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1993 Jeden Morgen war ich erwartungsvoll aus der winterlich leeren Kleingartensiedlung in das nächste Einkaufszentrum gerannt. Und jedes Mal war ich fest davon überzeugt gewesen, dass es sich bei all dem nur um ein Missverständnis handeln konnte, einen irren Traum, vielleicht durch eine Droge in einem der Drinks auf der Party verursacht. Jeden Morgen vertraute ich darauf, dass sich nun alles aufklären würde. Doch schon, wenn ich mich dem Supermarkt genähert hatte, hatten mich zu viele Kleinigkeiten darauf hingewiesen, dass ich noch weiter in die Vergangenheit vorgedrungen war: Die dichten Büsche waren kleiner geworden, die Markisen hatten heller geleuchtet und die Verkäuferinnen frischer gewirkt. Jeden Tag waren weniger Menschen mit Handys unterwegs und die Autos wurden immer eckiger.

Dann hatte sich jedes Mal mein Schritt verlangsamt, ich war die letzten Meter bis zum Zeitungsständer gewankt und hatte schon gewusst, was ich auf den Titelseiten lesen würde. Und irgendwann hatte sich der letzte Rest Hoffnung in nichts aufgelöst. Als es keinen Zweifel mehr daran gab, dass ich zu einem Gefangenen der Zeit geworden war, stieg in mir Wut hoch. Warum gerade ich?

An einem dieser Tage rannte ich zurück zu meinem Schlafplatz, verbittert und voller Hass. Es war, als müsste sich die ganze Anspannung lösen. Ich musste etwas zerstören, um nicht selbst zerstört zu werden. Also ließ ich all meine Wut raus.

Innerhalb einer halben Stunde zerlegte ich die gesamte Einrichtung der Gartenhütte. Ich war wie von Sinnen, prügelte unkontrolliert mit einem Besen auf die Möbel ein, zerkratzte vor Wut die Tischplatte, riss die Schubladen aus den Schränken und trat gegen alles, was mir in den Weg kam. Ich riss die Tapete von den Wänden, hebelte die Steckdosen aus den Leisten und bohrte mit einem Messer Löcher in den Boden. Und erst als ich ausgebrannt und weinend auf den kalten Dielen lag, wurde mir wieder bewusst, wie erschüttert meine Eltern 1993 gewesen waren, als „irgendwelche“ Vandalen in ihrer Hütte randaliert hatten.

Die nächsten Tage brachte ich damit zu, mit dem Schicksal zu verhandeln. Ich war fest davon überzeugt, dass es möglich sein müsse, diesem Zeitenschwund ein Ende zu bereiten. Es musste etwas geben, das mir helfen konnte: Dämonenaustreiber, Physiker, Historiker, Wunderheiler oder eine Wallfahrt nach Lourdes. Ich spannte endlose Theorien, um den an diesem Leben Schuldigen die Sinnlosigkeit meiner neuartigen Existenz zu beweisen, aber da war niemand, dem ich mein Plädoyer hätte vorlegen können.

Tagelang versank ich in mir und wälzte immer wieder die gleichen Argumente hin und her. Ich verdächtigte alles und jeden, entwickelte ominöse Verschwörungstheorien und überlegte, ob nicht vielleicht am 1. Januar 2000 die Welt untergegangen war. Aber dann fiel mir kein Grund ein, warum jemand gerade mich auf eine derart seltsame Weise davor gerettet haben sollte. Der Irrsinn der Verzweiflung.

Ich lief sogar einige Tage durch die Straßen und versuchte herauszufinden, ob es unter den Passanten vielleicht noch andere Zeitspringer gab. Gemeinsam hätten wir ja möglicherweise eine Chance gehabt, dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Aber woran sollte ich sie erkennen? Einige Personen, die auf mich einen ziellosen Eindruck machten, sprach ich sogar an. Ich betrachtete sie lange, und wenn sie sehr unkoordiniert, unsicher und verloren wirkten, verfolgte ich sie vom Supermarkt bis auf die Straße.

Leider gab es überall Fußgänger, auf die diese Beschreibung zutraf, sodass ich immer erst dann mit ihnen in Kontakt trat, wenn sie mehrfach auf das Datum der Zeitung geblickt hatten, ohne sie zu kaufen. Aber selbst zu dieser Sorte Mensch zählten noch so viele, dass ich nicht jeden befragen konnte. Außerdem hatte ich Angst, mich lächerlich zu machen. „Was halten Sie von Zeitreisen?“, hielt ich für die unverfänglichste Frage. Doch ich erntete nur misstrauische, nichts sagende oder befremdliche Blicke. Einmal gaben mir zwei Schüler erstaunlich passende Antworten, die mich aufhorchen ließen, bis ich merkte, dass mich die beiden zum Besten hielten.

