Der amerikanische Agent

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DAS VERSPIEGELTE ZIMMER

An diesem Punkt muss Simone Pace Simone Pace eliminieren. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Nicht, dass ihm der Mut zum Töten fehlen würde. Das hat er öfter miterlebt. Aus der Nähe, aus allernächster Nähe. Er kennt den Ammoniakgeruch des Schießpulvers. Das Plopp des Schalldämpfers. Den letzten erstickten Klagelaut in der Luft. Das Opfer, das in sich zusammensackt wie ein Haufen leere Kleider. So wie an jenem Abend in Brüssel vor vielen Jahren. Ein leises Plopp ins Genick. Zwei. Beim dritten war Gerald Bulls Körper schon erschlafft. Das vierte und fünfte Plopp waren nur zwei Pinselstriche, dem Schauplatz des Verbrechens hinzugefügt. Dann nur noch das reglose, stumme Licht des Treppenabsatzes. Und die Geschichte nahm einen anderen Verlauf. Jerusalem war gerettet. Die Israelis waren gerettet. Die Palästinenser auch. Wir sind bis heute gerettet. Ein einziger, nicht Zehntausende von Toten. Ein einziger Toter, und Saddam Hussein stand nackt da. Die Superkanone sollte seine Geheimwaffe sein. Von großer Zerstörungskraft, treffsicher, zuverlässig. Sie hätte das Gleichgewicht der Kräfte verändert. Wer erinnert sich noch daran? Fünf schallgedämpfte Schüsse aus einer Pistole Kaliber 7,65 Millimeter. Und der Konstrukteur der tödlichen Waffe, der zynischerweise mit einem Baguette unter dem linken Arm überrascht wurde, den Schlüssel schon in der Tür seiner Wohnung, wanderte vom Schlachtfeld direkt auf den Friedhof. Ende der Geschichte.

Gerald Bull hat ihm immer leidgetan. Er hat ihn stets als ein Opfer betrachtet. Als Gefangenen seines Genies, seines Ehrgeizes, seines Projekts, das er in die falschen Hände legte. In die Hände des Diktators von Bagdad. Der Zug schießt aus dem Tunnel. Die plötzliche Helligkeit rüttelt Simone Pace aus seinen dumpfen Gedanken. Seine Augen sind geblendet. Die ins Licht der Morgensonne getauchte Landschaft löscht das Spiegelbild seines Gesichts im Fenster. Es scheint auf und verschwindet wieder. Ein Schlag so dumpf, als hätte er Stöpsel in den Ohren. Der Zug rast in einen neuen Tunnel. Zweihundertsiebzig Stundenkilometer, verrät der an der Decke aufgehängte Plasmabildschirm. Von Florenz nach Rom in eineinhalb Stunden. Licht. Sonne. Die toskanischen Hügel mit ihrem reinen Grün, die von Feuchtigkeit glitzernden Reflexe. Ein Morgen Ende November. Manchmal ist Töten keine Straftat.

Es muss nicht immer ein Verbrechen sein. Manchmal ist Töten die einzige Möglichkeit, den Frieden zu sichern. Der einzige Ausweg. Davon ist Simone Pace überzeugt. Damals in Paris war es anders. An jenem Vormittag auf dem Pont du Carrousel geschah zweifellos ein Verbrechen. Ein vorsätzlicher Mord. Punkt. Die abscheuerregende Szene, als der Amerikaner den jungen Mann in die Seine warf. Brahim Bouarram ertrank ohne jeden Grund. Am Ende des Tages konnte niemand sagen, die Welt sei sicherer geworden. Die Welt hatte nur ein unschuldiges Opfer mehr. Auf dem Pont du Carrousel sollten sie Ali Belkacem anwerben, einen Algerier mit Kontakten zur berüchtigten GIA, der Groupe Islamique Armé. Simone Pace weiß es genau, weil er an jenem Tag auf der Brücke zwischen dem Quai Voltaire und dem Louvre dabei war. Er war der Köder, um Belkacem an den Haken zu bekommen. Aber die Operation misslang. Und die Franzosen haben die Konsequenzen bis heute zu tragen. Seither haben die Terroristen nicht mehr aufgehört, Frankreich anzugreifen.

