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Wer die Veränderungen der Geschichte während seines Lebens langsam zu spüren bekommt, der mag sich dagegen sträuben, letztlich verliert er aber doch und beugt sich. Wenn er denn überhaupt registriert, wie schnell die Welt ihr Selbstverständnis wechselt. Es ist wie bei Eltern, die meist die Entwicklungen ihrer Kinder durch den engen Kontakt gar nicht bewusst wahrnehmen und erstaunt sind, dass eine selten zu Besuch kommende Tante fröhlich bemerkt, dass ‚der Junge so groß geworden ist‘.

So ging es mir mit der Zeit: Sie kam mir nach jedem „Zurück“ verändert vor und ich musste täglich die Entwicklungen eines ganzen Jahres verkraften. Krisen, Ängste, wissenschaftliche Errungenschaften, Preise, Verkehrsmittel oder auch nur ein Medienereignis haben weitaus größeren Einfluss auf die Gesellschaft, als wir denken.

Ich torkelte durch die Jahrzehnte und bemühte mich angstvoll, nicht in ein historisches Fettnäpfchen zu treten. Natürlich begegnete ich auch Prägungen, die wenig später wieder verschwunden waren. Andere dagegen standen in einem kontinuierlichen Wandel. Die Religiosität etwa nahm stetig zu. Ich stellte überrascht, aber nur wenig verwundert fest, wie selbstverständlich es für die Menschen der vergangenen Jahrhunderte war, in ihren Tagesablauf, in ihr Denken und ihre Sprache die Allgegenwart Gottes einzubauen. Und wie sehr diese Einbeziehung überirdischer Sphären ihnen gut tat und ihr Leben aufwertete.

Zu dieser Zeit begann ich auch zu überlegen, ob meine Reise einen spirituellen Hintergrund haben könnte, verwarf den Gedanken aber bald wieder. Ich will nicht an einen personifizierten Gott glauben, der Menschen in eine solch verfluchte Existenz stürzt wie die, die ich ertragen muss. Heute aber denke ich kaum mehr darüber nach, warum mein Leben so verläuft. Ich habe genug damit zu tun, den Anschluss an die Zeit nicht zu verlieren. Das also ist heute mein Leben: arbeiten, reden und mich anpassen.“

Van Dyck bekreuzigte sich. Ich glaube, er wollte den Gestus vor mir verbergen, aber seine Bewegungen waren eindeutig. Mit fast gehauchter Stimme fragte er: „Und was willst du jetzt in London?“

Ich setzte mich auf den kalten Steinfußboden, umschlang meine Beine mit den Armen und schaute zu dem Künstler auf. „Ich bin nicht hier, weil ich etwas will, sondern weil ich etwas nicht will. Jetzt, wo ich das sage, spüre ich selbst, wie feige das klingt. Ist das nicht Schrecken erregend? Aber ich sagte ja, dass ich ein Meister im Verdrängen bin! Wer nicht weiß, was er will, fängt irgendwann an, gegen alles zu sein.

Ich weiß überhaupt nur noch, was ich nicht will. Wenn ich erklären sollte, was ich will, dann bliebe mein Mund geschlossen. Das bedrückt mich. Denn können wir überhaupt vorankommen, solange wir nur negative und keine positiven Ziele haben? Ich bin hier, weil ich den Glaubenskrieg nicht mag, weil er unberechenbar ist und die Menschen verschlingt wie ein Ameisenbär die Ameisen. Und doch sehne ich mich danach, endlich wieder zu wissen, was ich will, endlich wieder für etwas zu sein!“

Van Dyck nahm eine Stoffbahn und legte sie über die Staffelei. Das Kunstwerk verschwand wie unter einer Schneedecke.

Der Künstler blickte mich an. „Beschreibe mir das Bild!“

Die Kerzen warfen flackernde Schatten auf die weiße Fläche und verwandelten sie in ein wogendes Meer.

„Das habe ich doch schon getan, Sir!“

Der Maler trat einen Schritt auf mich zu. „Das eine Mal reicht nicht. Wenn etwas große Kunst ist, dann kannst du es beliebig oft betrachten, es wird dir immer etwas Neues erzählen. Manchmal erkennt man erst nach langer Zeit, worin sein Geheimnis besteht, und doch hättest du dieses gewisse Etwas nicht entdeckt, wenn du nicht schon vorher lange mit fragenden Augen darauf geschaut hättest. Jeder Blick sorgt dafür, dass etwas von der Kunst in dir bleibt. Und du musst reif werden zu sehen. Ob etwas ein Kunstwerk darstellt oder nicht, bestimmst du. Nur wenn du in der Lage bist, es zu sehen und zu verstehen, kann es seine Schönheit preisgeben. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll.