Daraufhin zog ich mich wieder zurück und versank im Kerker meiner Gedanken. Ich verabschiedete mich aus der Welt, um mich ihr nicht stellen zu müssen. Tag für Tag zog ein Jahr an mir vorüber. Die deutsche Einheit verpasste ich dabei genauso wie beim ersten Mal. Ein historisches Ereignis, das lautstark an mir vorüberschritt und mich doch nicht erreichte. Die Fragen der Welt verblassten hinter meinen Fragen. Meine Angst und meine Niedergeschlagenheit drängten sich so in den Vordergrund, dass für alles andere kein Platz mehr war. Ich war nur noch ich. Zerrissen, verwundet, hasserfüllt und trotzig. Ein Bär im Winterschlaf, der nicht mehr an den Frühling glaubt. Am 11. Januar 1989 begriff ich endlich, dass das alles keinen Zweck hatte.

1635 Durch das dunkel gewordene Atelier ging ein Luftzug. Heftig und erfüllt mit dem Geruch von Mehlschwitze und Fett.

Van Dyck fluchte: „Es ist grauenhaft. Jeden Abend öffnen diese verblödeten Mägde die Küchentüren und hier fliegen die Leinwände durch den Raum.“

Er stand auf, holte aus einer Truhe zwei Decken und warf mir eine davon zu: „Hier! Wir wollen ja nicht, dass du bis zu den Zeiten Karls des Großen Schnupfen hast.“ Er kicherte leise, wurde aber gleich wieder ernst. „Was meinst du jetzt? Warum passiert so etwas? Warum reist jemand wie du durch die Zeit?“

Ich wickelte mich in den groben Stoff und blickte nicht auf: „Wenn ich das wüsste, dann wäre ich der glücklichste Mensch der Welt. Und weil ich es nicht weiß, bin ich der unglücklichste.“

Van Dyck ging zurück zu seinem Sitzplatz und zog die Nase hoch: „Dann musst du es herausfinden!“

„Eine großartige Idee! Was meint Ihr, warum ich Euch das alles erzähle? Ich hoffe, dass Ihr in meinen Geschichten etwas entdeckt, das Euch und mich dem Geheimnis etwas näher bringt.“

Der Künstler beugte sich nach vorne, um eine weitere Kerze anzuzünden. „Gut, dann lass uns weitermachen. Was geschah nach, entschuldige, vor dem 11. Januar 1989?“

1988 Ich war durch und durch müde. Nicht unausgeschlafen, sondern von einer lähmenden Schwere erfüllt, die jede Bewegung zu einer Qual und jeden Gedanken zu einer unliebsamen Anstrengung macht. Seit ich mein Los akzeptiert hatte, ergab ich mich ihm. Ich wusste nicht, wohin, und darum gab es auch keinen Grund, einen ersten Schritt zu tun. Tagsüber wanderte ich unstet durch das ehemalige Bundesgartenschaugelände an der Nidda, diesem stinkenden Kanal, der sich übermütig Fluss nennt, schaute kleinen Kindern beim Spielen zu und kehrte früh in die Hütte zurück. Ich existierte, aber ich lebte nicht.

Am 12. Januar 1988 wachte ich gegen ein Uhr morgens auf, weil ich fror. Die Kälte kroch in den alten Armeeschlafsack meines Vaters und legte sich heimtückisch um meinen nackten Körper. Zwischen den Wolken lugte bisweilen der Mond hervor, um sich gleich darauf wieder schamvoll zu verstecken.

Ich stand auf und sprang schlotternd umher, bis die Kälte aus meinen Gliedern gewichen war. Und erst dabei wurde mir bewusst, was passiert war: Durch meinen mitternächtlichen Zeitsprung war ich in einem Jahr gelandet, in dem es das kleine Blockhaus noch gar nicht gegeben hatte. 1988 hatten meine Eltern ein neues „Gartendomizil“, wie sie ihre Hütte immer nannten, gebaut und es bewusst in den hinteren Teil des Gartens gesetzt, um nicht wie vorher ab dem späten Nachmittag den Schatten des kleinen Unterschlupfes auf dem Rasen zu haben. Aber das war nur ein Grund gewesen. Mein Vater hatte sich auch deshalb wütend zum Kauf einer festeren Hütte entschlossen, weil die alte Baracke jedes Jahr im Winter aufgebrochen wurde, „von einem dieser Penner, die dann darin übernachten“, wie der stets korrekte Ingenieur in unregelmäßigen Abständen bemerkte.

