Hannibal Mayer - Der Zug der Elefanten

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August 2005 - Südafrika
8. August 2005

Afrika. Der zweitgrößte Kontinent der Erde - nach Asien. Dreißig Millionen Quadratkilometer Landfläche mit fast einer Milliarde Einwohnern. Und mit fünfhunderttausend Elefanten. Eine Welt für sich. Ein Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen, Religionen und Ideale.Wüste, Regenwald, Savanne und Vulkane. Und ich sitze in elftausend Metern Höhe im Nachtflug von Frankfurt nach Johannesburg. 22.40 Uhr von Rhein-Main. Fensterplatz. 21K.Vor mir Hühnchen mit Reis. Sieht aber genauso aus wie das Steak meines Sitznachbarn.

Der Himmel ist wolkenlos. Eine unglaubliche Aussicht. Hin und wieder tauchen zwischen den dunklen Flächen Lichter auf. Manchmal nur ein Punkt, manchmal ein Band oder ein ganzes Meer - Zeichen einer Siedlung oder einer Stadt. Ich stelle mir vor, dass jedes dieser Lichter für eine Familie oder einen einzelnen Menschen steht, der da sein Leben möglichst sinnvoll gestalten will. Da unten, da tobt die nackte Existenz, da spielen sich in diesem Moment Schicksale, vielleicht sogar Dramen, ab. Mehr, als ein Schriftsteller je beschreiben oder erdenken könnte.

Unter mir wird gerade geliebt und gehasst, gibt es Hunger und Völlerei, Angst und Hoffnung,Verzweiflung und tiefen Frieden. In dieser Nacht schlafen überall in diesen Hütten und Palästen Frauen mit ihren Männern. Einige werden dabei leidenschaftliche Erfüllung erfahren, andere nur ihre Pflicht tun - und einige den HIV-Erreger übertragen bekommen, diese heimtückischste Geißel des schwarzen Erdteils. Die Lebenserwartung in Afrika liegt bei siebenundvierzig Jahren. Ohne Aids wären es zweiundsechzig.

Vom nördlichsten Punkt des Kontinents, dem Cape Blanc in Tunesien, bis zum Cape Agulhas in Südafrika sind es knapp achttausend Kilometer - eine Strecke, die ich mit der Boing 747 in knapp zehn Stunden hinter mich bringe. In dieser Zeit schaue ich sprachlos hinunter und frage mich, wie jemand ernsthaft eine Hollywood-Komödie im Bordprogramm anschauen kann, wenn unter uns all diese viel aufregenderen Geschichten zu erahnen sind.

Gegen 6.00 Uhr werde ich dann doch müde. Und fange an zu grübeln.Warum sitze ich hier eigentlich? Ich liebe Afrika. Ja.Aber ist Hannibals Vorhaben nicht einfach ein Irrsinn? Worauf lasse ich mich da ein? Die Strecke, die ich gerade in einer Nacht hinter mich bringe, soll ich ernsthaft auf dem Rücken eines Elefanten zurücklegen - über Monate?

Zwei Wochen zuvor hatte mich der Abenteurer nachts aus dem Bett geklingelt. Gegen 2.00 Uhr morgens.

24. Juli 2005

»Hallo, hier ist Hannibal.Wie geht es dir?«

Ich war ganz sicher, dass wir uns im Opel-Zoo nicht geduzt hat-ten, aber er sprach mich so selbstverständlich mit ›Du‹ an, dass ich einfach darauf einging.

»Hannibal?«

»Ja, Fabian, der mit den Elefanten. Du wirst dich doch an mich erinnern, oder?«

Ich stotterte ein wenig: »Klar. Der Reiher mit den roten Füßen. Die Träume. Die weißen Löwen.«

»Genau. Jetzt ist es so weit. Du kannst kommen.«

»Kommen? Wohin?«

Das kräftige Lachen aus dem Telefonhörer weckte mich endgültig auf. »Na, nach Südafrika. Ich rufe gerade aus Pretoria an.«

»Aus Pretoria?«

»Ja. Die Träume wollten nicht aufhören, da bin ich hierhergeflogen. Und habe tatsächlich Bongani gefunden.War nicht ganz einfach. Aber das erzähle ich dir, wenn du da bist. Jetzt habe ich hier ein halbes Jahr mit den Behörden rumgezackert - und heute konnte ich die offizielle Genehmigung abholen. Stell dir vor: Ich darf hundert Elefanten aus dem Krügerpark aussiedeln und nach Deutschland bringen. Irre, oder?«