Pass auf: Es ist wie mit Noten. Ein Mensch, der kein Instrument spielt, sieht nur einen Haufen seltsamer Kleckse auf einem Blatt Papier. Ein guter Musiker aber sieht nicht nur die Noten, für ihn sind die kleinen Flecken auf den Linien Botschafter einer herrlichen Welt, er hört jeden Ton, der dort notiert ist. In ihm werden die dunklen Punkte zu hellen Klängen, die die Welt zum Schwingen bringen. Und je geübter er ist, desto klarer erlebt er das Orchester mit all seinen Nuancen.

Das Gleiche gilt für dieses Bild: Im Augenblick hast du davon nur eine Vorstellung. Und weil du kein Maler bist, müsstest du es viele hundert Male betrachten, ehe du es wirklich sehen, geschweige denn nachmalen könntest. Gut, du weißt, dass darauf drei Männer und ein Pferd zu sehen sind, aber ich wette, du könntest nicht einmal sagen, ob König Charles an seinem Schultergurt ein Taschentuch oder einen Handschuh trägt. Nimm dir Zeit und lerne zu sehen.“

„Warum?“

Er hob den Kopf, sichtlich getroffen. „Jetzt enttäuschst du mich. Warum! Weil … weil du ein Kunstwerk bist.“

Ich verstand ihn nicht. „Ach!“

Einen Moment wirkte der Maler so, als wolle er mich nun verabschieden, dann aber sagte er: „Weißt du, warum die Menschen so gerne von mir porträtiert werden? Weil ich in den Gesichtern das sehe, was sie zu etwas Besonderem macht. Jeder Künstler tut das, aber mir ist dieser Aspekt wichtiger als alle anderen. Einige meiner Kritiker behaupten, ich könne keine Menschen erfinden, ich bräuchte immer Vorbilder. Ich glaube, sie haben Recht. Und ich schäme mich dessen nicht. Ich will nicht Gott sein und Neues schaffen. Nur haben das diese anmaßenden Pinselhandwerker noch nicht begriffen. Ich male das typisch Menschliche in den Menschen, die ich sehe. Und dadurch werden sie unsterblich. Denn das macht keiner so gut wie ich. Der Musiker sieht nicht nur die Note, er hört den Ton. Der Maler sieht nicht nur das Gesicht, er erkennt die Leidenschaften und Nöte des Dargestellten, er kennt dessen Geschichte.“

Er drehte sich spielerisch um die eigene Achse und ließ dabei ein Glucksen ertönen: „Hör zu. Wenn einer eine solche Geschichte hat wie du, dann ist er ein Kunstwerk. Also muss er ein großer Künstler werden, um sich zu verstehen. Du kannst im Augenblick an deinem Dasein doch gar nichts ändern. Also hast du die Wahl: Du kannst verzweifeln oder etwas aus deiner Lage machen. Du bist so, wie du bist. Dass du dich dagegen auflehnst, ist zwecklos. Ergo: Finde lieber heraus, was mit dir passiert. Und jetzt kommt der kleine geniale Hinweis: Wenn es doch eine Möglichkeit geben sollte, etwas an dir und deinem Leben zu verändern, dann entdeckst du sie nur, wenn du dich erst einmal akzeptierst.“

