Bube, Dame, König

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Lord Kilmarnok deutete auf ein schwach erleuchtetes Fenster im dritten Stock, auf dessen Vorhang sich das undeutliche Schattenspiel der Streitenden bewegte. Behutsam fragte er: »Was ist mit morgen früh?«

»Da gehe ich um fünf zum Fischmarkt nach Billingsgate. Ich nehme nicht an, dass ein Mann wie Ihr um diese Zeit auf den Beinen ist.«

Er zog den Hut: »Ich werde da sein!«

»Nein, das werdet Ihr nicht!« Drohend kamen diese Worte aus der Dunkelheit, so dass die beiden zusammenfuhren. Verwundert starrten sie in die Richtung, aus der sich, mit jedem Schritt deutlicher zu erkennen, Jizchak den beiden näherte. Der Jude grummelte etwas Unverständliches vor sich hin, dann mischte sich Erleichterung in seine hohe, enge Stimme: »Gott sei Dank! Isabelle, hier bist du. Wir haben uns unglaubliche Sorgen gemacht. Schascha hat uns gesagt, dass du allein mit diesem Wahnsinnigen unterwegs bist.«

Er hielt sich die Seite und atmete schwer: »Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, dass ich einfach davongerannt bin, um meine Sensationsgier zu befriedigen. Das war unüberlegt und egoistisch. Verzeih mir. Ich dachte, dass Philipp bei dir wäre. Jedenfalls sind wir alle erschrocken, als wir hörten, dass du mit … mit dem da … weggegangen bist.«

Der alte Mann baute sich vor Lord Kilmarnok auf und sah ihn drohend an. Da er ihm trotz des hochgereckten Kopfes nur bis zum Kinn ragte, musste die junge Frau unwillkürlich lächeln. Der Jude blitzte sie mit seinen Augen an: »Lach nicht. Dein Vater und Philipp ziehen auch durch die Straßen, um dich zu suchen. Wer weiß, was so einer wie der da mit dir anstellt?«

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hielt er seinen Arm mit dem verbundenen Streifschuss wie eine Trophäe hoch. Dann wurde sein Blick milder: »Nun gut, wie ich sehe, ist ja nichts passiert. Isabelle, Albrecht möchte nicht, dass du diesem Mann so viel über den König erzählst. Wer weiß, was er wirklich will. Und Ihr, Ihr schießwütiger ... Mensch: Lasst uns bitte in Ruhe. Ich bete zum Herrn, dass Eure Seele Frieden findet.«

Jizchak nahm Isabelle am Arm und zog sie mit sich. Nach einigen Schritten drehte die junge Frau noch einmal den Kopf und warf Frederik einen herausfordernden und zugleich fragenden Blick zu, in dem unbändige Lebenslust loderte. Als die beiden verschwunden waren, faltete Lord Kilmarnok seinen Schirm zusammen, hob den Kopf und ließ den kalten Regen auf sein zerschlagenes Auge laufen, das angefangen hatte zu pochen. Wäre Felix dort gewesen, er hätte gewusst, dass sein Herr soeben sein Herz verloren hatte.

III.

Madame hier, Madame da! Oh, es hat mir wirklich gut getan, sie zu verachten: Elisabeth Charlotte, das dicke Elend. In ihrer prallen Hilflosigkeit wurde sie mein größter Ansporn, mich weiterzuentwickeln. Denn wenn ich eines nicht sein wollte, dann so herausgeputzt verloren wie sie. Alles an ihr zeugte trotzig davon, dass ihr Leben eine einzige Enttäuschung war: die Ernüchterung über ihren homophilen Ehemann Philipp, den jüngeren Bruder des Sonnenkönigs, der sein Vermögen immer wieder aufs Spiel setzte und sie in eine desaströse Einsamkeit zwang, die Scham über den Verlust ihrer bodenständigen Heidelberger Heimat, die sie gegen die aufgeblasene Hülle des Pariser Hofes tauschen musste, die Verweigerung der vielen Pfunde, ihre ausladenden Hüften zu verlassen, und die frustrierende Erkenntnis, dass sich letztlich das ganze Leben als ein Spiel entpuppte, dessen Ausgang niemanden interessiert außer den Spieler selbst. Ich habe sie gehasst, und das hat mich stark gemacht. Positive Vorbilder sind wertlos, denn sie erzeugen nur billige Imitate – negative Bilder dagegen, markante Darstellungen des Unschönen, zwingen den Beobachter dazu, sich sein eigenes Profil zu erarbeiten. Vielen Dank, altes Ekel.