Ich war noch völlig verschlafen. »Ja, klingt super. Und warum rufst du mich jetzt genau an?«

Man mag über Hannibal Mayer denken, was man will, aber seine sonore, fröhliche Stimme war zu allen Zeiten unglaublich motivierend. »Fabian, du wolltest doch Pressearbeit für unsere Afrika-Tour machen. Hier wirst du gebraucht. Das hier ist ein Job, der nur auf dich gewartet hat. Und ich weiß ja, dass du in Frankfurt zurzeit ohnehin nicht besonders glücklich bist.«

Ich schluckte nur, sagte aber nichts. Er konnte nicht wissen, wie es um mich stand - dass ich aus meiner Krise, die sich immer mehr als handfeste Midlife-Crisis entpuppte, nicht herausgekommen war. Dass sich eine kurze neue Beziehung zu einem echten Desaster entwickelte, weil die Frau mich nur benutzte, um ihrem zunehmend desinteressierten Ehemann eins auszuwischen. Und dass ich im Augenblick von kleinen Aufträgen und unbefriedi genden Schreibjobs lebte.

»Sag mir einfach, wann du kommst. Ich hole dich dann am Flughafen in Johannesburg ab. Am besten nimmst du einen Direktflug von Frankfurt. Dieses nächtliche Rumgehänge in Dubai ist ziemlich nervig. Pass auf, ich gebe dir mal die Nummer, unter der ich hier zu erreichen bin.«

Ich war so perplex, dass ich wortlos mitschrieb.

»Du wirst sicher ein paar Tage brauchen, bis du alles organisiert hast. Ich finde es übrigens echt klasse, dass du dabei bist. Tschüss. Ach, bring doch bitte ein paar Frankfurter Würstchen mit. So etwas kriegt man hier so schlecht. Bye.«

Er legte auf. Und ich stand ratlos im Schlafanzug im Flur. Das war doch nicht möglich: Hannibal hatte nicht einen Moment damit gerechnet, dass ich Nein sagen würde. Für ihn war klar, dass mir nichts Besseres passieren konnte, als mit ihm quer durch Afrika zu reiten. Auf dem Rücken eines Elefanten. Ich ahnte damals noch nicht, wie recht er hatte.

In dieser Nacht entschied ich, dass ich meine Zusage davon abhängig machen würde, ob es mir am nächsten Tag gelang, einen Chefredakteur zu finden, in dessen Auftrag ich die Reise antreten konnte. Manchmal entwickle ich solche abergläubischen Rituale: Falls die Ampel grün ist, wenn ich hinkomme, wird es ein guter Tag. Wenn das Telefon in den nächsten zehn Minuten klingelt, dann kriege ich diesen oder jenen Job.Wenn die Frau am Nachbartisch mich vor dem Ende meines Biers anlächelt, spreche ich sie an. Und diesmal sollte eben ein Kontakt zu einem Magazin entscheiden.

Ich weiß, dass das albern ist und dass man sich als Erwachsener vor wichtigen Entscheidungen nicht derart kindisch drücken sollte. Aber vielleicht sind solche kleinen Verabredungen ja auch eine Möglichkeit für irgendwelche höheren Mächte, uns ein Zeichen zu geben.

25. Juli 2005

Als ich am nächsten Tag Peter-Matthias Gaede, den Chefre dakteur von GEO, anrief, hatte ich ihn sofort selbst an der Strippe, weil seine Sekretärin krank war. Das fing also schon richtig gut an. Ich erzählte PeM (wie er bei Journalisten heißt) kurz von Hannibal Mayer, von dessen ungewöhnlichen Plänen und von der Idee, eine Reihe von flankierenden Reportagen zu schreiben, die die Leserinnen und Leser quasi auf die Tour mitnehmen würden. Ich versuchte dabei, das Projekt möglichst nüchtern und sachlich zu schildern.

Seine Reaktion war fantastisch, ja, die Stimme überschlug sich fast an meinem Ohr. »Stark, lieber Herr Vogt, ganz starke Idee. Afrika aus der Elefantenperspektive.Wir machen da eine tolle Serie draus. Ein bisschen was über die Länder und ganz viel Abenteuer. Schreiben Sie eine Safari-Story mit viel Human Touch. Ich brauche das Menschliche.Wie erleben die afrikanischen Völker die Elefantenkarawane? Wie fühlt sich der Hintern nach zehn Stunden Elefantenritt an? Und was bewegt diesen durchgeknallten Typen Hannibal? Sind Sie noch dran, mein Lieber? Gut. Also, die Sache läuft. Aber ich will das in Deutschland exklusiv. Sie schreiben nur für uns.