›Vielleicht haben wir Israel und Palästina gerettet. Aber die Rechnung bezahlt der Rest der Welt‹, sagt sich Simone Pace, zufrieden und zugleich erschrocken, dass ihn seine Überlegungen zu diesem Fazit geführt haben. Anerkennend betrachtet er sein Gesicht im Spiegel der Scheibe, als der Zug durch einen weiteren Tunnel fährt. Obwohl schon über fünfundfünfzig, hat Simone Pace kaum Falten. Ein längliches Gesicht. Immer noch schwarze Haare, etwas schütter über der Stirn. Schmale Brille, das Gestell fast unsichtbar. In Wirklichkeit ist sein Sehvermögen ausgezeichnet. Die Brille hat ungeschliffene Gläser. Sie dient dazu, die Passanten abzulenken, die Neugierigen, den üblichen Voyeur, der sich gern in fremde Angelegenheiten einmischt. Er will keine Zeugen jetzt, wo er dem Ort des Verbrechens immer näher kommt. Denn falls er noch irgendeinen Zweifel hegte, hat er ihn beiseitegeschoben: Simone Pace muss Simone Pace eliminieren.

Mit schnaubenden Bremsgeräuschen fädeln sich die Waggons des Schnellzugs Frecciarossa 9509 durch das Gewirr der Gleise und zwischen den grauen Pfeiler unter den Viadukten hindurch, die Rom ankündigen. Türme schneeweißer Wolken wachsen in den azurblauen Himmel über den pastellfarbenen Fassaden der Vorstädte. Der Zug verlangsamt sein Tempo und fährt zwischen zwei Schutzdächern und Plattformen in den Bahnhof ein.

Das Hotel Mediterraneo, in dem Simone Pace für ein paar Nächte ein Zimmer reserviert hat, liegt in der Via Cavour 15, gegenüber dem Platz und dem multiethnischen Chaos vor der Stazione Termini. Ein zehnstöckiges Hochhaus, 1936 entworfen und im Art-déco-Stil eingerichtet. Er hat hier schon öfter übernachtet. Für ihn ist dieses Hotel eine Zeitmaschine. Mit dem Duft der Edelhölzer, dem Stil des Jahres 1925, als Paris die Kapitale des Fortschritts war und Rom in die dunkelsten Jahre des Faschismus stürzte, atmet er das Flair vergangener Epochen.

Er bekommt Zimmer Nummer 922 im neunten Stock mit Spiegeln und Holzvertäfelungen. Sein Lieblingszimmer. Nicht zu groß und nicht zu klein. Das vom Fenster hereinflutende helle Licht empfängt ihn. Er öffnet seinen Rucksack. Die alten Eichentüren des Einbauschranks quietschen wie immer. Er legt die vier weißen Hemden ins Regal, die einzigen Jeans zum Wechseln und das bisschen Unterwäsche, das er mitgenommen hat. Aus dem zweiten Rucksackfach holt er seinen Laptop heraus und versteckt ihn unter der Matratze. Mehr aus Paranoia als aus Notwendigkeit. Er betrachtet sich im Spiegel, der die gesamte Wand mit dem Schreibtisch einnimmt. Er gefällt sich. Sein breiter Rücken wird von der verspiegelten Wand mit dem Doppelbett hinter ihm reflektiert. Er dreht sich zur Seite, um seinen Rücken besser zu sehen, aber die Spiegel vor und hinter ihm vollziehen die Bewegung seines gesamten Oberkörpers mit. Und verdecken ihn. Wenn er sich jedoch in die richtige Position bringt, spiegeln sich aufgrund der optischen Täuschung Gesicht, Augen und Hände, sein Körper, die große Stehlampe aus weißem Porzellan zu seiner Linken, das ganze Zimmer, das Bett, die beiden Wandleuchten, die grünen Karos des Bettüberwurfs, sein Lächeln und erneut sein Profil: tausendfach, millionenfach, in immer kleiner werdenden Quadraten. Er spielt damit jedes Mal wie ein Kind, sobald er sich in diesem endlosen Tunnel befindet, den die beiden einander unaufhörlich reflektierenden Spiegel bilden. Ein Schwindel erfasst ihn. Er konzentriert sich auf das Etikett der Flasche Rotwein neben dem Fernseher. Aglianico di Benevento, ein Geschenk des Hotels. Dann schaut er auf die stählerne Uhr an seinem Handgelenk. Es ist zwei Minuten nach elf. Jetzt darf er keine Zeit mehr verlieren. Er muss sofort einen Anruf erledigen. Er muss sich um den Tod von Simone Pace kümmern.

VOR DEM MOSES

Beim zweiten Handyklingeln gehe ich ran.

»Buongiorno, ich bin Saimon Peis«, höre ich eine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Wer bitte?«

»Saimon Peis … oder Pace, wie Sie wollen«, sagt er, als er merkt, dass ich die englische Aussprache seines Namens nicht sofort verstanden habe.