Ich spürte, dass ich wütend wurde. „Das versuche ich seit einem Jahr!“

Van Dyck lachte wieder sein dunkles, geheimnisvolles Lachen, dass ich zum ersten Mal auf der „Marian“ gehört hatte. Dann sagte er bedächtig: „Nein, das versuchst du nicht. Du versteckst dich vor dir. Nachdem du so viel geredet hast, wird es Zeit, dass ich dir eine Geschichte erzähle: Mein Lehrer Peter Paul Rubens, der, das habe ich heute Morgen erst gehört, in Zukunft wie ein Fürst auf seinem Landschlösschen Steen leben will, wusste genau, dass ich als sein Assistent niemals meinen eigenen Stil entwickeln würde. Aber ich war damals gerade 21 und so stolz, bei diesem verehrten Mann arbeiten zu dürfen, dass ich gar nicht auf die Idee kam, mich selbständig zu machen. Weil ich gut war, fürchtete ich mich, sehr gut zu werden. Mein eigener Erfolg stand mir im Weg. Ich hatte so viel erreicht, dass ich mich fast zu früh zufrieden gegeben und dabei meine eigentliche Berufung beinahe verpasst hätte. Darin bin ich übrigens kein Einzelfall. Ich kenne viele Menschen, die sich auf halbem Weg niederlassen und sich dort so bequem einrichten, dass sie den Gipfel aus dem Blick verlieren. Und wer wäre von dem, was ich erreicht hatte, nicht begeistert gewesen? Ich betreute die Werkstatt von Rubens im Palais in Antwerpen, ich vertrat den Meister, wenn er unterwegs war, und konnte sogar seine Signatur auf den Bildern perfekt imitieren. Ich dachte, ich hätte alles, was ich brauche. Dabei hatte ich nichts. Ob jemand ein großer Künstler wird, hängt nicht nur von seinem Talent ab, es hängt auch davon ab, ob er an sich glaubt. Ich war im Grunde ein besserer Leibeigener, einer, der sicher sehr kunstvoll, aber eben doch nur als Nachahmer lebte. Leider war ich zu schwach, um zu beurteilen, wozu ich fähig bin.

Und … ich brauchte Rubens. Zumindest dachte ich das damals. Weißt du, meine Mutter starb, als ich sieben war, und von da an waren die Künstler meine Familie. Mein Großvater zog als Kaufmann durch die Lande, und mein Vater lobte mich zwar, aber er liebte mich nicht. Ich lebte durch die Künstler, mit denen ich zusammen war. Ich umklammerte den Spatz in der Hand – diesen wunderschönen seidigen Vogel -, obwohl die Taube auf dem Dach auf mich wartete. Mehrfach versuchte Rubens, mich auf einen eigenen Weg zu bringen, doch ich lachte nur.

Da fing er plötzlich an, mich zu schikanieren. Weil ich nicht im Guten hören wollte, wählte er den brutalen Weg. Er mäkelte an meinen Motiven herum, kritisierte meinen Stil und zerschnitt sogar einmal eines meiner Bilder, weil er es für schlecht hielt. Er machte mir das Leben zur Hölle, um mich zum Himmel zu bringen. Wir schieden im Zorn, und sein letzter Satz war: ‚Du wirst mir noch einmal dankbar sein.‘ Heute bin ich es. Aber es dauerte lange, bis ich es sein konnte. Erst als ich mich nicht mehr nach Antwerpen sehnte, war ich frei, meine eigene Kunst zu finden und meinen eigenen Stil zu entwickeln.

Verstehst du: Solange du dich nicht von deiner alten Heimat löst, solange du trauerst, dass du die Welt des 20. Jahrhunderts verloren hast, solange wirst du in ihr hängen bleiben. Schneide den Faden ab und finde dich.“

 

Ich sprang auf. „Und wie soll ich das bitte machen?“

Van Dyck streckte mir wortlos die Hand hin, und als ich sie ergriff, zog er mich mit sich. Er führte mich zu einem Holzgestell, auf dem verschiedene Leinwände lagen. Er wühlte darin, zog einige Holzkisten hervor und brummte dabei vor sich hin. Endlich hatte er, was er suchte.

Er drückte mir einige Bögen Zeichenpapier, eine feine Feder und ein Tintenfass in die Hand: „Schreibe auf, was du erlebst. Und schärfe mit der Feder auch deinen Blick. Hier! Das dürfte für einige Zeit reichen. Wenn ich dir etwas raten darf: Zwei Türen neben meinem Atelier liegt ein kleiner Vorratsraum, in dem Kulissen und Dekorationen unserer höfischen Bühne lagern. Dort kommt nie jemand herein und du kannst in Ruhe über viele Jahre schreiben.“

Er lachte, immer lauter. Dann hob er die Hand zum Gruß und schlurfte zur Tür. Meine Stimme hielt ihn noch einmal zurück: „Sir! Vielen Dank. Ich würde … Euch gerne noch eine kleine Notiz mitgeben. Bitte lest sie erst in einigen Wochen. Und wenn Ihr mir glaubt, dann wisst Ihr, was Ihr zu tun habt.“

Ich riss einen schmalen Streifen Papier ab, schrieb die Zeilen, die mir vor fünf Tagen auf der Fleute das Leben gerettet hatten, und überreichte sie ihm.