In Ordnung? Klären Sie das mit diesem Kerl ab. Und sagen Sie ihm, dass wir die Geschichte dafür ganz groß rausbringen.«

Ich gab ein halbwegs zustimmendes Geräusch von mir, weil ich überhaupt keine Ahnung hatte, wen Hannibal noch zu seinem grandiosen Abenteuer eingeladen hatte. Aber einen Tag später lag ein Vertrag in meinem Briefkasten - mit einem Flugschein nach Südafrika. Einem One-Way-Ticket. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass GEO mir als Erstes in den Rücken fallen würde. Aber dazu später.

9. August 2005

Ich landete am frühen Morgen auf dem Johannesburg International Airport. Müde und zugleich aufgedreht. Ich wollte die vielen Eindrücke des Landes in mich einsaugen, aber über der Stadt lag ein dünner Wolkenschleier, der schon aus der Luft die Industrieregion Gauteng wie ein Zauberland hatte aussehen lassen. Und natürlich hatte ich in all der Aufregung beim Packen nicht realisiert, dass in Südafrika im August tiefster Winter herrscht. Ich war viel zu dünn angezogen und fror schon am Gepäckband.

Dennoch verspürte ich, während ich auf meine Koffer wartete, wieder einmal den Kitzel, der sich immer meldet, wenn ich ein unbekanntes Land betrete. Die Freude über das Fremde. Die Lust auf neue Erfahrungen: Die Werbung an den Wänden war anders als in Deutschland. Die Reisenden trugen bunte Kleidung mit wilden, afrikanischen Mustern. Die Musik aus den Lautsprechern erzählte andere Geschichten als in Europa. Und an den Wänden prangten großformatige Bilder der »Big Five«, der fünf für Südafrika so charakteristischen Tiergattungen: Löwe, Büffel, Leopard, Nashorn - und natürlich: Elefant. Meine Blicke saugten sich an dem riesigen Schädel geradezu fest. Mit solchen Giganten würde ich mich auf den Weg machen. Unfassbar.

Dann kamen der rote Samsonite und mein Rucksack.

Hinter den Zollschaltern stand Hannibal. Er winkte mir mit einem breiten Grinsen zu und lief mir entgegen. »Fabian.« An seiner Seite ein fast zwei Meter großer Schwarzer, der mich sofort lachend in den Arm nahm.

 

»Fabian.Willkommen in Südafrika.Wie schön, Hannibals Freund kennenzulernen.«4

Freund?

»Bongani?«

»Ja. Ich bin Bongani.Tshwane hat mir schon viel von dir erzählt. Ich freue mich, dass du mit dabei bist.«

Hannibal nahm mir die Koffer ab. »Lass uns erst einmal ins Hotel fahren. Da kannst du dich ein bisschen frisch machen - und dann berichten wir dir bei einem guten Frühstück, was wir schon alles erlebt haben.«

Ich lief neben den beiden her und überlegte, welche Fragen ich stellen musste. Es gab so unendlich viel zu klären. Ich wusste zum Beispiel immer noch nicht genau, welche Rolle ich bei dieser Tour spielen sollte.Wie groß war das Team für die Öffentlichkeitsar beit? Würde ich mit Satelliten-Telefon arbeiten? Welche PR-Kontakte bestanden schon? Doch ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. Denn auf dem Dach des bewachten Parkplatzes, genau über dem Wagen von Hannibal, standen zwei Reiher auf der Wellblech-Überdachung. So, als warteten sie auf uns.

Zwei Stunden später saßen wir in der mit rotem Samt ausgekleideten Lounge des Diplomat Guesthouse in der Arcadia Street in Pretoria - mit Blick auf eine malerische Straße, die mit Jacaranda-Bäumen gesäumt war. Und dann erzählte mir Bongani erst einmal sein Leben. Entspannt, mitreißend und unfassbar aufwühlend.