Wenn einer – wie diese Frau – nur noch die Enttäuschung kennt, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als sie zu kultivieren. Wer in seinem Leben keinen Sinn findet, erklärt das letzte bisschen Elend, das ihm bleibt, zum Sinn. Und so fing auch Madame an, ihre Desillusionierung, diese abgründige Entzauberung ihres Daseins, selbst zu verzaubern. Sie schmückte das Fiasko prächtig aus, setzte es auf einen goldenen Thron und huldigte ihm mit einer Hingabe, die sie möglicherweise einem wirklichen Daseinsgrund niemals hätte zuteil werden lassen. Erregt schwelg te die eitle Herzogin von Orleans im Kummer, huldigte ihrer Verbitterung frenetisch und zelebrierte ihr Leiden wie einen Gottesdienst: eine Priesterin der ekstatischen Verzweiflung. Ich habe sie beobachtet, forschend und ahnend, und ich glaube, dass ihr mein Wissen zuwider war, denn sie behandelte mich all die Jahre distanziert.

Andererseits: Zu wem war sie nicht distanziert? Weil ihr das reale Leben zwischen den Fingern zerrann, schrieb sie alles auf, was es festzuhalten gab. Ihre blumigen Briefe, die Briefe der Liselotte von der Pfalz, haben sie, wie ich vor kurzem hörte, inzwischen berühmt gemacht. Seltsam. Da ist es dieser frustrierten Kuh, die aus ihren sicherlich vorhandenen Talenten und Möglichkeiten nichts, aber auch überhaupt nichts gemacht hat, in einer ironischen Laune des Schicksals gelungen, ihr Versagen in ein sinnstiftendes Ziel zu verwandeln. Siebzig Jahre hat sie ihr Hass auf das Leben am Leben gehalten und ihr dabei geholfen, für andere zum Segen zu werden.

Der Graf von Montague, ein Verehrer meiner Mutter und ein Ehrenkavalier von Madame, führte uns am Pariser Hof ein. Und wie es häufig bei desillusionierten Menschen ist: Die Herzogin fand Gefallen an unserem Leiden. Sie verschaffte uns eine äußerst großzügige Wohnung in der Nähe des Palais Royal und versorgte meine Schwester Elisabeth mit einer Mitgift von zweihunderttausend Franken, die es ihr ermöglichte, den Grafen von Tre veaux zu heiraten. So hatte es wenigstens eine aus unserer Familie geschafft, eine Verbesserung ihres Standes zu erreichen. Mir, dem nicht fertig ausgebildeten Flüchtling, gab Madame ohne viel zu fragen eine Stelle als Page in ihrem Haus. Ich bin sicher: Es war ihr ein besonderes Vergnügen, uns freigebig zu helfen. Und als meine Mutter in zweiter Ehe den Zollpächter Marneau heiratete und nach Metz zog, war die Herzogin sichtlich gekränkt, dass ihr damit der Triumph entging, diese leidgeprüfte Frau mit einem Adligen zu verbinden. Wir waren ihre Spielfiguren – so wie sie selbst eine Spielfigur war. Wir alle behandeln die Menschen um uns herum so, wie wir selbst behandelt worden sind, ganz gleich, ob wir das wollen oder nicht.

Auch Enttäuschung braucht Formen, und so baute sich Madame ihren »Ersatzsinn« zu einem Ersatzleben aus: Die von ihrem Mann verweigerte Liebe fand sie bei ihren sieben Hunden, die ich regelmäßig ausführen musste, das für sie selbst unerreichbare Schönheitsideal verkörperten ihre unzähligen Vögel und die überall hervorquellende Langeweile vertrieb sie mit wilden Parforcejagden und schwelgerischen Einladungen. Ihr Tag war so angefüllt mit Verabredungen, Veranstaltungen und anderen gesellschaftlichen Pflichten, dass ihr keine Zeit blieb, sich mit dem Übel der Leere, die in ihren Eingeweiden wütete, zu beschäftigen. Und so wurde sie, ganz gegen ihre Absicht, zu einem Kind ihrer Zeit, das sich im höfischen Benehmen eine Trutzburg gegen die Gefahr der Alltäglichkeit bauen wollte.

Nur eines hat Madame immer zurückgewiesen: den Verfall der Sitten; etwa diese Kleider, die den Busen herausdrücken statt ihn zu verdecken, und die Selbstverständlichkeit, mit der man sich einen Liebhaber hielt. Doch auch in diesem Punkt folgte sie wohl mehr ihrem Groll gegen das ausschweifende Leben ihres Mannes als einem eigenen Moralkodex. Das Leben von Elisabeth Charlotte war eine einzige Reaktion, nie hat sie etwas aus sich heraus getan, sie folgte ihren Verletzungen und Ängsten.

