die erste wirklich behördenübergreifende Einheit.