»Entschuldigen Sie, aber in Ihrer Nachricht auf Telegram hatte ich Simone Pace gelesen. Ich wusste nicht, dass es so ausgesprochen wird«, rechtfertige ich mich.

»Kein Problem. Wo sind Sie?«

»Ich bin da, wo Sie mich hinbestellt haben, vor dem Bahnhof Termini. Ich warte hier auf Sie.«

»Nein, besser nicht. Es ist nicht ratsam, sich im Bahnhof zu treffen. Wissen Sie, wo San Pietro in Vincoli liegt?«, fragt Simone Pace.

Ich zwinge mich, mir meinen Ärger über diesen Zeitverlust nicht anmerken zu lassen. Schließlich war er es, der mir in seiner letzten Nachricht den Bahnhof als Treffpunkt vorgeschlagen hat. »Natürlich weiß ich, wo San Pietro in Vincoli liegt«, antworte ich höflich.

»Dann treffen wir uns dort in einer halben Stunde. Warten Sie vor der großen Mosesstatue auf mich. Sie befindet sich vorne rechts, neben dem Altar.«

»Ich bin zu Fuß unterwegs, so lange werde ich brauchen.«

Ein schlanker Mann, der sich für sein Alter gut gehalten hat, erscheint mit entschlossenem Schritt auf der Treppe, die von der Via Cavour zur Piazza San Pietro in Vincoli hinaufführt. Er trägt einen schwarzen Rucksack über einer gleichfalls schwarzen, wasserdichten Jacke mit Taschen und Reißverschlüssen und eine blaue Baseballkappe, deren Schirm fast sein ganzes Gesicht verdeckt. Er wirkt ruhig. Aber ich bin mir nicht sicher, dass es Simone Pace ist. Ich habe ihn noch nie gesehen. Er bleibt in der Säulenhalle am Eingang zur Basilika stehen. Bestimmt will er sehen, wie ich an ihm vorbeigehe. Er muss sich vergewissern, dass ich keine Dummheiten mache: dass ich keinen Fotografen vor der Kirche postiert habe und dass ich meinerseits nicht beschattet werde. Er hat sich mein Gesicht eingeprägt. Er hat es genau studiert, und er kennt meine Stimme aus den Interviews, die jeder im Internet finden kann. Diese paranoiden Angewohnheiten wird er mir eines Tages gestehen.

Touristengruppen kommen und gehen. Die Hautfarbe, die Sprache der Besucher bezeugen ihre Herkunft besser als ein Pass. Ich verlasse das Halbdunkel des Eingangsportals und trete vor ihm ein, aber er nimmt mich nicht wahr. Ich gehe auf den Altar zu. Ab und zu drehe ich mich um, weil ich ihn nicht aus den Augen verlieren will. Simone Pace greift zu seinem Handy. Er liest die Nachricht, die ich ihm soeben über Telegram geschickt habe: »Ich stehe vor dem Moses.« Aber das stimmt nicht. Ich warte in sicherer Entfernung. Ich möchte sehen, wer er ist. Kontrollieren, dass er wirklich allein ist. Da ist er.

 

Es dauert einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit der Basilika gewöhnt haben, wo die Ketten aufbewahrt sind, mit denen der Legende zufolge der heilige Petrus im Gefängnis in Jerusalem und Rom gefesselt war. Giovanni Battista Parodis Deckenfresko mit dem Kettenwunder erstrahlt, von Stuck umrahmt, über dem Hauptschiff. Aber Simone Pace würdigt es keines Blickes. In dem großen Kirchenraum mit nur wenigen Reihen Knie- und Sitzbänken geht er zielstrebig auf Michelangelos monumentale Skulptur zu. Nur zwei Besuchergruppen umringen sie. Er blickt sich argwöhnisch um. Schließlich entdeckt er mich im gegenüberliegenden Schiff, wo ein Priester die Messe liest. Es ist offenkundig, dass ich kein Tourist bin, dafür stehe ich viel zu lange auf einem Fleck. Und ich bin auch nicht wegen der Messe hier, denn ich drehe der Kapelle den Rücken zu. Ich betrachte die mächtige Mosesstatue, aber die Skulptur interessiert mich nicht, sonst würde ich näher herantreten. Als sich die beiden Gruppen entfernen, bleibt Simone Pace allein zurück, während ich auf der anderen Seite des Raums stehe. Ich habe ihn zweifelsfrei identifiziert und bewege mich langsam auf ihn zu.