In meiner Zeit als Page habe ich alles aufgesogen, was man über das Dasein bei Hofe wissen muss. Ich lernte – endlich – richtig zu tanzen, fand heraus, welche Floskeln man wann sagen sollte, wenn man bestimmte Erfolge erzielen will, wandelte immer sicherer über das glatte Parkett der Etikette, verbesserte meinen Umgang mit dem Degen und der Pistole, begann, nett zu plaudern und dabei kleine, aber feine Intrigen zu spinnen, führte berühmte Gäste durch die üppigen Gärten und die weiten Gänge des Schlosses und entlockte ihnen nach und nach alle Geheimnisse der höfischen Diplomatie.

Ich habe schnell erkannt, dass ich den Makel meiner niederen Geburt nur mit Wissen ausgleichen konnte. Und so stürzte ich mich atemlos in diese fremde Welt, eroberte sie im Sturm und beherrschte ihre Spielregeln nach kurzer Zeit besser als manche der in ihr Geborenen. O ja, ich genoss die sich daraus entwickeln de Macht wie eine Droge. Bald konnte ich mit den Konventionen und Gepflogenheiten des Hofstaats derart versiert umgehen, dass ich mir bereits gestatten durfte, sie zu untergraben. Da man mich als exzellenten Vertreter des Kodex kannte, durfte ich mir erst winzige, dann immer größere Übertretungen erlauben. Alles, was dem Spiel Spannung verlieh, war gestattet.

So wurde ich ein Meister des schönen Scheins, brillant, strahlend – und meiner Falschheit wohl bewusst. Doch im Lauf der Jahre verwischten die Grenzen und ich verlor den Überblick da rüber, wo denn ich und wo die Kunstfigur Theodor begann. Und wenn ich anfangs den Menschen, von denen ich mir Förderung erhoffte, sehr bewusst nach dem Mund redete, war es mir bald zu einer zweiten Natur geworden, meinem Gegenüber genau das zu sagen, was es hören wollte. Ich roch förmlich, wonach es diesem gelüstete, denn ein Mensch dünstet seine Wünsche gleichsam aus. Es ist wirklich befriedigend, das Strahlen in den Augen eines Mannes oder einer Frau zu sehen, die gerade in ihrem tiefsten Wollen bestätigt wurden. Wer es lernt, Menschen auf sich selbst stoßen zu lassen, der hat immer Freunde. Na ja, soweit man in diesem Metier von Freundschaft sprechen kann.

 

Welch ein Glück, dass ich eines Tages, sehr viel später, die Frau traf, die mich wieder aus dem Strudel der Verlogenheiten herausziehen konnte. All die Jahre habe ich über Liselotte und ihr Ersatzleben gespottet, heute frage ich mich, ob ich nicht auch nur ein Ersatzleben geführt habe. Julia, du weißt das doch. Du kannst doch hinter meine verquollenen Gedanken schauen. Das konntest du vom ersten Augenblick an. Bei dir war ich plötzlich ich – völlig überrascht, dass es so etwas in mir gibt. Julia, wie gut habe ich es bei dir. Julia, ich werde dir noch viel erzählen müssen, damit dieser Brief ihm deutlich macht, was mit mir passiert ist. Aber bevor ich erzähle, lies mir noch ein paar Seiten vor, vielleicht nur ein paar Zeilen. Sie sind so ... so verlockend. Julia, kommst du?

»Ein junger Edelmann mit dem Namen Neuhoff war mein Page und hat sich bei mir gut benommen.

Er hat sich aber in Bayern auf das Spielen verlegt, und das hat ihn zum Schelmen gemacht. Er ist ein wohlgeschaffener Mensch, auch nicht hässlich von Gesicht und weiß brav zu plaudern.«

Liselotte von der Pfalz, Brief

6. Dezember

Ein raues Brüllen zog durch die Eiseskälte und ließ die streunenden Katzen am Fischmarkt zusammenfahren. Für einen Augenblick stockten die vielen Hände mit den blau gefrorenen Fingern, die gerade die von den Booten hochgereichten Kisten leerten und den Fisch – Karpfen, Kabeljau, Schellfisch, Lachs, Sardellen und Schleien – auf die blank geputzten Auslagen verteilten. Müde und vor sich hin fluchend, versuchten die Verkäuferinnen, die schlaftrunkene Dunkelheit zu durchdringen, doch die verrußten Öllämpchen an den Ständen reichten nicht aus, um die Finsternis zu vertreiben. Missmutig gingen die Frauen wieder an die Arbeit.

