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Andererseits: 14 Jahre sind eine lange Zeit. Vielleicht hatten die gemeinsamen Glücksmomente den schlechten Start verdrängt, vielleicht werden manche Erlebnisse auch irgendwann aus dem Gedächtnis gelöscht.

Ich wusste es nicht. Ich spürte nur, dass mir die Situation aus der Hand zu gleiten drohte. Verena hatte ihre Handtasche gegriffen und zwängte sich bereits erregt am Nachbartisch vorbei. Trotzdem drehte sie sich noch einmal um, wohl in der Hoffnung, eine Erklärung zu bekommen. Sie war eben schon immer neugierig.

Da beschloss ich, alles auf eine Karte zu setzen: „Hast du den Brief noch, den ich dir vor einem Jahr geschickt habe und den du erst morgen öffnen sollst?“

Verena blieb mitten im Lauf stehen. Natürlich hatte ich die Bemerkung mit dem Brief improvisiert, aber ich hatte ja tatsächlich die Möglichkeit, ihr im Jahr 1985 etwas zu schicken. Langsam drehte sie ihren Oberkörper wieder in unsere Richtung. Ihr Gesicht war eine einzige Frage: „Wie sieht dieser Brief aus?“

Volltreffer. Jetzt hatte ich sie. Ich war bisher nicht auf die Idee gekommen, meine Zeitreise praktisch zu nutzen, jetzt ahnte ich etwas von den Möglichkeiten, die mir zur Verfügung standen.

Versöhnend sagte ich: „Es ist ein grüner Briefumschlag. Und in diesem grünen Briefumschlag steckt ein zweiter Briefumschlag, ein roter. Darauf steht: ‚Diesen Brief auf keinen Fall vor dem 15. Januar 1986 öffnen. Ein guter Freund.‘“

Verena zog ihre Handtasche vor den Bauch, öffnete sie und holte einen kleinen roten Briefumschlag hervor.

„Dieser hier?“

Ich nickte. Sie aber atmete laut: „Du hast diesen Brief geschrieben? Aber warum? Wir kennen uns gar nicht. Langsam verstehe ich überhaupt nichts mehr. Ich wollte diese mysteriöse Botschaft heute Nacht mit meinen Freundinnen zusammen öffnen, weil wir alle unbedingt wissen wollen, wer und was dahinter steckt. Wir dachten, es sei irgendein Spaßvogel. Oder ein heimlicher Verehrer.“

„Vielleicht trifft ja beides zu!“

Ich prägte mir Form und Farbe des Umschlags ein, denn ich würde morgen, also im Jahr 1985, genau so einen finden und abschicken müssen. Verena sah jetzt entspannter aus. „Warum erzählst du mir nicht einfach, was drin steht?“

„Das, äh, ist kompliziert. Sagt mal, habt ihr beide morgen Abend Zeit? Gut! Ich werde euch dann alles erklären. Um sieben vor der Katharinenkirche?“

Ich erhob mich. Beide folgten mir misstrauisch mit den Augen. Ich konnte ihre Fragen spüren. Verena senkte den Kopf und blickte mich durch ihre dichten Wimpern an. Mir fiel wieder ein, dass sie das immer tat, wenn sie unsicher wurde oder sexuell erregt war. „Was ist jetzt mit diesem Brief?“

Auf diese Frage hatte ich gewartet. „Verena, kann ich dich einen Moment unter vier Augen sprechen? Ja? Bitte! Es dauert auch nicht lange.“

Max sah aus, als habe er etwas dagegen, aber er räusperte sich nur und verdrehte die Augen. Verena streifte ihre Jacke über und ging auf den Ausgang zu. Als ich die Türklinke in der Hand hielt, sah ich die fragenden Blicke ihrer Freundinnen, die uns in die Dunkelheit folgten.

Wir gingen schweigend auf den Adlerflychtplatz, auf dem ich einmal als Vierjähriger meiner Mutter davongelaufen war. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, dass das das erste Angsterlebnis ist, an das ich mich erinnern kann. Und jetzt war Verena bei mir. Wir setzten uns auf eine der Kinderwippen, die mit dünnem Frost überzogen dastanden und Dinosauriergerippen glichen.