Kurz nachdem Hannibal den Krügerpark verlassen hatte, musste auch die Familie des Schwarzen gehen. Bonganis Vater wurde damals verdächtigt, im Auftrag des African National Congress (ANC) gegen die weiße Apartheidsregierung zu konspirieren. Man konnte ihm zwar nichts nachweisen, deportierte aber die ganze Familie in das Homeland Lebowa, in dem schon damals mehr als eine Million Angehörige der Volksgruppe Pedi lebten.

Der perfide Plan der Weißen, die schwarze Bevölkerung in abgegrenzte Reservate abzuschieben, sie dadurch nach und nach zu zersplittern und im Staat Südafrika zu Fremden zu erklären, schien aufzugehen. Plötzlich waren die Schwarzen Ausländer in ihrem eigenen Land und wurden juristisch auch so behandelt. Insgesamt 3,5 Millionen Schwarze siedelte die Regierung zwischen 1960 und 1985 um, bis schließlich mehr als zwei Drittel der ursprünglichen Bevölkerung in »Bantustan« wohnten - wie die weißen Südafrikaner die Homelands gehässig nannten. Diese Ghettos sollten die Rassentrennung auch territorial besiegeln, obwohl sie ökonomisch und militärisch vollständig von Südafrika abhängig blieben.

Bonganis Familie lebte einige Jahre in Lebowakgomo, der Hauptstadt von Lebowa, wo der Vater Arbeit in einer Behörde bekam, die versuchte, die Selbstverwaltung zu gestalten, die dem Homeland am 2. Oktober 1972 angeblich eingeräumt wurde. Bongani selbst musste schon wenig später die Schule verlassen, um seine Familie finanziell zu unterstützen. Er fing an, in einem Krankenhaus zu arbeiten, blieb dort fast siebzehn Jahre - und erlebte hautnah mit, wie das Ende der Apartheid die Lebensentwürfe von Millionen Menschen veränderte. Der hochgeschossene Schwarze war zweiunddreißig Jahre alt, als Nelson Mandela und die anderen Führer des ANC freigelassen wurden, und sechsunddreißig, als am 27.April 1994 Lebowa zusammen mit den neun anderen Homelands wieder mit Südafrika vereinigt wurde.

Als Bongani mir beschrieb, wie sie damals nächtelang feierten und tanzten, immer wieder die bislang verbotene Hymne »Nkosi Sikelele Afrika« (Gott segne Afrika) sangen und die neue Flagge mit dem Regenbogen schwenkten, kamen ihm die Tränen. »Es war, als finge unser Leben jetzt erst an.Wer den Schritt von der Unfreiheit in die Freiheit nie erlebt hat, der weiß nicht, was es bedeutet, frei zu sein. Nicht mehr unterdrückt, nicht mehr gedemütigt, nicht mehr voller Ängste und Zweifel. Frei. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das war wie eine Bekehrung.«

Wenig später wurde Mandela als erster schwarzer Präsident des »Neuen Südafrika« vereidigt. Und Bongani verließ das ehemalige Homeland sofort, um die ungewohnte Freiheit auszukosten. Nacheinander arbeitete er in sehr verschiedenen Jobs - überall im Land: Er wurde zuerst Aquarienpfleger im frisch eröffneten Waterfront Two Oceans Aquarium in Kapstadt und tauchte dort täglich in den Bassins umher, um die Scheiben von innen zu reinigen. Und wie nicht anders zu erwarten: Er fand in der Anlage schnell einen ungewöhnlich intensiven Kontakt zu den Robben und Seelöwen und träumte schon von einer dauerhaften Anstellung als Pfleger. Doch dann verliebte sich die Freundin seines Vorgesetzten in ihn, wartete mehrfach halbnackt in der Männerumkleide auf ihn und war sehr beleidigt, als Bongani ihrem prallen Po nicht verfiel. Kurz darauf wurde er entlassen.

Danach führte der Schwarze einige Jahre lang Touristen durch Bloemfontein, installierte goldfarbene Satellitenschüsseln, verkaufte Abonnements des Erotik-Magazins »Loslyf«, spielte einen aufsässigen Sklaven im Goldsucher-Freizeitpark Gold Reef City, pflegte die Gartenanlagen in Sun City, dem Las Vegas Südafrikas, und zog schließlich ganz nach Johannesburg, um dort in einem Heim für Aidswaisen zu arbeiten. Jedoch: Seine Frau Dana wurde 1998 auf offener Straße von einem aggressiven Zulu wegen eines Rings im Wert von sechzig Rand erschossen - und weil die beiden keine Kinder hatten, stand Bongani plötzlich wieder ganz allein da.