»Signor Peis?«, frage ich und wähle mit einem Anflug von Zynismus die englische Aussprache seines Namens. Ich strecke den rechten Arm aus, um ihm die Hand zu geben. Er mustert meine grüne Jacke, die mir an den Schultern etwas zu weit ist und mir bis zu den Oberschenkeln reicht. Ich trage Jeans, ein dunkelblaues Hemd und bequeme Halbstiefel aus braunem Leder. In dem kurzen Moment, in dem er seinen Arm zu einem energischen Händedruck ausstreckt, scheint Simone Pace jedes Detail meiner Kleidung zu studieren. Erst dann hebt er den Blick, um mir ins Gesicht zu sehen. »Wir sind in Italien, nennen Sie mich ruhig Pace oder noch besser Simone«, kommt die schnelle Antwort.

»Da bin ich«, sage ich zu ihm. Und drehe mich um, um mir die Skulptur genauer anzusehen. Ich war schon öfter hier. Aber der visuellen Faszination dieser Marmorstatue, modelliert, als wäre sie aus weichem Ton, den Gewandfalten, der Anatomie der Muskeln, der Bewegung des Körpers und der Strenge des Antlitzes kann man sich nicht entziehen.

»Warum sprichst du nicht?«, sagt Simone Pace und wiederholt die Frage, die der Überlieferung zufolge Michelangelo stellte, als er sein Meisterwerk vollendet hatte.

»Unglaublich, wie es ihm gelungen ist, Moses’ Gesicht zu drehen.«

»Das wusste ich nicht. Drehen in welchem Sinn?«, fragt Simone Pace.

»Das Gesicht war auf einer Linie mit dem Bart. Wie Sie sehen, ist der Bart jetzt im Vergleich zum Gesicht nach rechts gewendet.«

»Während vorher …«

»Vorher hat Moses geradeaus geblickt. Fünfundzwanzig Jahre lang nahm er eine statische Position ein. Der Moses war die erste von vierzig Statuen, die das Mausoleum für Papst Julius II. schmücken sollten. Als dann das Projekt aus Kostengründen aufgegeben wurde, wies um 1540 ein Freund Michelangelo darauf hin, dass ein Moses in Bewegung realistischer gewesen wäre. Doch um den Kopf zu drehen, musste auch der Körper eine Drehung vollführen. Natürlich mit Hammer und Skalpell. Wenn Sie sich Moses’ linkes Knie anschauen, werden Sie feststellen, dass es dünner ist als das rechte. Um den linken Fuß nach hinten zu bringen, musste der Künstler Marmor wegnehmen. Es ist eine Skulptur, keine Marionette. So etwas konnte nur der große Michelangelo zustande bringen.«

»Ich habe mich immer gefragt, warum Moses nicht zum Altar blickt«, sagt er.

»Das hat sich Sigmund Freud auch gefragt.« Ich wende mich Simone Pace zu und blicke zum ersten Mal direkt in seine Augen hinter der schmalen Brille. Mir fällt auf, dass die Gläser die Pupillen seiner grünen Augen nicht vergrößern. »Moses zürnt seinem Volk«, fahre ich fort, »weil es in seiner Abwesenheit angefangen hat, das Goldene Kalb anzubeten. Er ist im Begriff aufzustehen und zu gehen, aber er lässt sich Zeit. Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand spielen ungeduldig mit den Bartlocken, sodass ihm die Gesetzestafeln zu entgleiten drohen. Er zögert, ist unschlüssig, was er machen soll. Er liegt im Widerstreit mit sich selbst. Noch hat er sich nicht entschieden, ob er bleiben oder gehen soll. Das ist allerdings nur die offizielle Lesart des Werks. Diejenige, die verhindert hat, dass Michelangelo gehängt wurde. Ich dagegen glaube, dass der Moses die Ansichten Michelangelos über die römische Kirche zum Ausdruck bringt.«

Simone Pace betrachtet schweigend das große Marmorantlitz.

»Sehen Sie sich die Statue von Papst Julius II. hier oben an, der die Skulptur in Auftrag gegeben hat. Er liegt ausgestreckt da und blickt fröhlich zu uns herunter. Finden Sie, das ist eine würdevolle Pose für einen Papst? Fast scheint es, als würde er vor sich hin pfeifen. Er sieht aus wie ein Gigolo nach einer Zecherei. Vielleicht entsprach dies Michelangelos Bild von der Kirche. Denken Sie nur an den Ablasshandel, mit dessen Geldern Julius II. die Bauarbeiten für Sankt Peter finanziert hat.«

»Ich wusste nicht, dass Julius II. etwas mit dem Bau der Peterskirche zu tun hat«, gibt Simone Pace zu.