Verena und ich. Es war verrückt. Plötzlich war ich 14 Jahre älter als sie, und sie wusste nicht, wie sehr ich sie geliebt hatte. Wir begannen zu wippen, begleitet von dem leisen Quietschen der Scharniere, das wie eine Fledermaus um uns durch die Bäume jagte. Ich hätte am liebsten gar nichts gesagt, aber sie stieg plötzlich vom Sitz und ließ mich unsanft auf den nur wenig dämpfenden Autoreifen knallen. „Also, was steckt hinter all diesen verrückten Dingen?“

Ich versuchte vergeblich, in der Dunkelheit ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Vorsichtig sagte ich: „Das meiste steht in meinem Brief. Ich möchte, dass du ihn morgen liest, ohne deine Freundinnen und ohne Max. Ich werde morgen Abend auch nicht zu eurem Treffen kommen. Aber ich bitte dich: Geh du hin. Triff dich mit Max. Sag ihm … was weiß ich … ich hätte deine beste Freundin ausgequetscht, dadurch wäre ich an all die Detailinformationen gekommen, und letztlich hätte ich dir eine Versicherung andrehen wollen. Wichtig ist, dass Max mich möglichst schnell vergisst und unter der Kategorie ‚Verrückter‘ abbucht. Tu mir den Gefallen und sprich mit ihm. Es ist für ihn, für dich und für mich von entscheidender Bedeutung.“

Verena war jetzt ernsthaft zornig: „Warum sollte ich das alles machen? Ich kenne ihn ja gar nicht!“

Meine Stimme hatte auf einmal diesen tiefen, eindrücklichen Klang, mit dem ich sie früher immer betört hatte: „Das steht in meinem Brief! Lies ihn, bitte, morgen. Mehr kann ich dir jetzt nicht sagen!“

Sie trat auf mich zu. „Und du? Wer bist du?“

„Wer weiß, vielleicht bin ich tatsächlich ein Prophet?“

Ich versuchte, die gedrückte Stimmung wegzulachen, aber es gelang mir nicht. Verena stand im Halbdunkel eines Baumes, der das Licht der Straßenlampen abhielt, und starrte mich an. Mit einem bohrenden Blick. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sanft flüsterte ich: „Weißt du, was der griechische Schriftsteller Lukian den Gott Amor einmal sagen lässt? ‚Wenn ich euch auf das Schöne aufmerksam mache, was tu ich daran so Unrechtes? Lasst ihr euch davon hinreißen, so ist das eure Sache; was gebt ihr mir die Schuld?‘ Vielleicht ist es das, was ich will: Ich möchte dich auf die Schönheit dieses Lebens aufmerksam machen.“

„Ach, du bist also Amor!“

„Nein, natürlich nicht! Obwohl, warum nicht? Ich möchte jedenfalls gerne einer sein, der Sehnsüchte erfüllt. Lass es auf einen Versuch ankommen.“

„Also, Amor, ich werde deinen Brief lesen, und vielleicht gehe ich auch morgen zu diesem Treffen, aber ich hoffe, dass ich bis dahin eine gute Erklärung für das alles habe.“

„Das hoffe ich auch“, sagte ich und verschwand in der Nacht.

1635 Ein älterer Page betrat das Atelier und erschrak, als er Van Dyck und mich in Decken gehüllt auf zwei Kisten sitzen sah. Der Künstler wollte ihn erst brüsk hinausschicken, dann besann er sich: „Robin, zieh deine Jacke aus.“

Der Page zögerte.

„Ich brauche sie für mein Bild. Na, mach schon! Deine Jacke wird in die Ewigkeit eingehen.“

Van Dyck nahm dem betreten dastehenden Pagen die Bekleidung ab, streifte sie mir über und schob mich hinter die Staffelei.

„Sei nicht böse, aber wenn ich bis zwölf Uhr mit deinem Bild fertig sein will, nein, fertig werden soll, dann muss ich noch ein bisschen arbeiten. Du kannst ja dabei weitererzählen. Genau, da hast du gestanden. Nimm bitte den Kopf nicht ganz so hoch, vorher war das Kinn tiefer. Ja, es muss ein unsicherer und trotzdem zielgerichteter Blick in die Vergangenheit sein. Dort kommt alles her. Dort scheint das Licht, das unsere Gegenwart erhellt. Du bist derjenige, der weiß, dass hinter dem Horizont des Vergangenen ein unendlicher Reichtum wartet, von dem wir möglichst viel in die Gegenwart retten sollten, wenn wir eine Zukunft haben wollen. Ja, jetzt ist es so, wie ich es mir vorgestellt habe. Stell dich etwas breitbeiniger hin; wer die Vergangenheit kennt, der ist gut geerdet. Ja. Das linke Bein ein bisschen vor, als drängte es dich, wieder zurückzukehren in die leuchtende Historie. Genau, der ganze Schritt muss Hoffnung ausdrücken. Und zugleich hält dich die Gegenwart gefangen, denn du weißt ja, dass man nicht zurück kann. Keiner kann das.“