Van Dyck grinste schelmisch: „Ganz gleich, wer du bist, ich bedanke mich meinerseits für den unvergleichlichen Abend. Jetzt muss ich aber gehen. Ich möchte mir meine Illusion gerne bewahren. Wer weiß, vielleicht erwische ich ja noch einen Reisevogel, der mich in einer Stunde nach Antwerpen bringt.“

Kichernd zog er die Tür hinter sich zu.


1270 Von den rötlichen Schindeln des Daches tropft Regen auf das Fensterbrett, bahnt sich an einer undichten Stelle unter dem Fenster seinen Weg ins Zimmer und mäandert an der Wand entlang, bis er zwischen den unsteten Fugen im Boden verschwindet. Ich zittere. Arnold, der Vater von Adelheid, hat einen Stock tiefer einen metallenen Topf aufgestellt, sodass ich regelmäßig das dumpfe Aufschlagen der Tropfen höre. Das geht seit drei Tagen so und unterlegt meine kratzende Feder mit einem monotonen Rhythmus. Offensichtlich regnet es hier Anfang Januar immer. Ich erkenne inzwischen am Klang des stetigen Geräusches, wann der Topf gefüllt ist, und warte dann schon darauf, dass Meister Arnold missmutig aus seiner Werkstatt in die Küche springt, um das Wasser auf die Straße zu schütten. Da, jetzt kommt er wieder, mit festen Schritten, wobei er das eine Bein etwas nachzieht. Topf hoch, Tür auf, platsch, Tür zu, Topf auf den Boden. Ich sollte meine Uhr danach stellen, das einzige fassbare Stück, das ich noch aus meinem alten Leben besitze. Aber natürlich stelle ich sie jeweils um Mitternacht, wenn ich wieder ein Jahr zurückspringe.

Das „Zurück“ tut noch immer weh. Vielleicht, weil ich mich nicht daran gewöhnt habe. Nein, so kann man es nicht sagen, ich habe mich daran gewöhnt, aber noch lange nicht damit abgefunden. Manchmal nimmt die Wut von mir Besitz, dann fluche ich und schreie, aber da ich nie weiß, wen ich verantwortlich machen kann, verhallt mein Hass ohne jede Wirkung. Und das schmerzt noch mehr.

Dennoch schreibe ich heute anders als im Jahr 1635. Vor allem auf Grund meiner Erfahrungen im Atelier Van Dycks – und wegen der wohltuenden Stunden zwischen den bemalten Theaterwänden meines Londoner Refugiums, die ich bisweilen um mich herum aufstellte, sodass ich mal in einem französischen Schloss, mal in einem venezianischen Palast und mal in einer Künstlerklause saß.

Ich verdanke Van Dyck sehr viel. Seit er mit mir gesprochen hat, bin ich mir nicht mehr fremd. Ich habe erst sehr viel später erkannt, wie sehr ich mich damals selbst für das verachtet habe, was mit mir passiert, für meine Hilflosigkeit und mein verfluchtes Dasein. Dafür, dass ich so leben muss, wie ich lebe, obwohl ich gar nichts dafür kann. Oder kann ich doch etwas dafür? Sicher ist nur: Ich habe mir dieses Leben nicht ausgesucht. Aber wer hat das schon?

Das Haus um mich herum ächzt und hustet unter den kalten Winden. Die langen Bretter reiben sich wolllüstig gegeneinander und stöhnen vielsagend. Jedes Mal, wenn der Dachstuhl aufschreit, läuft mir ein Schauder über den Rücken wie eine warme Dusche. Und immer noch dreht sich in meinem Leben alles um mich. Vielleicht sollte ich mich nicht zu wichtig nehmen. Viele Menschen haben kein Zuhause.

Mein Problem in London war aber unheilvoller: Ich hatte nicht einmal eines in mir. Das ist das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann: sich selbst zum Feind zu haben. Seit meiner Zeit am Hof von König Charles, am Hof des „Sehers“ Van Dyck, bin ich mein Freund geworden. Weil ich selbst einen Freund gefunden hatte. Drei Wochen lang konnte ich in der zugestellten Kammer mit den Theaterkulissen – die, wie ich mitbekam, auch von dem Architekten Inigo Jones gestaltet und betreut wurden – leben und schreiben. Und zum ersten Mal spürte ich nicht mehr diesen dauerhaften Groll, der sich wie eine schwere Decke über die Seele legt und einem gramerfüllte Worte ins Ohr flüstert.