»Verstehen Sie, warum Moses nicht zum Altar blickt und der Papst über ihm leicht angetrunken aussieht? Michelangelo hatte Mut, denn die Kirche duldete damals keine Kritik. Diese Statue zeigt einen rebellischen Geist. Michelangelos Darstellung ist satirisch. Jedenfalls möchte ich es so sehen. Aber kommen wir zur Sache. Warum hatten Sie um dieses Treffen gebeten?«

»Ich möchte mit Ihnen über die Zehn Gebote sprechen«, verrät Simone Pace.

Ich verschränke die Arme und sehe ihn schief an, ein Blick, der meine Enttäuschung ausdrücken soll. »Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Ich beschäftige mich nicht mit Religion.«

»Bis auf das vierte habe ich alle Gebote übertreten«, fährt Simone Pace fort. Ich seufze. Dann habe ich es also mit einem Mythomanen zu tun, der mir nur meine Zeit stiehlt.

»Nun gut, Sie wollen mir sagen, dass Sie Vater und Mutter geehrt haben, aber am Sonntag nicht zur Messe gegangen sind. Dann brauchen Sie wahrscheinlich einen Priester, keinen Journalisten. Den Feiertag nicht zu heiligen oder unkeusche Handlungen zu begehen ist heute nicht mehr von öffentlichem Interesse. Zum Glück sind wir frei.«

Der ironische Unterton meiner Stimme ist Simone Pace gewiss nicht entgangen. Vielleicht hat er mit dieser Reaktion gerechnet. Die Mauer muss übersprungen, die Grenze niedergerissen, die Waffe geladen werden, wenn er, wie ich am Ende verstehen werde, Simone Pace tatsächlich eliminieren will. Jetzt oder nie. Aber es fällt ihm leichter als gedacht. Meine Ironie stört ihn überhaupt nicht. Die Worte kommen wie von selbst aus seinem Mund: »Ich meine das achte Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Ich meine das siebte: Du sollst nicht stehlen. Vor allem aber meine ich das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten«, flüstert er.

Ich drehe mich kurz um und vergewissere mich, dass die Gesetzestafeln noch da sind, zwischen Moses’ rechtem Arm und seiner rechten Hüfte. Dass er sie nicht hat fallen lassen. Der Blick des Propheten scheint sich auf uns zu senken. Eine Gruppe amerikanischer Touristen nähert sich.

»Setzen wir uns in eine der Bänke«, schlägt Simone Pace vor. »Da wird uns niemand hören. Dann erkläre ich Ihnen, warum ich mit Ihnen sprechen wollte.«

DIE PHANTOME WASHINGTONS

Wir setzen uns in eine leere Bank mitten im Hauptschiff. Von den drei großen Seitenfenstern über der linken Säulenreihe flutet das Novemberlicht herein. Das Strahlenbündel fällt im 45-Grad-Winkel vom Himmel direkt auf die Marmorskulpturen der Basilika. Nur von dieser Seite aus. An der rechten Wand gibt es kein einziges Fenster.

»Signor Pace, bevor Sie anfangen zu sprechen, muss ich Ihnen zwei Fragen stellen. Die erste: Warum haben Sie sich ausgerechnet an mich gewandt?«

»Das kann ich Ihnen sofort erklären«, sagt er, ohne zu zögern. »Sie begegnen mir zum ersten Mal, aber ich kenne Sie gut. Ich habe viele Ihrer Enthüllungen als verdeckt ermittelnder Journalist verfolgt. Besonders, als Sie sich als Migrant ausgegeben, die Sahara durchquert und sich in Lampedusa aus dem Meer haben fischen lassen. Ich kenne auch Ihre Bücher. Es waren fast militärische Operationen, die Sie da unternommen haben. Sie sind große Risiken eingegangen, und ich glaube nicht, dass Ihr Arbeitsvertrag das von Ihnen verlangt. Ich erkenne daraus Ihre Entschlossenheit, die Realität von innen zu erleben, Ihre Leidenschaft, und das Adrenalin spielt sicher auch …«

»Ich habe es nie wegen des Adrenalin-Kicks gemacht«, unterbreche ich ihn. »Adrenalin versuche ich zu meiden. Es lässt einen den Bezug zur Realität verlieren und ist gesundheitsschädlich. Wie Nikotin. In manchen Situationen führt Adrenalin zum Tod.«

»Ich bin jedenfalls überzeugt, dass ich Ihnen vertrauen kann, und ich denke, wir haben dieselbe Arbeitsmethode«, erläutert er.