„Ich kann es!“

Van Dyck strich sich über die Nase: „Stimmt. Merkwürdig, mein Verstand hat das einfach ignoriert. Irgendwie wollen wir das, was wir nicht glauben können, auch nicht wahrhaben. So, wie du jetzt vor mir posierst, habe ich eben in dir wieder ein gewöhnliches Modell gesehen. Verzeih. Erzähl mir, was in diesem Brief stand, den du an deine ehemalige Mätresse geschrieben hattest.“

1985 „Ich musste in mehreren Geschäften nachfragen, bis ich die richtige Umschlagsorte gefunden hatte. Dann saß ich den ganzen nächsten Tag, es war wieder ein Dienstag, in der kalten Hütte und arbeitete an meinem Brief. Es war nicht leicht, in die Zukunft zu schreiben, aber es musste sein. Ich hatte das Schreiben in Verenas zitternden Händen gesehen, nun blieb mir keine andere Wahl, als es auch abzuschicken. Also verfasste ich einen Brief, den ich schon fertig geschrieben gesehen hatte. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, was ich damit auslösen würde. Sonst hätte ich ihn nie geschrieben oder ihn direkt nach der Fertigstellung verbrannt. An diesem Morgen glühte ich vor Begeisterung über meine vermeintlich so cleveren Schachzüge, die mir, also meinem jüngeren Ich, eine Traumfrau bescheren würden.

Ich war so naiv.

Später verfasste ich übrigens noch einige andere Briefe. Sie enthielten ausschließlich gute Ratschläge an mich selbst. Doch jedes Mal, wenn ich sie noch einmal durchlas, kamen sie mir so besserwisserisch und unverständlich vor, dass ich sie nicht abschickte.

Überhaupt schäme ich mich im Rückblick über meine unbeholfene Dummheit in dieser Zeit. Ich ließ das verwirrende Dasein geschehen, ohne darin wirklich aktiv zu werden. Mein abendlicher Enthusiasmus in dem kleinen Restaurant und der Brief an Verena waren positive Ausrutscher, Kraftanstrengungen, wie sie mir nachher nicht mehr gelangen. Schließlich schien es viel einfacher, alle Ungereimtheiten dem Schicksal in die Schuhe zu schieben und sich beleidigt zurückzuziehen. Für Maximilian den jüngeren konnte ich mich kurzzeitig aufraffen, für mich selbst fand ich keine Kraft. Ich habe mich später oft gefragt, warum ich damals nicht in der Lage war, mein Leben in die Hand zu nehmen. Es gibt keine Erklärung. Vielleicht ist es wie bei einem Sterbefall. Der Hinterbliebene bleibt derselbe, der er vorher war, und doch lähmt ihn der Verlust für lange Zeit. Das Vakuum, das entsteht, saugt alle Energie, alle Pläne und alle Hoffnungen auf und lenkt die Gedanken so sehr zu dem Vergangenen, dass für die Zukunft kein Raum bleibt. Und wer keine Zukunft sieht, der will dort auch nicht hin. Der will nur zurück. Und weil er das nicht kann, gibt er auf. Bei mir kam zu dieser Lähmung bald darauf auch noch die Angst vor den Auswirkungen meiner anachronistischen Interventionen.

 

Ich wollte für mich sorgen und versank doch in Lethargie. Nur meine Zeilen an Verena habe ich mit all der verschmähten Liebe, all den ungesagten Worten und all meiner Einsamkeit gefüllt, die mich damals bedrängten. Sollte ich jemals zurückkehren können, möchte ich diesen Brief auf jeden Fall meinen Unterlagen beifügen, da ich aber wenig Hoffnung habe, gebe ich hier den ungefähren Wortlaut wieder, so wie er nach vielem Nachdenken Stück für Stück in mir hervorgekommen ist:

Liebe Verena,

es klingt absurd, aber meine Zeit ist nicht deine Zeit; mein Morgen ist dein Gestern. Wenn du diese Zeilen in 365 Tagen liest, bin ich schon in einem anderen Jahrhundert. Ich weiß nicht, wie ich es verständlicher erklären sollte. Meine Jahre verlaufen jedenfalls anders als deine. Ich kann es selbst noch nicht in Worte fassen. Wie verrückt das ist, erfährst du gerade: Obwohl dieser Brief bereits zwölf Monate lang bei dir liegt, haben wir uns erst vor einem Tag im „Piccolo Giardino“ kennen gelernt. Natürlich wirst du nicht glauben, dass ich dir im Januar 1985 von Ereignissen aus dem Januar 1986 schreiben kann, aber es ist wahr: Ich kenne deine Zukunft. Ich bin aus der Zeit herausgenommen worden und falle haltlos durch die Jahre. Das ist die einzige Erklärung, die ich dir für mein Wissen über dich geben kann.