Mir fiel auf, wie oft meine Reise in die Vergangenheit in meinem ersten Leben Spuren hinterlassen hatte, ohne dass es mir aufgefallen war. Denn es gab keinen Zweifel: Der Penner war ich; ich würde gleich die alte Hütte aufbrechen, zu der ich natürlich keinen Schlüssel hatte. Aber was blieb mir anderes übrig? Ich musste Gewalt anwenden, wenn ich nicht erfrieren wollte. Und genau das tat ich. Glücklicherweise war der alte Heizlüfter noch oder schon da, sodass ich bald wieder im Warmen saß.

Als mein Blick am nächsten Morgen in den ovalen Spiegel fiel, der über dem durchgesessenen Sofa in der alten Hütte hing, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich inzwischen wirklich wie ein Penner aussah. Ich hatte mich zwar einige Male gewaschen, eine Dusche aber gab es in dem Kleingarten natürlich nicht. Unrasiert, mit fettigen, verzottelten Haaren, langen, dreckigen Fingernägeln und ungepflegten Zähnen grinste ich mich verstohlen an – und schämte mich.

Da beschloss ich, endlich wieder zu leben. Ich fand es plötzlich unendlich dumm, mit dem Schicksal zu hadern. Und als ich an diesem Morgen an der Bahntrasse entlang in die Stadt lief, war ich sehr zuversichtlich. Ich hatte mir fest vorgenommen, mich wieder um mich zu kümmern. Und zwar um uns beide: nicht nur um den verwirrten Reisenden, der jeden Morgen froh war, dass ihn zumindest die Dinge, die er am Körper trug, in die Vergangenheit begleiteten, sondern auch um mein altes Ich.

Dieser Gedanke beflügelte mich. Da war dieser ahnungslose Max, der in den achtziger Jahren vor sich hinlebte, ohne zu wissen, was ihm bei der Jahrtausendwende passieren sollte – und keiner kannte ihn so gut wie ich. Ich wollte mir helfen, mich begleiten und mir wichtige Ratschläge geben. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Das war das einzige Ziel, das mir blieb. Ich konnte versuchen, aus mir das Beste zu machen.

1986 Am Dienstag, den 14. Januar, besuchte ich mich zum ersten Mal in der Universität. Mein altes Ich war gerade 21 geworden, und ich war immer noch 35 und hatte mir in den vergangenen zwei Wochen so viel Bart wachsen lassen, dass ich mich auf keinen Fall erkennen würde. Ich war lange unsicher gewesen, ob ich diese Begegnung riskieren sollte, aber dann hatte ich mich daran erinnert, dass mir 1986 eine merkwürdige Kneipen-Tour mit einem ausgeflippten Unbekannten, der sich „Christoph“ nannte, den ersten Anstoß gegeben hatte, von Sonderpädagogik zur Altphilologie zu wechseln.

 

Ich hatte damals die Nase gestrichen voll von all den Schulpraktika, in denen es nicht um die Qualität des Unterrichtsstoffes, sondern um reine Machtfragen ging. Wer zeigt hier wem, was eine Harke ist? Der Lehrer den Schülern oder umgekehrt? (Van Dyck blickte mich verständnislos an.) Und wenn mir meine Schutzbefohlenen einmal nicht den Krieg erklärten, dann hingen sie wie gelähmt in den Stühlen, ließen meine anfangs noch sehr motivierten Unterrichtsentwürfe gähnend über sich ergehen oder starrten Löcher in die Decke.

Ich war 21 und sehr frustriert. In meiner Fantasie existierte Schule so unterhaltsam und freundlich wie im „Fliegenden Klassenzimmer“ von Erich Kästner, in der Realität aber war von diesem Vertrauen zum Lehrer, von der Freundschaft, der Wissbegierde und der Sehnsucht nach Gemeinschaft bei den Schülern nur wenig zu spüren. Und trotzdem wäre ich ohne einen äußeren Anstoß sicher Lehrer geworden, denn einen Wechsel des Studiengangs hätte ich aus eigener Kraft kaum vorangetrieben.