»Dann sind Sie also Journalist?«

»Nein, haben Sie nur Geduld, ich werde Ihnen alles erzählen.« Simone Pace spricht immer noch gedämpft, und er blickt dabei geradeaus zum Altar. Inmitten all der Touristen sehen wir aus wie zwei Gläubige im Gebet. »Und Ihre zweite Frage?«, fragt er jetzt.

»Als Sie vorhin vom fünften Gebot sprachen, meinten Sie damit, dass Sie auch getötet haben?«

Simone Pace schüttelt den Kopf. »Nein, die Antwort ist Nein. Aber ich habe es aus nächster Nähe miterlebt. Ich war beteiligt und bin Zeuge von Operationen geworden, die mit einem Mord endeten. Operationen, gegen die ich nichts tun konnte. Besonders von einer haben Sie bestimmt gehört.«

Ich sehe ihn weiter schweigend an.

»Erinnern Sie sich an den Konstrukteur von Saddam Husseins Superkanone?«

»Gerald Bull? Ja, sicher. Er wurde in Brüssel ermordet. Man sprach von einer verdeckten Operation des Mossad.«

»Die Amerikaner waren auch dabei«, verrät Simone Pace und deutet ein Lächeln an. Er blickt weiter zum Altar. Der Einzige, der uns anzuschauen und uns zuzuhören scheint, ist der große Moses. Der bärtige Prophet beobachtet uns von der Seite, verborgen zwischen der neunten und der zehnten Säule, der vorletzten und letzten rechts vor der Statue.

»Und Sie, waren Sie aufseiten der Amerikaner oder der Israelis?« Ich werfe die Frage in den Ring und bin mir meines Wagnisses bewusst. Aber ich habe Gespräche um den heißen Brei herum stets gehasst. Und ich weiß immer noch nicht, wer dieser jugendlich wirkende Mittfünfziger wirklich ist, der eine geradezu manische Diskretion an den Tag gelegt hat, um sich mit mir zu treffen.

Simone Pace wendet sich ruckartig nach links, mir zu. Er sieht mich ein paar Sekunden an. »Aufseiten der Amerikaner«, sagt er dann und sucht meine Augen.

»CIA?«

»Ja«, sagt er und unterstreicht sein Geständnis mit einem Kopfnicken.

»Dann sind Sie also CIA-Agent?«

»Mehr als das. Operativer Agent.«

»Was macht das für einen Unterschied?«

»Einen großen. Der operative Agent agiert an vorderster Front. Er führt die Operationen vor Ort durch. Und von diesen Operationen möchte ich Ihnen erzählen.«

»Aber Sie sprechen perfekt Italienisch«, sage ich. »Sind Sie italienischer oder amerikanischer Staatsbürger?«

»Man muss nicht unbedingt Amerikaner sein, um mit der CIA zusammenzuarbeiten. Aber ich könnte es genauso gut sein.«

Ich sehe ihn schweigend an. Ich versuche herauszufinden, ob ich es mit einem der vielen Mythomanen zu tun habe, die sich einbilden, sie seien die Reinkarnation Jesu, Napoleons Erben oder Doppelgänger des Lawrence von Arabien. Simone Paces hellgrüne Augen sind reglos hinter seinen Brillengläsern, durch die sie nicht vergrößert werden. »Und warum sollte sich ein CIA-Agent an einen italienischen Reporter wenden statt an einen Starjournalisten der New York Times?«, frage ich unvermittelt.

Simone Paces Hände liegen ruhig auf seinen Oberschenkeln. Er wendet, nur ganz kurz, den Blick zu dem bärtigen Moses und dann wieder zu mir. »Ich kenne keinen Starjournalisten der New York Times«, erwidert er. »Und ich habe Ihnen schon gesagt, warum ich mich an Sie gewandt habe.«

»Dann frage ich Sie, warum Sie sich entschlossen haben, ausgerechnet jetzt zu reden?«

Wahrscheinlich hat Simone Pace mit all diesem Misstrauen gerechnet. Er antwortet aufrichtig, jedenfalls kommt es mir so vor. »Ich habe mich entschieden, meine Wahrheit zu erzählen, weil ich Italien für immer verlasse. Ich würde es bedauern, all das, was ich und Sie erlebt haben, mit fortzunehmen, ohne dass es jemand erfährt.«