Weil ich nicht weiß, wie viel Glauben du mir schenkst, erzähle ich dir eine Episode aus deinem Leben, die du noch nie einem Menschen anvertraut hast: Als du elf Jahre alt warst, hat dich auf einer Geburtstagsfeier der Vater deiner Freundin in eine Abstellkammer gezogen und dir unter den Rock gegriffen. Du hast ihn aus Angst gewähren lassen und dich später so über deine Hilflosigkeit geschämt, dass du fortan alle Männer gehasst hast. „Verena, die Keusche“ haben sie dich im Goethe-Gymnasium genannt, weil du bei den Knutschspielchen nie mitmachen wolltest. Und es fällt dir immer noch schwer, dich von einem Mann berühren zu lassen.

Gestern habe ich mich als Propheten bezeichnet. Ich kann dir nicht sagen, ob ich einer bin. Und doch ist das, was in diesem Brief steht, deine Zukunft, dein Leben. Es ist, was es ist. Dass ich dir sage, was dich erwartet, muss sein. Auch das lässt sich nicht so einfach erklären. Um es kurz zu machen: Ich werde dir beschreiben, was in den nächsten Jahren mit dir passieren wird. Denn ich weiß, dass es passieren wird.

Keiner kann den Lauf der Geschichte verändern, ich nicht und du auch nicht. Daher kann ich nicht sagen, welche Chance du hättest, dich gegen das Kommende zu wehren. Du musst selbst entscheiden, was du mit meiner „Weissagung“ anstellst. Ich will auf jeden Fall versuchen, die Dinge nur anzudeuten, damit du nicht als Sklavin dieses Briefes leben musst.

Max, mit dem du heute Abend verabredet bist, und du, ihr werdet ein Paar werden und einige sehr erfüllte Jahre miteinander verbringen. Max ist ein feiner Kerl. Sicher noch ein bisschen unreif und unsicher, was er mit jugendlicher Arroganz zu vertuschen sucht, aber aus ihm kann etwas werden. Durch dich wird er Lust am Leben bekommen, während deine Sprunghaftigkeit etwas nachlässt. Er wird lernen, sich weniger wichtig zu nehmen, du wirst lernen, dich ernster zu nehmen. Er wird seine Zärtlichkeit entdecken, und du wirst verstehen, welches Geschenk es ist, Zärtlichkeit annehmen zu können.

Eines ist ganz entscheidend: Du wirst ihm sein Studium der Sonderschulpädagogik ausreden und ihn motivieren, mit Altphilologie zu beginnen. Er ist unzufrieden mit seiner jetzigen Situation, aber noch zu unflexibel, um sich aus den eingefahrenen Gleisen herauszubewegen. Nimm du das für ihn in die Hand. Dein eigenes Studium wird übrigens sehr erfolgreich verlaufen. Vielleicht hilft dir diese Ankündigung, dich mehr auf die großen Zusammenhänge des Daseins zu konzentrieren. Sei nicht zu schnell zufrieden, aber genieß dieses Leben in vollen Zügen.

Übrigens: Wenn du Ende Februar mit dem Fahrrad zum Reiten fährst, dann schnalle deinen Reithelm nicht auf den Gepäckträger, sondern setze ihn auf. Du wirst stürzen, dank des Helmes aber nur einige Kratzer am Arm abbekommen.

Ich muss aufhören, sonst übe ich gegen meinen Willen Macht über dich aus. Ich kann mir vorstellen, wie viele Fragen jetzt in dir hochkommen, aber ich darf sie dir nicht beantworten. Hier ist deine Zukunft. Gestalte sie.

Mit lieben Grüßen

Dein Christoph

Als ich den Brief eingeworfen hatte, verlor ich die Kontrolle über mich. Hilflos brach ich zusammen. Meine Muskeln gehorchten mir nicht mehr, und ich fiel über meine Beine, ohne den Aufprall abzudämpfen. So sank ich vor dem noch klappernden Briefkasten auf das Trottoir. Ein Häufchen Elend, über das der eisige Wind dunkle Tropfen wehte. Ich kann mich heute nicht mehr an die Umgebung erinnern. Es wurde alles schwarz. Ja, ich weiß nicht einmal, wie lange ich dort regungslos gelegen habe.