Ich stieg an der Bockenheimer Warte aus der Straßenbahn und schlenderte an den ewig gleichen Ständen mit gebrauchten Büchern vorbei, die sich dort vor dem Campus in Reih und Glied auf wackeligen Tapeziertischen nach neuen Lesern sehnten. Zeigefinger wanderten die Buchrücken entlang, verharrten bei einzelnen Titeln, um sich dann ab und an doch zwischen den Seiten zu verlieren. Eine junge Frau, die erschreckend hohe Absätze trug, holte gerade ihr Portemonnaie heraus, stellte aber offensichtlich fest, dass ihr Geld nicht für die gewählten antiquarischen Angebote reichte. Missmutig steckte sie die Börse zurück und lief eilig davon. ‚Es hat sich nichts geändert‘, dachte ich und wusste doch, dass alles anders war. Und dann sah ich es auch: Das „Depot“ hatte sich aus einer modernen Kultur- und Begegnungsstätte wieder in eine alte Eisenbahnhalle verwandelt und der McDonald‘s im Eckhaus war noch nicht da.

Mehrfach traf ich Bekannte aus der Studienzeit, traute mich aber nicht, sie zu grüßen. Sie hätten mich ohnehin nicht erkannt. Außerdem ging es mir ja um mich. Ich hatte mich daran erinnert, dass zu jener Zeit jeden Dienstag eine gut besuchte Vorlesung über „Die Pädagogik des 20. Jahrhunderts“ angeboten wurde, und mir vorgenommen, mich dort zu treffen, sah mich dann aber schon vorher vor dem Schaufenster des studentischen Reisebüros stehen und nach billigen Reisen Ausschau halten. Das Wissen, dass ich mit einem Flugzeug in wenigen Stunden in einer anderen Welt sein konnte, hatte mich schon immer fasziniert.

1635 Van Dyck wirkte angestrengt. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es für ihn fast unmöglich sein musste, sich diese Zukunft vorzustellen. Immer wieder verzog er sein Gesicht, wenn meine Erzählung seinen Erfahrungshorizont überstieg, hörte mir aber tapfer weiter zu und nippte gedankenverloren an seinem Wein. Meine Geschichte war für ihn nicht nur durch die Reise in die Vergangenheit eine Zumutung, sie erforderte darüber hinaus seine ganze Vorstellungskraft. Kaum etwas von dem, was ich beschrieb, existierte in seiner Welt. Die 365 Jahre, die uns trennten, waren wie ein unüberbrückbarer Graben. Trotzdem nahm er erst die Flugzeuge, die ich ihm gegenüber salopp als Reisevögel bezeichnet hatte, zum Anlass nachzufragen.

Er blickte mich durchdringend an: „Wie lange braucht so ein Reisevogel von London nach Florenz oder Palermo?“

Ich stutzte, weil er mich unterbrochen hatte: „Na ja, ungefähr zweieinhalb Stunden! Und in vier Stunden ist er in Jerusalem.“

„Das ist unmöglich! In dieser Zeit kommt man ja nicht einmal bis Brighton. Ein Reisevogel? Was soll das eigentlich sein? Ein gigantischer Geier oder was?“

„Nein, Sir, eine Maschine aus Metall. Sie hat Flügel, aber auch Räder, auf denen sie immer schneller rollt, bis sie abhebt. Aber ich kann Eure Zweifel verstehen: Fast alles, was Menschen erfunden haben, galt einmal als unmöglich.“

Der Künstler schenkte sich noch etwas Wein ein. Dann atmete er hörbar aus und lehnte sich zurück: „Vergiss meine Fragen und erzähl weiter!“

1986 Ich stand neben mir, also neben dem Maximilian des Jahres 1986, und sprach mich an: „Na, schon in Urlaubslaune? Sag mal, kennst du dich hier aus?“

Mein jüngeres Ich blickte mich fragend an. Ich sprach weiter: „Ja, ich habe gerade die Uni gewechselt und noch überhaupt keine Ahnung, wo‘s langgeht.“

„Was studierst du denn?“, fragte mein jüngeres Ego.

„Sonderpädagogik“, sagte ich, „übrigens: Ich heiße Christoph!“ „Ich bin Max. Na, da hast du ja wirklich Glück gehabt, ich studiere nämlich den gleichen Quatsch.“

Ich fing an, mir die Vor- und Nachteile des Frankfurter Fachbereichs zu erklären, und ich hatte Zeit, mich in Ruhe anzuschauen. Max als Studienanfänger. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie sehr sich Menschen verändern. Der hochaufgeschossene Jüngling, der da mit kieksiger Stimme auf mich einredete, war ich und war doch nicht ich. Dem da fehlte so viel an Erfahrung, an Reife und an Gelassenheit. Ein typischer Student. Ich war enttäuscht.