Da beschloss er, noch einmal alles auf eine Karte zu setzen, und fing mit vierzig Jahren an, das Abitur nachzumachen. »Sie haben mir meine Jugend gestohlen. Und ich wollte sie mir zurückholen.Verstehst du, Fabian?« Ich verstand ihn gut.

»Weißt du, eines habe ich begriffen: Jeder Mensch wird mit einer Aufgabe auf die Welt geschickt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott mir die Gabe des Elefantenflüsterns geschenkt hat, wenn ich sie nicht einsetzen soll. Darum wollte ich das Abitur nachmachen und Tiermedizin studieren.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wieso wollte?«

Bongani legte die Hände zusammen. Fast genüsslich. »Weil Shingwezi mich gerufen hat.«

»Dich auch?«

»Ja. Und jetzt habe ich endlich die Möglichkeit, meine Gabe einzusetzen. Lass uns gemeinsam diese Herde nach Deutschland führen und dort ein Wunder des 21. Jahrhunderts vollbringen: die Wiedereinbürgerung des Elefanten in Europa.«

Ich beugte mich vor: »Wie lange brauchst du noch für das Abitur?«

Der Schwarze zog die Augenbrauen verschmitzt hoch. »Ein Jahr, aber das ist jetzt egal. Ich kann in eurem Land arbeiten. Im Elefantengehege. Wozu brauche ich da eine Ausbildung?« Er schüttelte leicht den Kopf. »Die Träume, die wir nach dem Ende der Apartheid hatten, haben sich nicht erfüllt. Der Kampf zwischen Schwarz und Weiß geht weiter.Tausende sterben in diesem Land jedes Jahr aufgrund der Kriminalität. Und sieh dir unsere Häuser an: Das sind keine Häuser mehr, das sind Burgen, Festungen. Umgeben von hohen Mauern, Stacheldraht und Elektrozäunen. Ich kenne keine Familie, in der nicht schon jemand überfallen, ermordet oder verschleppt wurde. Euer Deutschland ist besser.Viel besser. Und dass Tshwane und ich noch einmal zusammen ein Abenteuer erleben würden, das wusste ich schon, als wir 1970 das Elefantenjunge Epila retteten.«

»Wie hast du Bongani eigentlich gefunden?«, fragte ich Hannibal. Der guckte seinen Freund an, riss sich ein Haar aus - und beide brachen in Lachen aus. »Du wirst es uns nicht glauben.«

Jeder wollte die Geschichte zuerst erzählen, dann aber ließ der Schwarze Hannibal glucksend den Vortritt. Der trank mir zu und fing mit leuchtenden Augen an: »Also:Als ich in Südafrika landete, hatte ich weder eine Adresse noch sonst irgendeine Ahnung, wo ich suchen sollte. Eine einheimische Detektei, die ich von Deutschland aus gebeten hatte, Bongani ausfindig zu machen, konnte mir zwar sagen, dass er kurze Zeit in Kapstadt ansässig gewesen war, dann aber hatte sich kein weiterer Hinweis ergeben …«

Bongani unterbrach ihn: »Die Reiher haben uns gefunden.«

Mein Ausatmen war so laut, dass ich selbst erschrak. »Die Reiher?«

Hannibal zuckte mit den Achseln. »Es klingt absurd. Und das ist es auch. Nachdem ich mehrere Tage vergeblich Adresslisten und Behörden abgegrast hatte, um Bongani zu finden, saß plötzlich wieder so ein Reiher vor meinem Fenster.«

Der Schwarze streckte den Kopf zur Seite. »Und vor meinem!«

Hannibal wirkte etwas genervt. »Ja, Bongani, lass mich doch einfach erzählen. Das Tier saß da also und ich hatte plötzlich den Eindruck, ich sollte mich in mein Auto setzen. Also fuhr ich los, dem Vogel nach, der etwa dreißig Meter über mir flog. Zumindest empfand ich es so.Allerdings fliegen die Viecher hier ja überall rum …«

Bongani atmete laut aus. »Und wieso war auch bei mir genau an diesem Morgen ein Reiher? Ich sage dir: Das war ein Zeichen.«

»Egal. Die Hauptsache ist, was dann passierte. Als ich im Süden aus Pretoria herauskam, sah ich plötzlich einen riesigen Würfel vor mir, einen bestimmt vierzig Meter hohen Granitklotz, der in der Sonne glitzerte. Ich fuhr neugierig darauf zu, und weil der Reiher dort landete, parkte ich den Wagen und ging näher. Es war das Voortrekker Monument. Kennst du das, Fabian?«

Ich verneinte.