Ein älteres Ehepaar half mir auf die Beine und blieb bei mir, bis sich mein Kreislauf wieder stabilisiert hatte. In mir und um mich drehte sich alles. Ich torkelte langsam in die Gartenhütte und weinte dort mehrere Stunden leise vor mich hin. Anfangs verstand ich selbst nicht, was mich so niederdrückte, bis ich nach und nach den Grund meiner Verzweiflung entdeckte.

Nichts stimmte mehr: Ich hatte mich selbst verkuppelt und entmündigt, ich hatte mein Leben verändert und Verena beeinflusst. Ich hatte die Geschichte manipuliert. Ich hatte als winziger David den Goliath Zeit herausgefordert und ihn auch besiegt – aber er war auf mich gefallen. Bis zum Absenden des Briefes war ich der Überzeugung gewesen, ich wäre in jedem Augenblick des bisherigen Lebens Herr meiner Sinne gewesen. Nun wusste ich, wie sehr ich mich geirrt hatte. Ein anderer, ich selbst und doch nicht ich, war in mein Leben eingefallen und hatte all das gesteuert, ferngesteuert, was ich für meine eigene Leistung gehalten hatte.

Das Absenden eines Briefes machte aus einem scheinbar selbstbestimmten jungen Wissenschaftler eine willenlose Marionette. Erstaunlicherweise empfand ich es nicht als Trost, dass ja auch meine Zeitreise ein für mich unverständlicher Willkürakt darstellte, auf den ich keinen Einfluss besaß. Die brutale Vergewaltigung meines Willens durch mein zweites Ich schmerzte wie eine schwere Eisenkette an meinem Bein. Aber was hätte ich denn anderes machen sollen? Ohne mich hätte Max diese Frau doch niemals kennen gelernt.

Ich erschauderte ein weiteres Mal, als hätte in meinem Inneren der Wind gedreht. So wie einen bisweilen die Erkenntnis überrumpelt, dass man anstatt die eigentlichen Fragen zu stellen, auf Nebenschauplätzen gerungen hat. Jetzt erst wurde mir bewusst, in welche bösartige, brutale und menschenverachtende Situation ich Verena gebracht hatte. Was erlebt ein Mensch, der einen Brief bekommt, in dem ihm seine Zukunft nicht nur vorhergesagt, sondern aufgedrängt wird? Welche Freiheit hat er noch? Jedes Wort, das ich der jungen Frau geschrieben hatte, stellte eine Verletzung ihrer Persönlichkeit dar, eine tiefe Verwundung, denn ich nahm ihr den eigenen Willen.

Verena musste im Angesicht der Zeilen um ihr Leben kämpfen. Sie konnte die geheimnisvollen Andeutungen umsetzen oder versuchen, alles anders zu machen. Aber sie konnte dem Fluch der Vorhersagen nicht entgehen, ganz gleich, wie sie reagierte; die Fragen nach deren Richtigkeit würden sich wie ein Phantom an jedem Wendepunkt ihres Lebens aus dem Dunkel erheben und sie verfluchen. Instinktiv wusste ich, dass sie meine Worte akzeptieren würde, denn ich kannte ja die Zukunft. Aber wie viel Überwindung würde es sie kosten? Ich wollte mir ihre Zerrissenheit nicht vorstellen, so weh tat dieser Gedanke.

Und erst, als ich das gedacht hatte, wurde mir klar, worüber ich in diesem tristen Augenblick eigentlich weinte: über mich selbst. Über meine unendliche Dummheit und Verblendung. Ich hatte es ja gut gemeint: Ich wollte mich zu meinem Glück zwingen. Aber war mir das gelungen? Hatte ich nicht genau das Gegenteil erreicht? Hatte ich nicht zwei Personen zusammengezwungen, die sich ohne mein Eingreifen zu Recht nicht begegnet wären?