Es war eine stille, befreiende Zeit. In der nahe gelegenen Palastküche, die tagsüber verlockende Düfte durch die Gänge schickte, fand ich ausreichend zu essen, und niemals kam einer, vor dem ich meine Anwesenheit hätte rechtfertigen müssen. Im Jahr 1600 verließ ich London; nicht, weil ich mich unwohl gefühlt hätte, sondern weil die Antwort auf meine Fragen dort offensichtlich nicht zu finden war.

Jetzt habe ich nach den vielen Jahren unsteter Reise wieder einmal Ruhe zum Schreiben und ordne meine Gedanken. Ich bin dazu nach Hause zurückgekehrt, dorthin, wo alles begann. Aus der kleinen Dachkammer, in der ich wohne und die außer einem faulig riechenden Strohsack, einer einfachen Holzkiste und einem Behelfsschreibtisch nichts enthält, sieht man das neu erbaute Frankfurter Gemeindehaus an der Westfront der Bartholomäuskirche; 1264 ist es eingeweiht worden. An der Stelle des Doms streckt der wesentlich kleinere frühgotische Vorgängerbau vier schmucklose Türme wie knöcherne Finger gen Himmel, als wolle er den Herrgott von dort herunterholen. Und während ich das schreibe, spüre ich, was ich längst geahnt habe: Das hier, diese verwinkelte Ansammlung windschiefer Häuser, ist nicht mein Frankfurt, noch nicht.

Ich hatte gehofft, in meiner Heimatstadt meinem Geheimnis etwas näher zu kommen. Aber die mittelalterliche Stadt ist mir fremd, so fremd, dass auch ich mir noch fremder werde. Die Zeit reißt tiefe Wunden. Natürlich wusste ich, dass mein Geburtsort in all den Jahren Veränderungen durchgemacht haben würde, aber ich hatte davon geträumt, in ein vertrautes Umfeld zu kommen, Heimat zu finden.

Wüsste ich nicht, dass ich in Frankfurt bin, dann könnte ich dieses Städtchen wohl kaum von Mainz, Worms oder irgendeiner anderen an einem Fluss gelegenen Ortschaft unterscheiden. Kaum etwas erinnert schon an meine Welt. Und was das Schlimmste ist: Niemand kennt hier eine Familie Temper. 700 Jahre sind vergangen, nein, sie werden noch vergehen, mehr als 20, vielleicht sogar 30 Generationen, bis mein Vater geboren wird. Was hätte ich also noch finden können?

Und doch: Es war besser, irgendwohin zu gehen, als gar kein Ziel zu haben. Wenn ich nur wüsste, wo ich anfangen soll zu suchen. Mit der Ungewissheit, die mich durchdringt, halte ich es nicht mehr sehr lange an einem Ort aus. Schon jetzt spüre ich wieder, dass mich diese Kammer einengt, mich bedrückt und mir das Einzige raubt, das ich habe: meine Freiheit herumzureisen. Die Fremdheit Frankfurts stößt mich ab, macht mich sogar wütend. Wahrscheinlich liegt es daran, dass diese Stadt der Rettungsanker war, an den ich mich geklammert habe, der letzte Orientierungspunkt, der Ort, von dem ich gesagt hätte: „Hier gehöre ich hin!“ Jetzt bricht die Wahrheit schmerzvoll über mich herein: Ich gehöre nirgendwohin.

Adelheid hat heute Morgen auf meine Frage nach Schreibpapier nur verständnislos mit den Schultern gezuckt. Erst dachte ich, es läge wieder einmal an meiner Aussprache, die mit den Lautverschiebungen nicht immer Schritt hält. Ich versuchte es mit anderen Betonungen: Babir, Babira, Vavier, Pibar, Papirr, Papyrum und Wapir. Sie schüttelte jedes Mal hilflos den Kopf.

Aber das bin ich inzwischen gewohnt. Die Verständigung nimmt seit langem sehr viel Zeit in Anspruch. Meist höre ich mich dank meines Sprachenstudiums zwar schnell in die sich verändernden Laute ein, aber ich muss jeden Tag mit Menschen reden, wenn ich den Anschluss nicht verlieren will. Im Fall meiner Schreibmaterialien erntete ich nur Unverständnis. Da erst wurde mir bewusst, dass es im Jahr 1270 in Europa noch gar kein Papier gab. Also bat ich meine kleine Gönnerin um Pergament. Jetzt lachte sie. Pergament ist nicht leicht zu bekommen, aber weil ihre Familie Verbindungen zu verschiedenen Innungen unterhält, kam sie einige Stunden später mit leuchtenden Augen zurück. Vor mir auf der kleinen Arbeitsfläche, einem Brett auf zwei Holzböcken, liegen mehrere Bögen des feinen Leders.