Mein 21-jähriges Ich entpuppte sich als unangenehmer Kerl, mit dem ich bestimmt keine Freundschaft geschlossen hätte: zutiefst von sich überzeugt, schnoddrig, unreflektiert, aber vollgestopft mit altklugen Sprüchen. Die dünnen Härchen am Kinn und die schulterlangen Haare wirkten vernachlässigt, und die Hände zuckten die ganze Zeit nervös zur Seite, als wollten sie etwas greifen. Kein Wunder, dass ich damals so oft Krach mit meinem Vater hatte, durchfuhr es mich. Ich war zwar während meines Zivildienstes in Kassel von zu Hause ausgezogen, dann aber wieder zurückgekehrt.

Nach dem Seminar gingen wir zusammen ins „Piccolo Giardino“, ein kleines italienisches Restaurant im Nordend, und ich fragte mich nach meinen Zukunftsplänen: „Willst du später ernsthaft als Sonderschullehrer arbeiten?“

Max, der jüngere, zögerte einen Moment, dann sagte er: „Keine Ahnung. Ich mache erst mein Studium fertig, dann gucke ich weiter.“

„Das klingt ja sehr begeistert“, sagte ich.

Er spielte mit dem Salzstreuer, in dem kleine Reiskörner wie Fische im Aquarium schwammen, und zuckte mit den Schultern: „Na, findest du diese Jugendlichen in den Schulbänken etwa toll?“

„Nein, deswegen werde ich auch zum nächsten Semester das Fach wechseln. Ich werde mit Altphilologie weitermachen!“

„Aha!“ Er grinste mich spöttisch an: „Meinst du nicht, dass du in deinem Alter mal langsam einen Abschluss machen solltest?“

Ich knurrte nur, weil mir in diesem Augenblick klar wurde, dass es mir niemals gelingen würde, mich in der Gestalt eines 35-Jährigen von einem Studienfachwechsel zu überzeugen. Ich erinnerte mich daran, wie kritisch ich damals gegenüber Bummelstudenten gewesen war, die fünfmal mit einem neuen Fach anfangen und dann nach dem Examen direkt die Rente beantragen.

Also versuchte ich einen anderen Weg: „Kennst du Lukian?“

„Nee, nie gehört! Wer soll das denn sein?“

Ich schlug die Beine übereinander: „Das ist ein Kabarettist und Schriftsteller aus dem zweiten Jahrhundert, dessen Karriere mit einem Traum anfing, den er als junger Mann hatte. Er wollte unbedingt Anwalt und Redner werden. Und es gab nur einen ernsthaften Hinderungsgrund: Lukian lebte in Samosata am Euphrat, also in Syrien, die Weltsprache der damaligen Zeit war aber Griechisch. Doch er wusste, dass man, wenn man eine Vision für sein Leben hat, groß denken muss. Also setzte er sich hin und studierte monatelang bei verschiedenen Lehrern Griechisch, bis er die fremde Sprache fließend sprechen und schreiben konnte. Und dann zog er los und fing an, seinen Traum zu leben.“

Max wirkte genervt: „Ja und?“

„Du meinst, warum ich dir das erzähle? Weil mich der Typ fasziniert. Weil er einer war, der wusste, was er wollte. Und dafür war ihm kein Weg zu mühsam und kein Hindernis zu groß. Ich glaube, dass ich jetzt in meinem Studium auch endlich an dem Punkt bin, an dem ich weiß, welchen Traum ich habe. Und ich bin jetzt auch bereit, was dafür zu investieren. Ich habe zu lange alles mit halbem Herzen gemacht, jetzt fang ich an.“ Ich machte eine Pause, dann blickte ich ihm direkt in die Augen: „Weißt du, was du willst?“

Er wich meinem Blick aus. „Keine Ahnung! Meinst du, ich soll Griechisch lernen, oder was? Das hat mir schon an der Schule gereicht.“

„Na ja, es gibt sicher Schlimmeres. Eines ist jedenfalls sicher: Wenn dich das Unterrichten jetzt schon ankotzt, dann wäre es ja wohl das Sinnloseste, die nächsten 30 Jahre damit zu verbringen.“

Mein jüngeres Ich schaute mich genervt an. „Und was hat dieser Lukian davon gehabt? Heute kennt ihn keiner mehr!“