Plötzlich stand für mich, den weinenden Mann aus dem Jahr 2000, nur noch eine Frage im Raum: „Hat Verena mich jemals geliebt?“ Oder war sie nur mit mir zusammen gewesen, weil ich sie dazu gebracht hatte? Ohne mich zu kennen oder zu mögen, hatte sie auf Grund eines verdammenswürdigen Briefes eine vorherbestimmte Beziehung angefangen. Ich fand kein Taschentuch mehr, um meine verquollenen Wangen zu trocknen. Auf Grund meines eigenen Zutuns entpuppten sich die drei wegweisendsten Jahre meines Lebens als Lüge. Als verhängnisvoller Irrtum. Selbstbetrug! Eine organisierte Liebe. Ich hatte sie quasi aufgefordert, sich zu prostituieren. Und sie war aus Angst vor dem Schicksal darauf eingegangen. Das war sie und nichts anderes: eine Prostituierte der Zeit.

Hatte sie sich vielleicht nachträglich in mich verliebt? Ich glaube nicht. Nachdem ich nun wusste, wie diese Beziehung angefangen hatte, konnte ich sie zum ersten Mal ohne den Schleier der Verliebtheit betrachten; ein erschreckendes Bild.

Damals war ich verblüfft gewesen, wie schnell sich diese betörende Frau auf mich eingelassen hatte, und hatte es auf meinen unwiderstehlichen Charme geschoben. Ich war überzeugt gewesen, sie wäre mir sofort verfallen. Kein Wunder. Sie gehorchte ja nur dem brieflichen Schicksal, das sich ihr in Form eines allwissenden Orakels präsentiert hatte. Ich hasste mich für das, was ich mir und ihr angetan hatte.

Ich rang mit mir selbst und konnte doch nur verlieren. Ich wollte nicht akzeptieren, dass sich Verena wahrscheinlich die ganze Zeit wie in einem Gefängnis gefühlt hatte. Es schien mir unmöglich, dass ich mir diese liebevolle Atmosphäre nur eingebildet hatte. Das war doch eine befreiende, beglückende Beziehung gewesen. Aber wie ehrlich waren ihre Lippen, ihre Hände und ihre Augen wirklich gewesen? Diese hingebungsvollen Umarmungen, das gemeinsame Träumen und Lachen: Das hatte sie alles nicht nur vorgespielt. Oder doch? Und wenn es so war?

Ich hatte ihre sexuelle Zurückhaltung als Folge ihres Kindheitstraumas gewertet. Viele ihrer kleinen Marotten, an die ich mich im Laufe der Zeit gewöhnt hatte, konnten ebenso Zeichen einer tiefen Traurigkeit sein. Die These, dass sie mich nicht geliebt hatte, würde auch einige ihrer Entscheidungen erklären. Zum Beispiel hatte es damals für sie keinen konkreten Anlass gegeben, zum Examen nach Hamburg zu ziehen. Wollte sie einfach nur weg von mir? Und dann all diese Versuche, mich eifersüchtig zu machen: Waren das Hilferufe gewesen? War das vielleicht ihr Weg, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen?

Sie konnte unsere Beziehung nicht beenden, denn dann hätte sie die Prophezeiung verletzt. Aber sie konnte dafür sorgen, dass ich von mir aus die Partnerschaft auflöste. Sie wollte die Verantwortung für den Bruch, für die Missachtung des Schicksals nicht übernehmen, hielt es aber auch nicht länger mit mir aus. Sie muss sehr gelitten haben. Ob es so war? Ich weiß es nicht. Im Nachhinein spricht so vieles dafür. All die verborgenen Winkel ihres Charakters, zu denen ich in unseren gemeinsamen Jahren keinen Zugang gefunden hatte, taten sich jetzt auf: Kleine Ungereimtheiten, nachlässig dahingesagte Halbsätze und scheinbar unwichtige Streitpunkte goßen sich auf einmal wie Blei in meine Seele. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt, dass sie mich nie geliebt hatte, dass sie mit mir ausschließlich zusammengewesen war, um dem geheimnisvoll-bedrohlichen Fremden zu gehorchen, der ihr schonungslos eine Zukunft aufgedrängt hatte. Ich war selbst daran schuld. Ich hatte mein und ihr Leben versaut. Ich hatte Gutes gewollt, und es war Schlechtes daraus geworden.

Erst zwei Tage später war ich wieder in der Lage, mein Refugium zu verlassen. Mit dem festen Vorsatz, nie wieder Einfluss auf den Zeitenlauf zu nehmen, keinem Menschen jemals wieder von meiner Reise zu erzählen, mich und andere in Ruhe zu lassen und mich einfach aus dieser Welt zurückzuziehen.