 

»Ich und Sie?«

»Was ich getan habe, habt ihr erlitten. Ihr Bürger, meine ich. Wir haben dieselbe Geschichte erlebt«, fügt Simone Pace hinzu, »wenn auch aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Außerdem bin ich bereits über fünfzig, und in diesem Alter muss man mit seiner Vergangenheit abschließen und an seine Zukunft denken.«

»Und Sie haben keine Angst, dass ich Sie verraten könnte? Ich könnte Ihren Namen veröffentlichen und Ihnen eine Menge Ärger machen.«

Zum ersten Mal zeigt er ein kaltes Lächeln. Er seufzt. »Wenn das Ihre Absicht ist«, sagt er, »dann verabschieden wir uns jetzt sofort, und Sie werden keine Möglichkeit haben, mich jemals wiederzufinden. Die Nummer, die ich in den Telefonaten mit Ihnen benutzt habe, läuft auf den Namen eines Chinesen, den es gar nicht gibt. Und falls Sie mich jemals aufspüren sollten, werde ich sagen, wir haben uns missverstanden oder alles war erfunden. Sie haben mich sicher nicht auf Tonband aufgenommen. Ich bin überzeugt, dass Sie nicht der Typ sind, der mit einem Aufnahmegerät in der Tasche zu einer Verabredung kommt.«

»Wenn ich Sie verraten wollte, würde ich es ganz am Ende tun, wenn Sie mit Ihrer Geschichte fertig sind. Nicht am Anfang.« Ich provoziere ihn. Ich möchte ihn auf die Probe stellen, sehen, wozu er fähig ist.

Simone Pace scheint genau zu wissen, was er antworten muss. Sein Ton, immer noch mit gedämpfter Stimme, klingt noch entschiedener als zuvor: »Das wird nicht passieren. Ich habe Ihnen nicht meinen richtigen Namen genannt, wenn ich überhaupt einen habe. Sie wissen nicht, wo ich wohne. Sie wissen gar nichts von mir. Ich bin für Sie nur ein Phantom. Und Phantome existieren nun mal nicht.« Er richtet den Blick wieder geradeaus auf den Altar, wo in einer beleuchteten Vitrine die Ketten liegen, mit denen der heilige Petrus gefesselt war. Er ist gewieft. Wenn er tatsächlich ein operativer CIA-Agent sein sollte, ist Simulation und Verstellung sein Beruf.

»Wenn Sie nicht überzeugt sind, lassen wir es bleiben«, beginnt Simone Pace erneut und blickt weiter geradeaus. »Hören Sie«, und jetzt sieht er mir entschlossen in die Augen. »Wenn Sie mir zugehört haben, werden Sie mich, glaube ich, nicht verraten. Sie sind an das Berufsgeheimnis gebunden. Sollte mich eines Tages tatsächlich jemand aufspüren, werde ich sagen, dass ich alles erfunden habe. Aber wenn Sie mir glauben, werden Sie erzählen können, was in den vergangenen Jahren in Europa tatsächlich passiert ist. In Italien, in Frankreich, in Belgien.«

»Werden Sie mir auch Beweise für das liefern, was Sie mir erzählen?«

Simone Pace lächelt erneut und schüttelt den Kopf. »Beweise sind etwas, das man konstruiert. Nein, für reale Vorkommnisse gibt es keine Beweise. Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Bei den Operationen, an denen die Vereinigten Staaten beteiligt sind, agiert die CIA so, dass es keine Beweise gibt. Und wenn es welche gibt, werden sie getilgt.«

»Aus den CIA-Archiven?«

»Nein, überall. Auch in den italienischen Institutionen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Leute eingeschleust wurden. Sie sind überall. Du klopfst an eine Bürotür und findest sie selbst da, wo du es nicht erwartest. Die CIA ist ihr Nebenberuf. Vielleicht aber auch ihr Hauptberuf. Nach einiger Zeit weißt du nicht mehr, wer dein wahrer Arbeitgeber ist, und du weißt auch nicht mehr, welches deine Fahne, deine Regierung, dein Staat, dein Volk ist.«

»Ihr treibt also ein doppeltes Spiel?«

»Wir sehen uns eher als Phantome.«

»Und in welchem Büro arbeitet Simone Pace noch, außer für die CIA?«, frage ich mit leiser Stimme.