„Na, immer langsam! Ich bin ziemlich sicher, dass er ein sehr zufriedener Mensch war. Und es ist ja nicht übel, nach 1800 Jahren immer noch gedruckt zu werden. Das können nur wenige von sich sagen. Außerdem hat Lukian eine Menge anderer Dichter und Denker inspiriert. Goethe hat sogar die Geschichte vom Zauberlehrling von ihm geklaut. Ich jedenfalls gehe fest davon aus, dass ich als Altphilologe mehr über das Leben lerne als in der Sonderpädagogik.“

Irgendwie wusste ich nicht weiter. Ich kam mir dumm vor. Ich saß da und versuchte, mich selbst von etwas zu überzeugen, von dem ich als 35-Jähriger gar nicht mehr überzeugt war. Und doch musste ich mich vor einem Beruf retten, der mich ruiniert hätte.

Ich starrte auf meinen Teller, stocherte lustlos in meinen „Fettucine a la panna“, grübelte vor mich hin und suchte nach Argumenten. Max sah mich nachdenklich an. Als ich mit dem Blick dem Weinglas folgte, das er zum Mund führte, bemerkte ich, wie sich der geblümte Vorhang vor dem Windfang bewegte und eine Gruppe gut gelaunter Studentinnen aus der Kälte hereinkam. Die ersten beiden setzten sofort ihre Brillen ab, die in dem stickigen Raum beschlugen, und blickten mit großen Augen in den Raum. Die dritte strich sich genüsslich die Haare aus dem Gesicht und gab ihrer Freundin eine flapsige Antwort auf etwas, das diese gesagt hatte. Es war Verena.

Verena, die Wilde, die Verrückte, die einzige Liebe meiner Studentenzeit. Verena, die Frau, die immer in der Angst lebte, etwas zu versäumen. Sie war es, die mir beigebracht hatte, Dinge um ihrer selbst willen zu tun: Tanzen, Singen und Spazierengehen, Weinen oder Streiten. Wir hatten drei wundervolle Jahre miteinander verbracht, in denen ich angefangen hatte, das Leben zu lieben. Als sie dann nach Hamburg gezogen war, um ihr Studium zu beenden, führten wir noch eine Zeit lang eine Wochenendbeziehung.

Doch es ging uns wie so vielen. Da wir uns nur selten sahen, hatten wir keine gemeinsame Geschichte mehr. Wenn wir jetzt Zeit miteinander verbrachten, drehten wir uns nur noch umeinander und verloren dabei den Alltag völlig aus dem Blick. Nach den Wochenenden kehrte jeder in eine dem anderen unbekannte Welt zurück. Trotzdem hätte unsere Beziehung vielleicht überlebt, wenn ich sie nicht mit meiner Eifersucht kaputt gemacht hätte. Verena hasste es nämlich, kontrolliert zu werden, und ich hasste es, wenn sie immer wieder von Kommilitonen erzählte, mit denen sie ausgegangen war. Einmal hatte ich in meiner Wut und Ohnmacht, als sie mir am Telefon von einer „tollen“ Party mit „echt netten Männern“ erzählte, ein Stück aus dem Glas gebissen, das ich gerade in der Hand hielt.

Ich glaube nicht, dass sie mich jemals betrogen hat, aber es reizte sie so sehr, mein Vertrauen auf die Probe zu stellen, dass sie in ihrem Übermut immer verfänglichere Situationen herbeiführte. Je eifersüchtiger ich wurde, desto herausfordernder lebte sie: Sie ging ständig mit Studienkollegen in die Sauna, ließ nach langen Lernabenden Freunde bei sich übernachten, berichtete stolz, welche Männer an ihr interessiert seien und betonte bei all dem, dass sie doch wohl nicht mein Eigentum sei.

Für sie war das alles ein amüsantes, reizvolles Spiel, aber sie beendete es nicht, solange sie die Spielregeln noch kontrollieren konnte. Und ich Idiot war so eifersüchtig, dass ich anfing, ihr Verbote zu erteilen; was sie natürlich nur noch mehr reizte und anstachelte. In meiner Hilflosigkeit und Verzweiflung verlor ich wohl all die Eigenschaften, die Verena jemals an mir geliebt hatte. Und als wir uns trennten – das dachte ich damals jedenfalls –, wollte keiner von uns beiden, dass es passierte. Aber wir hatten uns zu sehr herausgefordert.