 

1635 Als ich während meiner Erzählung bei meiner selbstgewählten Isolation angekommen war, sah ich aus den Augenwinkeln, dass der Maler den Pinsel niedergelegt hatte. Er atmete schwer. Mit einem kleinen Leuchter in der Hand ging er zu einem der Fenster, öffnete es und warf einen Blick auf den Mond. Lange Zeit sagte er nichts. Dann flüsterte er: „Langsam fange ich an, dir zu glauben.“

Und als er nicht fortfuhr, fragte ich in die Stille hinein: „Warum?“

Er drehte sich um: „Warum? Warum? Frag mich etwas Leichteres. Vielleicht, weil du in deiner Geschichte das Opfer und nicht der Held bist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand ein so unglaubliches und zugleich verführerisches Märchen einfallen lässt. Wozu auch? Die Fantasie erzählt uns die unglaublichsten Geschichten. Aber dein Märchen ist Wirklichkeit geworden. Und du musst darin leben. Ich schätze, wir haben noch etwa vier Stunden, dann verschwindest du in der Vergangenheit. Wenn ich dir in irgendeiner Form helfen soll, musst du mir mehr berichten. Irgendwo muss da ein Hinweis sein, irgendetwas, an dem man einhaken kann. Hast du dich nach deinem Zusammenbruch gar nicht mehr um dein jüngeres Ich gekümmert?“

Ich atmete tief ein: „Doch, natürlich. Es war das Einzige, was ich tun konnte. Außer mir hatte ich doch keinen mehr. Ich drehte mich die ganze Zeit um mich selbst. Aber ich vermied es, zu sehr mit mir in Kontakt zu kommen. Ich sah mich mehrmals auf dem großen rechteckigen Pausenhof unserer Schule unter den Platanen stehen … damals habe ich noch geraucht … ich fuhr sogar einmal mit mir auf der Frankfurter Eisbahn. Ich konnte nicht genug von mir bekommen. Einmal habe ich mir, dem Kind – ich muss so zehn Jahre alt gewesen sein – 50 Mark in die Jacke gesteckt. Doch auch dabei hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich durfte nie wieder – unter keinen Umständen – das Leben eines anderen Menschen beeinflussen.

Ich wollte mir helfen und konnte es nicht. Ich wollte für mich da sein – und durfte nicht. Aber gerade weil dem so war, verstärkte ich meine Anstrengungen um dieses Kind noch. Und je mehr ich mich hineinsteigerte, desto klarer wurde mir, dass ich mich verlor. Irgendwann war ich fünf, dann nur noch vier Jahre alt. Ich bot sogar meiner Mutter einmal an, auf ihren Kleinen aufzupassen, als sie mir auf einer Parkbank erzählte, sie müsse noch schnell in den Supermarkt. Zehn Minuten lang spielte ich mit dem dreijährigen Jungen, der in mir steckte und in dem ich vorgezeichnet war. Ich genoss es. Ich konnte in meinen Zügen schon mein Lächeln erkennen. Da war mein grimmiges Zusammenziehen der Stirnmuskeln, mein jähes Aufsehen, wenn etwas mich verstimmt, und meine Angewohnheit, wenn ich unsicher bin, die Hände unter die Achselhöhlen zu schieben. Als meine Mutter wiederkam, unterhielten wir uns eine halbe Stunde angeregt, dann nahm sie den Kleinen auf den Arm und verabschiedete sich. Durch das Klettergerüst sah ich mich noch winken, mit einem strahlenden Lachen. Die nächsten drei Tage wartete ich vergeblich darauf, meine Mutter noch einmal mit dem Kinderwagen zu sehen. Sie blieb zu Hause.

Am Donnerstag, den 4. Februar 1965, wachte ich nicht wirklich auf. Ich wusste, dass ich, dass mein Lebenssinn, nicht mehr da war. Es begann die Zeit vor meiner Geburt. Aber meine depressive Stimmung hatte wahrscheinlich schon ein paar Tage früher eingesetzt. Ich musste ja zusehen, wie alles, was ich kannte, nach und nach verschwand. Meine Welt wurde jeden Tag weniger und auch ich wurde jeden Tag weniger.“