Das Jahr 1270: wieder 365 Tage und Jahre weiter. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es ist so viel passiert. Die mich umgebenden Holzlatten bedrängen mich, als forderten sie mich auf, endlich Antworten zu finden, und machen mir das Suchen nach einem Anfang für meine Geschichte nur schwerer. Manchmal sitze ich einfach da und beobachte die filigranen Wasserlinien an der Wand. Dann halte ich meinen Finger in die feine Strömung und zwinge den dünnen Fluss in eine neue Bahn.

Da, wo eben noch die Feuchtigkeit entlangzog, trocknet das Holz in der erhitzten Luft, während sich unter dem neuen Wasserlauf eine dunkle Spur bildet. Viele Menschen leben wie Wassertropfen, dachte ich eben. Sie benetzen das Erdreich, und wenn sie an die richtige Stelle fallen, dann bringen sie vielleicht sogar etwas zum Blühen. Aber am Ende verdunsten sie doch … Halt, ich muss mich konzentrieren. Pergament ist kostbar.

Ich will nicht glauben, dass ich schon seit zwei Jahren unterwegs bin. So wie ich auch nicht glauben kann, dass es jemals anders war. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er gewöhnt sich an alles. Auch an das Reisen durch die Zeit. Das, was gestern fremd und unheimlich erschien, was den Eindruck vermittelte, es sei auf ewig feindlich, verliert in der Gewohnheit sein schreckliches Gesicht und beginnt vorsichtig zu lächeln.

Ich erinnere mich daran, dass es mir schon früher auf Reisen so ergangen ist. Jede unbekannte Stadt hatte etwas faszinierend Bedrohliches gehabt, sodass aus den ersten Erkundungsgängen kleine Expeditionen geworden waren. Doch die Angst vor dem Unbekannten hatte sich jedes Mal verflüchtigt, sobald ich einen Weg ein zweites Mal gegangen war, ein Straßenschild wieder erkannt und mich „verortet“ hatte. So ist es jetzt auch mit der Zeit. Der Schrecken vor dem nächsten Morgen, der mich wieder in die Vergangenheit versetzen wird, ist verflogen. Ich reise eben durch die Zeit – man gewöhnt sich an alles.

Mein Kalender jedenfalls gehorcht weiterhin seinen eigenen Gesetzen. Er bringt mich brav ins Gestern und lässt sich dabei nicht aus der Ruhe bringen. Natürlich ist jeden Abend noch ein Funke Hoffnung da, es könnte in dieser Nacht anders sein. Irgendetwas spricht dann in mir: „Morgen wache ich auf und bin wieder Teil der chronologischen Zeit.“ Dabei weiß ich ganz genau, dass es immer so weitergehen wird.

Bisweilen, wenn mir eine Epoche besser gefällt als andere, überlege ich sogar, was ich anstellen würde, falls ich gerade in dieser Zeit hängen bleiben sollte. Dann sehe ich mich als Familienvater mit vielen kleinen Kindern in einem verwinkelten Fachwerkhaus sitzen, als Gelehrten an einer Universität oder, wenn es nicht anders geht, als Schafhirten oder Troubadouren. Aber um Mitternacht, wenn es mich erneut aus allen Lebensbezügen herausreißt, bleiben diese Wunschbilder hinter mir zurück. Die Ereignisse sind nicht aufzuhalten.

Ich habe ausgerechnet: Wenn mein Alterungsprozess normal voranschreiten sollte, dann könnte ich rund 15 000 Jahre in die Vergangenheit reisen. Bisweilen reizt mich das sogar: ein Mammut am Pelz zupfen, mit Fellen bekleidet auf Antilopenjagd gehen und mich mit Grunzlauten verständigen. Einige Zeit spielte ich mit dem Gedanke, ich könnte mich in 5000 Jahren in eine Gletscherspalte stürzen, als Ötzi in die Zukunft zurückkehren und führende Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts durch meine Taschenuhr verwirren.

 

Bei all diesen Spinnereien wird nur wieder deutlich, wie sehr ich dazu neige, mein Unglück zu beschönigen. Das habe ich schon in meinem normalen Leben getan. Ganz gleich, wie schlecht es mir geht, ich kann mir fast immer einreden, das alles sei gar nicht so übel. Ich bemühe mich, das Gute hervorzuheben und in Gedanken aus Dreck Gold zu machen. Doch das Gold stinkt.