 

Später heiratete sie einen Mediziner, der vor ihrer Scheidung mehrfach fremd ging. Ich schäme mich noch heute dafür, dass mir diese Entwicklung eine innere Genugtuung bereitete. Aber das sollte ja alles erst sehr viel später kommen.

Jetzt war die 20-jährige Verena im Raum, und mir fiel wieder ein, dass ich ihr an diesem Abend das erste Mal begegnet war, am 14. Januar 1986. Ich konnte mir das Datum damals gut merken, weil es einen Monat vor dem Valentinstag lag.

Spontan rief ich: „Hallo, Verena!“

Sie sah mich irritiert an, und erst da wurde mir bewusst, dass ich für sie ein völlig Unbekannter war. Einer, der plötzlich die Anonymität aufbrach. Sie winkte unsicher zurück, und man konnte ihr ansehen, dass sie verzweifelt versuchte, mich einzuordnen, diesen 35-jährigen Kerl, der so vertraut tat. Es war für sie offensichtlich einer dieser grauenhaften Momente, in denen man sich nicht blamieren will, obwohl man mit dem fröhlich grüßenden Gegenüber nichts, aber auch überhaupt nichts anfangen kann. Sie zögerte.

Ich aber wusste plötzlich, dass ich jetzt etwas tun musste, weil sonst mein 21-jähriges Ich niemals die Bekanntschaft dieser Prachtfrau machen würde. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, mir etwas Gutes zu tun. Nein, ich musste sogar die Initiative ergreifen, wenn mein Leben nicht völlig anders verlaufen sollte, als ich es kannte.

Weil Verena immer noch unschlüssig zwischen unserem Tisch und ihrer Clique hin- und herblickte, winkte ich sie herüber. Sie flüsterte ihren Freundinnen etwas zu und kam dann an unseren Tisch.

„Sei nicht böse, aber ich kann mich im Augenblick gar nicht erinnern, woher ich dich kenne!“

Ich lachte: „Du kennst mich auch nicht, aber jedes Mal, wenn eine schöne Frau den Raum betritt, rufe ich ‚Hallo, Verena‘, und nach 144 Versuchen hat es endlich geklappt. Du ahnst gar nicht, wie selten der Name Verena ist.“

Sie strich irritiert ihre Haare aus der Stirn: „Erzähl keinen Mist. Also, woher kennen wir uns?“

„Ich sage es dir, wenn du dich zu uns setzt.“

Die Neugier siegte. „Aber nur einen kurzen Moment, ich bin ja nicht allein hier.“

Sie nickte in Richtung ihrer Freundinnen, hängte ihre Handtasche über die Stuhllehne, und dann saß sie bei uns, Verena, die Kantige, die Frau mit den lachenden Augen und dem wissbegierigen Blick. Die Schöne mit den geschwungenen Augenbrauen, in deren Zügen sich noch Spuren ihrer tschechischen Vorfahren fanden. Ich war verzaubert. Meine Nase erkannte ihr Parfum wieder und verliebte sich sofort.

„Ich bin Christoph, das ist Maximilian.“

Sie stutzte: „Seid ihr Brüder?“

„Nein, wieso?“

„Ihr seht euch irgendwie ähnlich.“

Maximilian lachte, und ich verzog den Mund zu einem bübischen Lächeln: „Um es mit einem alten Indianersprichwort auszudrücken: ‚In unsern Adern fließt das gleiche Blut.‘“

„Ach“, sagte Max, „das wusste ich ja noch gar nicht!“

Verena blickte sich um. „Also, Christoph, auch jetzt, wo ich deinen Namen weiß, fällt mir nicht ein, wann und wo wir uns schon einmal gesehen haben.“

Ich strahlte: „Du hast mich noch nicht gesehen. Ich dich schon!“

Sie feixte und ließ zwei kleine Grübchen auf ihren Wangen blitzen. „Ach, bist du ein Spanner?“

„Nein, ich bin … na, sagen wir mal, ein Prophet, ein Hellseher, ein Wahrsager oder so etwas Ähnliches.“

„Komisch!“, sagte Maximilian, „ich dachte, du studierst Altphilologie!“

„Noch nicht, das war doch auch eine Prophezeihung. Ich kann übrigens genauso gut in die Gegenwart sehen. So wie ich Verena auf die Nase zusagen kann, dass ihre Schwester Anja heißt, sie am Palmengarten wohnt und ihr Vater Projektleiter bei der GTZ, der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, ist.“

Verena zog die Stirn in Falten. „Machst du hier einen auf Privatdetektiv?“

Ich öffnete vielsagend die Hände. „Na, Philipp Marlowe würde wahrscheinlich nur schwer herausbekommen, dass du am liebsten Käsespätzle isst, dass du dieses Jahr nach Korsika fahren willst, und schon gar nicht, dass du es hasst, wenn man dich am Hals küsst.“

Jetzt wurde sie blass. Sie warf einen unsicheren Blick zu ihren Freundinnen, die aber untereinander ins Gespräch vertieft waren. Alles an ihr strahlte Verwirrung aus, als wüssten ihre Gedanken nicht, in welche Richtung sie gehen dürften.