Er wirkt überrascht. Er musste mit dieser Frage rechnen, hat sie aber offenkundig nicht so früh erwartet. »Ich arbeite für den öffentlichen Dienst«, sagt er. Er merkt, dass seine Antwort nicht präzise genug ist. »Beachten Sie, dass ich für und nicht im gesagt habe.« Er wird von lauten Stimmen in seinem Rücken unterbrochen.

Eine Schulklasse kommt herein, etwa sechzig Gymnasiasten. Sie sind so unkonzentriert und lärmend, dass ihre beiden schon etwas älteren Lehrerinnen schreien müssen, um sie zur Ordnung zu rufen. Es sind keine Italiener, aber mir ist unklar, woher sie kommen. Drei Mädchen setzen sich in unsere Bank. Eine der Lehrerinnen ruft sie zurück, und dann bleibt die ganze Gruppe vor dem Moses stehen. Es wird wieder still.

»Von welchen Operationen wollen Sie mir erzählen?«, frage ich, als sich die drei Mädchen weit genug entfernt haben.

»Operationen in Italien, Frankreich, Belgien, der Schweiz, Österreich, Russland, Israel. Geldübergabe an politische Parteien. Diebstahl geheimer Dokumente. Anschläge der Mafia. Einschleusung von Informanten in feindliche Territorien. Rekrutierung weiterer operativer Agenten. Beschaffung der Kommunikationscodes von Moskau. Jagd auf Terroristen in Paris. Entführungen. Mindestens drei Morde. Aber Sie müssen Geduld haben. Ich liefere Ihnen kein Material für einen Artikel, sondern eine lange Geschichte in Fortsetzungen. Ich werde Ihnen nicht alles auf einmal erzählen. Es braucht Zeit. Sie müssen Schritt für Schritt herangeführt werden, sonst glauben Sie mir nicht. Ohne die Kenntnis der Vergangenheit können Sie die Gegenwart nicht verstehen.«

Ich fixiere ihn eine halbe Minute. Das reglose Licht der Basilika scheint sich in den Schatten der Säulenreihen aufzulösen wie Dunst. Meine nächste Frage ist nur ein leises Murmeln. »Kommen auch die Verbrecher vor, die die jüngsten Anschläge in Paris verübt haben?«

»Ihre großen Brüder kommen vor, ihre Lehrer, die vorige Generation. Bei ihnen muss man anfangen, um zu verstehen, wer die Terroristen von heute sind.«

»Und was riskieren wir, wenn die CIA erfährt, dass einer ihrer Leute redet?«

Simone Pace fällt sofort auf, dass ich im Plural gesprochen, dass ich »wir« gesagt habe: für ihn womöglich ein Zeichen, dass ich mich entschieden habe.

»Sie würde versuchen, uns zu stoppen«, ist seine trockene Antwort.

»Aber wenn Sie in die Vereinigten Staaten zurückkehren, landen Sie im Gefängnis. Es gibt schwere Strafen für CIA-Agenten, die Geheimnisse …«

»Lassen Sie es mich erklären«, fällt mir Simone Pace ins Wort. »Ich war Teil eines geheimen Netzwerks, das die CIA für ihre schmutzigen Operationen in Europa benutzt hat. Wir arbeiten mit der Behörde zusammen, aber wir gehören nicht ganz zu ihr. Unsere Identität kennt nur unser Controller, so wird er genannt. Er gehört natürlich schon zur CIA. Die Gesetze der Vereinigten Staaten gelten für ihn, nicht für uns. Uns gibt es gar nicht. Deshalb habe ich Ihnen vorhin gesagt, dass es zwischen uns operativen Agenten und den CIA-Agenten einen gewaltigen Unterschied gibt. Auch der Geheimdienst hat eine Ethik. Bei bestimmten Dingen macht sich die CIA nicht die Hände schmutzig, das würde die Regierung in Washington kompromittieren. Also greift sie auf Leute wie mich zurück. Auf Phantome. Ich habe aufgehört. Aber viele andere, die mit mir zusammen angeworben wurden oder die ich rekrutiert habe, sind weiter im operativen Einsatz.«

»Dann existiert dieses geheime Netzwerk für schmutzige Operationen also immer noch?«

Simone Pace lächelt und nickt. »Es wird immer existieren, und wie! In Italien und in ganz Europa. Die Welt ist wie ein großes Gemälde, auf dem sich die ahnungslosen Bürger, die Regierungen und Staaten bewegen. Es sind Leute wie ich, die neue Figuren darauf malen und die Farben hinzufügen. Farben, die manchmal rot sind wie Blut. Und von diesem Gemälde möchte ich Ihnen erzählen.«