Denn diese Taktik ist ja nichts anderes als der peinliche Versuch, mich vor nötigen Veränderungen zu drücken. Und mich mit den widerlichsten Gegebenheiten abzufinden. Das gilt im Besonderen für mein „Zurück“: Ich ertappe mich immer öfter, dass ich mein pervertiertes Leben einfach akzeptiere. Doch glücklicherweise brechen die Trauer und die Sehnsucht dann doch wieder hervor. Wie die Platanen vor meinem Fenster lasse ich mich vom Wind fast bis zum Boden biegen, um dann emporzuschnellen und den Druck abzuschütteln.

Ich war eine Zeit lang sehr neugierig, ob die Kalenderreform von 1582 – bei der ja wegen einer Anpassung des Kalenders an das eigentliche astronomische Jahr auf den 4. Oktober gleich der 15. folgte – mich aus der Bahn werfen würde. Aber diese menschlichen Schiebereien irritierten meine Zeitsprünge nicht. Der Februarmorgen des Jahres 1581 tat so unschuldig wie alle Tage. Und jetzt bin ich ohnehin in einer Zeit angekommen, in der niemand mehr so recht weiß, welches Datum wir gerade schreiben.

Eben ist Adelheid hereingeschlichen und hat mir etwas zu trinken gebracht, einen Tonkrug mit verdünntem Wein. Das sollte sie nicht tun – denn ich kann meine Augen nicht von ihr lassen. Sie ist berauschend. Das leinerne Surcot, ihr Obergewand, mit dem tief sitzenden Gürtel betont ihren spitzen und dennoch runden Busen. Ihre Brustwarzen lassen sich trotz der Dicke des Stoffes mehr als nur erahnen. Und auch ihre biegsame Taille zeichnet sich deutlich ab. Hat nicht Wolfram von Eschenbach einmal geschrieben: „Ihr wisst, wie Ameisen pflegen um die Mitte schmal zu sein, noch schlanker war das Mägdelein.“ Das kann man auch über Adelheid dichten.

In ihrem Ausschnitt, den sie selbst mit einer schmalen, schmucklosen Borte versehen hat, sieht man die Cotte, das Unterkleid, das oben mit dem Vürspan, einer Art Nadel, geschlossen ist. Ihr langes Haar fällt offen über ihre schmalen Schultern, wie es zu dieser Zeit nur Jungfrauen gestattet ist. Aber Adelheid weiß, wie man sich bücken muss, um Männer neugierig zu machen. Ich verstehe sehr gut, dass sie auf ihren so weiblichen Körper stolz ist. Nur ist sie eigentlich noch zu jung, um sich so verführerisch zu geben. Sie ist 13 Jahre alt.

Wahrscheinlich begehre ich auch gar nicht sie, sondern die 16-jährige erblühte Frau, die verführerische Adelheid – diejenige, die mir so übel mitgespielt hat. Sie ist ein Luder, sie hat mich ausgenutzt und ihre Gastfreundschaft hinterhältig missbraucht – zumindest wird sie das tun.

Jedes Mal, wenn ich sie sehe, beobachte ich sie genau, um herauszufinden, wann sie ihren hinterhältigen Plan geschmiedet hat. Ahnte sie mit zwölf Jahren schon, was sie mir 1273 antun würde, oder fasste sie den Plan erst mit 15? Eigentlich ist es völlig gleichgültig, aber ich wüsste gerne, bis zu welchem Jahr ihre Freundlichkeit ehrlich gemeint und ab wann sie nur noch Berechnung war.

Ich habe mir jedenfalls fest vorgenommen, nicht mit ihr über ihre Intrige zu sprechen, denn sonst wäre ja möglicherweise ich es, der sie auf diese Idee brächte. Was geht hinter dieser leicht nach vorne gewölbten Stirn, die mich immer an ein weites Feld erinnert, vor?

Nein, jemand, der so süß lächelt, kann noch keine bösen Absichten haben. Also lächle ich genau so fröhlich zurück. Und ärgere mich dabei, dass ich immer nur einen Tag habe, um sie zu verstehen, während sie ihr Vorhaben über Jahre planen konnte.

Gerade fällt mir ein, was Van Dyck damals sagte, vor über 300 Jahren: „Fang am Anfang an.“ Es fällt mir schwer, all die Tage und Erinnerungen zu ordnen, darum schreibe ich erst einmal auf, wie es war, als ich wieder nach Frankfurt kam.