»Pass auf, das Voortrekker Monument erinnert an den großen Treck der Buren in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Damals hatten die Engländer im Süden in der Kap-Region die Macht und unterdrückten die Buren immer mehr. Deshalb kam es zu einer Art Völkerwanderung der holländisch- und deutschstämmigen Siedler in das damals noch unerschlossene afrikanische Landesinnere. Diese sogenannten Voortrekker wollten eine eigene Gesellschaft etablieren und zogen deshalb mit Tausenden von Ochsenkarren in die Wildnis. Natürlich kam es dabei auch zu grausamen Kriegen mit den Einheimischen - vor allem mit den Zulu.Aber die Buren waren so viel besser ausgerüstet, dass sie am Ende wirklich eigene Republiken gründen konnten.«

Ich sah Hannibal erwartungsvoll an. »Ja und?«

»Was ›Ja und‹? Begreifst du nicht: ein Denkmal für einen großen Treck, der ein ganzes Land verändert hat. Männer, die 1835 bereit waren, sich auf eine große Expedition zu machen, weil sie einen Traum hatten: Hendrik Potgieter,Andries Pretorius und Piet Retief. Sie wagten das Unmögliche - und kamen an. Ein Denkmal für einen großen Traum. Ein ermutigendes Signal …«

Ich unterbrach ihn: »Und du meinst, dass das ein Zeichen ist, dass auch deine … äh, unsere Tour ankommt? Klingt das nicht ein bisschen sehr romantisch? ›Schaut her: Bald braucht ihr auch für uns ein Monument!‹«

Hannibal presste die Zähne zusammen. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob ihm mein ironischer Ton missfiel oder ob er ein fach so hingerissen von seinen eigenen Ideen war. Dann grinste er plötzlich.

»Ach, ihr Realisten, die ihr immer nur glaubt, was ihr logisch beweisen könnt. Ich kann das alles natürlich nicht erklären. Und ich weiß auch nicht, was diese ganze Geschichte mit den Rei hern bedeutet. Ich weiß nur eines: dass dort vor dem Voortrekker Monument plötzlich Bongani vor mir stand. Mit einer Gruppe von Kindern. Er hatte am Morgen kurzfristig beschlossen, mit eini gen der Aidswaisen, für die er verantwortlich war, einen Ausflug zu machen.«

Bongani nickte. »Wegen des Reihers vor dem Heim.«

Hannibal riss begeistert die Augen auf und fasste mich am Arm. »Ich war total verblüfft, Fabian. Einerseits glaubte ich ziemlich sicher, dass ich ihn wiedererkannte, andererseits hatten wir uns ja dreißig Jahre nicht gesehen. Und es wäre mir doch peinlich gewesen, einen Wildfremden anzusprechen. Da erinnerte ich mich … Bongani, lass mich bitte erzählen … Also, ich erinnerte mich an den Brunftschrei der Gnus, den Bongani mir damals im Krügerpark beigebracht hatte. Das war unser Erkennungszeichen gewesen - und wir hatten immer gewetteifert, wem von uns es zuerst gelingen würde, mal eine echte Gnukuh zu täuschen. Nun, du musst es dir bildlich vorstellen … Ich stelle mich also auf den großen Vorplatz des Voortrekker Monuments, hole tief Luft und lasse ein gewaltiges Röhren los. Uööööhh. «

Alle Gäste in der Lounge des Hotels zuckten schlagartig zusammen, als Hannibal mir exzessiv demonstrierte, wie er vor einem Jahr geblökt hatte. Doch ihm schien das nichts auszumachen.

»Ja, Fabian, das war ein tolles Gefühl. Uööööhh. Erst bot mir eine ängstlich dreinblickende Frau ihr Asthmaspray an - doch dann löste sich der große Schwarze aus der Kindergruppe, rannte mit offenen Armen auf mich zu und schrie: ›Tshwane!‹ Laut schallte mein Name über den Platz. Nicht nur einmal, immer wieder. Dann lagen wir uns minutenlang lachend in den Armen. Bis die Polizei kam.«

 

»Die Polizei?« Ich verstand ihn nicht.