Ich genoss es, mit ihr spielen zu können.

Langsam fasste sie sich. „Augenblick mal, welche Schuhgröße habe ich, und wie heißt unser Hund?“ Sie zog instinktiv ihre Beine zurück, um ihre Füße zu verbergen.

Ich spielte lässig mit der Serviette. „Du hast Größe 36, und euer Hund heißt Saphir, aber alle nennen ihn Schnuff. Dass er Saphir heißt, weil dein Vater deiner Mutter zum Hochzeitstag die Wahl zwischen einem Hund und einem Saphirring ließ, soll niemand erfahren, weil deine Mutter Angst hat, dass jemand sie auslacht.“

Max kniff die Augen zusammen. „Sagt mal, was geht hier eigentlich vor? Habt ihr beiden euch vorgenommen, mich zu verarschen, oder was?“

Verena schüttelte den Kopf. „Das Gleiche wollte ich auch gerade sagen. Da ist doch irgendein Trick dabei.“

Max hob theatralisch die Hand. „Also, ich habe damit nichts zu tun, ich kenne Christoph selbst erst seit heute Mittag. Nebenbei: Könntest du über mich auch so viel erzählen?“

Ich lachte. „Oh, noch viel mehr.“

Ich hatte das Gefühl, dass ich meinem Ziel näher kam. Wenn Verena und Max mich als gemeinsamen Gegner empfanden, war das eine gute Ausgangsposition. Eben noch waren sie sich fremd gewesen, jetzt überlegten sie schon zusammen, worin mein Geheimnis bestand. Sich selbst zu verkuppeln, ist eine schöne Aufgabe.

Ich musste schlucken, weil mir einige der vielen wundervollen Momente einfielen, die die beiden zusammen erleben würden: der erste Kuss auf dem Eisernen Steg, der gemeinsame Korsika-Urlaub auf dem kleinen Campingplatz in dem hoch gelegenen Edelkastanienhain, die Bouillabaisse am Hafen von Ajaccio, die Spaziergänge durch den Grüneburgpark, der Moment, als im Stadtbad Mitte Verenas Glitzerbikini-Oberteil beim Sprung vom Dreimeterbrett riss, sie es nicht bemerkte und, als sie aus dem Becken stieg, nur fragte: „Warum guckt ihr alle so komisch?“, der gemeinsam aufgezogene Igel, der schon ganz steif auf der Terrasse gelegen hatte, oder die zärtlichen Treffen im Gartenhäuschen. Für einen kurzen Moment wurde ich auf mich selbst eifersüchtig.

Während meiner romantischen Gedanken hatte ich an Verena vorbei gesehen. Das war ein Fehler gewesen. Offensichtlich interpretierte sie mein Schweigen falsch. Sie blitzte mich an und sprang wütend auf: „Ich weiß nicht, woher ihr das alles wisst und mit welcher neuen Masche ihr zwei komischen Typen jetzt die Frauen anmacht, aber es ist eine wirklich miese Tour. Habt ihr schon mal etwas von Datenschutz gehört? Hör auf zu grinsen, Christoph, oder wie du wirklich heißt.

Was meinst du: Wie würdest du dich fühlen, wenn plötzlich jemand vor dir stünde, der dir dein ganzes Leben erzählt? Der so tut, als gäbe es keine Geheimnisse mehr. Als wüsste jeder, was du tust und treibst. Kann sein, dass ihr so etwas toll findet, mich widert ihr nur an! Kann auch sein, dass ihr andere Frauen damit ins Bett bekommt, mich garantiert nicht. Egal, wie ihr an die Informationen gekommen seid, ihr habt kein Recht, mich so auszuspionieren.“

Ich konnte mich einfach nicht mehr erinnern, ob diese Situation, als ich sie das erste Mal erlebt hatte, auch so abgelaufen war. Verenas Zorn, der alles kaputt zu machen drohte, wäre mir sicher in Erinnerung geblieben.