Van Dyck schloss das Fenster wieder. „Und was geschah dann?“

„Was heißt das: Was geschah dann?! Nichts geschah dann. Ich bestand nur noch aus Resignation. Seit ich nicht mehr war, wollte ich auch nicht mehr sein. Lange Tage versank ich einfach in mir, dann, Anfang der fünfziger Jahre, ging ich in die Frankfurter Stadtbibliothek, um herauszufinden, in welcher Region ich die beiden Weltkriege am sichersten überstehen würde. Wenig später nahm ich das letzte Geld, das ich noch besaß, und fuhr in den hinteren Vogelsberg. Dort schlief ich in den Scheunen bei den Tieren, bettelte um ein Stück Brot oder setzte mich am Sonntag vor die Kirche. Die Zeit zog einfach an mir vorüber. Die Geschwindigkeit, in der die Jahre vergingen, befreite alle Ereignisse von ihrer Schwere. Sogar Weltkriege, die nur wenige Tage dauern, verloren viel an Grausamkeit, aber mir war ja ohnehin alles gleichgültig. An keinem der sechs Tage, die ich während des Zweiten Weltkrieges verbrachte, sah ich auffallend viele Soldaten. Menschen feierten und Menschen starben, ohne dass es mich berührt hätte.

Es mag merkwürdig klingen, aber man kann 150 Tage verschleudern, ohne es zu bemerken. Ich wurde in diesen Jahren dreimal verprügelt, fünfmal aus einem Dorf gejagt, zweimal zum Baden aufgefordert und einmal mit dem Gewehr bedroht. Na und? Ich wollte nur eines: in Ruhe gelassen werden.

Heute würde ich sagen, dass ich mich damit vor den vielen Zweifeln und Fragen drücken wollte, die in mir ununterbrochen nach einer Antwort schrien. Man kann nicht leben, ohne zu wissen, warum. Ich jedenfalls nicht. Aber man kann sich vor den Fragen geschickt drücken. Und ich verwandte all die Energie, die ich zur Lösung meiner Probleme hätte aufwenden müssen, darauf, sie zu unterdrücken. Es war eine kalte, tote Phase. Ich fürchtete mich weniger davor, keine Antwort zu finden, als vor dem, welche Konsequenzen diese Antworten mit sich bringen könnten. Und daran hat sich im Wesentlichen bis heute nichts geändert.

Anfang des 18. Jahrhunderts begann ich wieder zu arbeiten. Da ich als Student und auch während meiner Assistentenzeit an der Universität nebenbei auf dem Bau gearbeitet hatte, verdingte ich mich als Maurer, Polier, Schreiner oder Vorarbeiter. Eben als das, was gerade gebraucht wurde. So hatte ich wenigstens etwas zu tun, bekam drei Mahlzeiten am Tag und gewann das bisschen Ehre zurück, das ich nach dem Hingang meines jüngeren Ich weggeworfen hatte. Ich denke nicht gerne an diese Zeit zurück. Allerdings fand ich im Lauf der Jahre heraus, dass ich immer öfter mit Menschen zusammenkam, die nicht lesen und schreiben konnten. Daher wandte ich mich von nun an regelmäßig direkt an den Bauleiter und erbot mich, als Schreiber zu arbeiten.

Was mir neben der Arbeit an Kraft blieb, nutzte ich, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Ich war überzeugt, dass ich meinen Teil am Leid der Welt bereits ausgekostet hatte. In den Pausen auf der Baustelle und am Abend befragte ich so viele Menschen wie möglich nach der jüngeren Geschichte, nicht, um mich zu bilden, sondern um mögliche Gefahren schon im Vorfeld vermeiden zu können. Ich passte mich allem an und wurde ein perfekter Vergangenheitsopportunist.

Und Ihr könnt mir glauben, Meister Van Dyck: Wer nicht leben will, kann sich auf angenehme Art davor drücken. Außerdem hatte ich genügend Zerstreuung. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schnell sich die Sprache, die Schrift, die Umgangsformen und die Werte entwickeln. Was heute gilt, war vor 100 Jahren undenkbar und wird in 100 Jahren undenkbar sein. Dabei sind es weniger die sich verschiebenden Laute oder die Wortwahl, die mir Schwierigkeiten bereiten. Es sind die Denkstrukturen, die sich verändern. Kaum ein Europäer des ausgehenden 20. Jahrhunderts kann sich noch in die völkischen Logismen einer nationalistischen Ideologie eindenken. Unabhängig von allen Schuldzuweisungen bemühen sich Historiker und Soziologen, diese grau-braune Zeit zu verstehen, aber es wird nicht gelingen. Sowenig wie ein Indianer einen Aufklärer, ein Sklavenhalter einen Sklavenbefreier oder ein Hexenverfolger eine Feministin versteht, sowenig ähneln sich ein Mensch der fünfziger und der zwanziger Jahre. Sie denken unterschiedlich. Darum ist es auch sinnlos, über andere Epochen zu richten. In ihrer Zeit waren die jeweils Lebenden gleichermaßen bestrebt, ihr Glück zu finden, wie heute.