Doch Hannibal war in seinen Gedanken wieder ganz bei ihrem Wiedersehen. Er sprach mit halb geschlossenen Augen, als sähe er die Szene noch einmal vor sich. »Ja, an diesem Tag war auch irgendein hochrangiger Vertreter Pretorias am Voortrekker Monument, um eine ausländische Delegation dort herumzuführen. Unser animalischer Lärm war den Bodyguards offensichtlich verdächtig - und sie schickten einige Beamte zu uns. Doch als wir ihnen die Situation erklärten - zwei Freunde treffen sich nach dreißig Jah ren wieder -, holten sie den Bürgermeister oder was das war und baten uns, ihm die Geschichte ebenfalls zu erzählen. Der Politiker war sehr gerührt und wollte mehrfach hören, wie wir uns umarmt hatten - ein Weißer und ein Schwarzer - und wie Bongani mich genannt hatte. ›Tshwane‹, sagte mein Freund immer wieder, ›Tshwane. Wir sind gleich. Den Namen hab ich ihm damals gegeben.‹ Und der Bürgermeister schien sehr nachdenklich, als er …«

Bongani konnte sich jetzt nicht mehr beherrschen. Er fasste Hannibal am Arm und fiel ihm ins Wort: »Und weißt du, was das Verrückteste an der ganzen Geschichte ist? Nein, kannst du auch nicht. Seit April dieses Jahres heißt Pretoria nicht mehr Pretoria, sondern offiziell Tshwane. Ja, echt.Tshwane. Glaub mir.«

Das Lächeln in seinem Gesicht wurde immer verschmitzter: »Vielleicht, wir wissen es natürlich nicht, aber es könnte sein, dass dieser ehrwürdige Mensch von der Stadt an jenem Tag die entscheidende Inspiration für die Namensgebung bekommen hat. Ich meine: In Südafrika gibt es offiziell elf Amtssprachen.Warum sollten sie gerade ein Wort aus der relativ kleinen Gruppe der Sotho sprechenden Stämme wählen? Ich persönlich bin überzeugt, dass die Hauptstadt Südafrikas jetzt nach Hannibal hier benannt ist - weil dieser Politiker unser Wiedersehen mitbekommen hat. Schwarz und Weiß umarmen sich vor einem Monument, das ja auch an die verheerenden Kriege zwischen den Siedlern und den Ureinwohnern erinnert. Du kannst es ruhig glauben: Hannibal und ich - wir sind ein einzigartiges Symbol für die Versöhnung geworden.«

Hannibal grinste wieder. »Und selbst wenn wir es uns nur einbilden, macht das nichts. Es ist eine schöne Geschichte.«

Ich stutzte. »Sag mal, Bongani. Du hast doch eben den Namen ›Hannibal‹ einwandfrei ausgesprochen. Ich dachte, das fiele dir so schwer. Und deshalb hättest du einen Sotho-Namen für ihn ausgesucht.«

»Sag es nicht«, flehte Hannibal. Aber Bongani lachte schon Tränen. »Die Familie Mayer hatte Vorfahren im Osten und Hannibal heißt mit vollem Namen Hannibal Ari Dragoslav Winfried Mayer. Ich glaube, wegen seiner Urgroßväter. Jedenfalls legte seine penible Mutter viel Wert auf diese Zweitnamen. Und das war mir dann doch zu kompliziert.«

Jetzt lachten wir alle drei.

Herzlich.

Als wir uns wieder beruhigt hatten, tranken wir noch einmal auf unser Unternehmen. Und Hannibal zwinkerte mir dabei verschwörerisch zu. Mehrfach. Dann lehnte er sich zurück und sagte: »Weißt du, was mich im Museum des Voortrekker Monuments am meisten fasziniert hat? Da liegt in einer der Vitrinen eine Heirats urkunde. Schön, oder? Eine junge Frau und ein junger Mann lernen sich auf dem gefährlichen und unbequemen Weg in die geheimnisvolle Steppe kennen, verlieben sich, treffen sich heimlich zwischen den Planwagen und beschließen, noch unterwegs zu heiraten. Warum sollte dir das nicht auch passieren? In Afrika ist alles möglich.«

An diesem Tag waren wir sehr entspannt. Und ich frage mich bis heute, ob diese scherzhafte Prophetie Hannibals der Grund dafür war, dass ich auf unserem Treck die Frauen besonders aufmerksam studierte. Und schließlich auch die Richtige fand.