1273 Zwischen den niedrig dahinziehenden Wolken spielten zwei Schwalben Fangen. Ich blieb stehen, um den beiden zuzusehen, wie sie durch die Lüfte stoben, als gäbe es außer ihnen niemanden auf der Welt. Wahrscheinlich war es auch so.

Der böige Wind, der die kleinen Vögel unbeschwert herumwarf und braune Blätter aufwirbelte, roch nach Regen, klammerte sich wütend an mich und ließ mich mehrfach zusammenzucken. In der langgestreckten Senke donnerte es und der hohle Klang zog ächzend vorüber. Vielleicht wird hier später einmal der „Dornbusch“ oder das „Westend“ sein, dachte ich, vielleicht werde ich hier wohnen und zur Schule gehen. Doch in den dichten Wäldern war von meinem Standort aus nur ein kleiner Kohlenmeiler zu sehen.

Ich kam von Norden, weil der Main sein Bett verlassen und alle Handelswege in Ufernähe unpassierbar gemacht hatte. Und ich war sogar froh, dass ich den Umweg auf mich nehmen musste, weil ich dadurch Zeit zum Nachdenken hatte. Wie würde das sein, wieder nach Frankfurt zu kommen? An den Ort, wo ich die Gerüche kannte, das Klima, die Erde und die Anordnung der Hügel. Ich fühlte mich wie der verlorene Sohn, der nach vielen Verirrungen heimkehrte.

Mein Hals war trocken vor Aufregung. Ich spürte meinen Herzschlag und konnte plötzlich nicht mehr weitergehen. Alles in mir atmete schwer. Mir wurde sofort bewusst, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt hatte, denn es gibt nicht viele Geschehnisse, auf die man sich freut und vor denen man sich zugleich fürchtet. Es war vor meinen Examensprüfungen, als ich nervös und erregt, aber auch voller Erwartung zur Hochschule gefahren war. Erst jetzt, da ich alles aufschreibe, wird mir klar, warum ich vor den Toren Frankfurts so durcheinander war. Es lag daran, dass ich mich zur Zeit an jede Hoffnung klammere. Ich will endlich verstehen, was mit mir passiert, und überschütte darum alles und jeden mit meinen Erwartungen. Und diesmal setzte ich alles auf dieses trostlose Städtchen.

Frankfurt. Ich habe auf meinen langen Wanderungen hierher die unterschiedlichsten Menschen gefragt, was sie über meine Heimatstadt wissen, und bekam dabei von Flüchen bis zu Preisungen alles zu hören. Kein Wunder: Das Frankfurt des 13. Jahrhunderts ist ein Nest mit 8000 Einwohnern. Und doch gebärdet sich die Kleinstadt schon jetzt als Europas Mitte, nicht ganz zu Unrecht, denn sie ist einer der ökonomisch bedeutendsten Orte des Kontinents.

Auch die Könige lieben diese zentrale Zuflucht, darum haben sie sie 1256 zur sedes regalis gemacht, zum Königssitz, den sie als unstete Wanderfürsten immer wieder gerne ansteuern. Seit einigen Jahren wird hier sogar ein Koch nur dafür bezahlt, dass er den hohen Herren bei ihren Stippvisiten exquisite Köstlichkeiten vorsetzt. Frankfurt aber genießt seinen Sonderstatus und kostet ihn weidlich aus. Stolz führt der eitle Marktflecken in seinem Stadtsiegel den Spruch „Specialis domus imperii“. Dabei hat man Friedrich II. die Bestätigung der Herbstmesse 1240 auf dessen Feldzug vor Ascoli abgetrotzt, als er wahrlich mit anderen Dingen beschäftigt war.

Jetzt dürfen die Städter während der Messezeiten beliebig Handel treiben und Gäste beherbergen, die unter Geleit- und Gerichtsschutz stehen. Wer einen Händler oder einen Messebesucher in der Stadt oder bei der An- und Abreise angreift, legt sich mit dem König persönlich an. Das gibt den reichlich vorhandenen Expansionsplänen der Bürger Rückendeckung und nun blüht die kleine Ansiedlung auf. Vor allem aber strömen seither auch die Orden in das Refugium. Alle wollen sie ihren Anteil am Kuchen haben: Franziskaner, Dominikaner, Antoniter, Johanniter und Deutschherren. Sogar die Karmeliter haben in der Mainzer Gasse ein Zuhause gefunden.

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