Billingsgate, das zu jeder Tageszeit einen intensiven Geruch nach altem Fisch und feucht gewordenen Kohlen ausatmete, erwachte zum Leben, als die ersten Mägde, Dienstmädchen und Köchinnen aus den schmalen Gassen auftauchten, um auf Befehl ihrer Herrschaften möglichst frische Ware zu erhaschen. Das bald immer hektischere Feilschen der hohen Stimmen erinnerte an einen aufgeschreckten Vogelschwarm, der durch den von der Themse heraufziehenden Morgennebel flatterte.

Lord Kilmarnok, der sich wegen des Gestanks ein mit seinen Ini tialen besticktes Taschentuch vor Nase und Mund presste, hätte gern auch seine Ohren bedeckt, um das aufdringliche Schreien zu dämpfen. Sein Auge, das im Laufe der Nacht weiter zugeschwollen war, pulsierte heftig. Er ärgerte sich, dass er seinen Diener im Hotel gelassen hatte, und lief ruhelos zwischen den Marktständen hin und her. Er hätte in seinem schwingenden Rock, aus dem das Hemd mit Spitzenjabot hervordrängte, und mit der Perücke auch ohne sein aufgequollenes Gesicht unter den einfach gekleideten Dienstboten und Arbeiterinnen wie ein Paradiesvogel gewirkt und er spürte sehr deutlich, dass ihm von allen Seiten neugierige Blicke folgten. Fröstelnd zog er den samtenen Kragen am Hals zusammen und schaute sich erneut nach Isabelle um. Mehrfach glaubte er, ihren dunklen Haarschopf im matten Licht der Morgendämmerung zu entdecken, und jedes Mal erwies sich seine Wahrnehmung bei näherem Hin sehen als Täuschung. Einmal winkte ihm im Halbschatten einer Laterne ein Mädchen zu, doch als er sich aufatmend näherte, sah er, dass es sich um eine Prostituierte handelte, die auf einen frühen Freier hoffte. Wütend und enttäuscht drehte er sich weg, ohne die junge Frau eines weiteren Blickes zu würdigen.

Ein leichter Wind kam auf und wühlte zwischen den hölzernen Verkaufstischen einen so intensiven fauligen Geruch auf, dass dem Suchenden ganz übel wurde. »Was mache ich hier?«, durchfuhr es ihn, »ich sollte im Bett liegen und schlafen. Andererseits, ich hätte ohnehin keine Ruhe gefunden.« Er beschloss, den Markt von der Kaimauer aus systematisch zu durchkämmen.

In diesem Moment ertönte wieder das aggressive, fremdartige Brüllen, das an den Nerven der Menschen zerrte. Lord Kilmarnok zuckte zusammen: »Verdammt noch mal, was ist das?«

»Cäsar!«

Er fuhr herum und sah direkt in Isabelles Gesicht, die dicht hinter ihm stand. Erschrocken blaffte er sie an: »Wer?«

Die junge Frau, die an diesem Morgen einen mehrfach ausgebesserten graugrünen Mantel trug, der trotz der Flicken mit ihrer Augenfarbe harmonierte, legte den Kopf in den Nacken und dehnte sich genüsslich. Dann hielt sie dem Lord ihren Korb hin und sagte: »Cäsar! Der Löwe im Tower. Er ist und bleibt eine große Katze und er riecht den frischen Fisch. Das macht ihn natürlich wild. Die Verkäuferinnen glauben, dass er eines Tages ausbrechen und auf den Markt kommen wird. Darum zucken sie immer zusammen, wenn er brüllt. Nach einer Weissagung, die irgendein garstiges Kräuterweiblein von sich gegeben hat, soll er genau tausendmal rufen, bevor er sich auf den Weg macht, um Fisch und Mensch zu verschlingen. Diese Leute hier haben kein Geld, um den Tower zu besichtigen, und konnten Cäsar noch nie sehen. Für sie ist ein Löwe nichts anderes als ein dämonisches Fabelwesen aus einer anderen Sphäre, die Verkörperung aller bösen Dinge, die sich ihre Fantasie erdenken kann. Also zählen sie eifrig mit, wie oft er brüllt, und haben inzwischen mehr Angst davor, sich zu verzählen, als vor dem Löwen selbst.«

Lord Kilmarnok nahm das Taschentuch vom Gesicht, weil ihm bewusst wurde, wie lächerlich er damit aussehen musste. Grummelnd sagte er: »Das ist doch Quatsch!«

Isabelle lief langsam an den Ständen entlang, so dass der Adlige ihr folgen musste, um sie zu hören. Sie räusperte sich: »O nein! Das ist kein Quatsch. Was wisst Ihr schon von den Menschen hier? Ihr seid heute wahrscheinlich zum ersten Mal in diese Welt eingetaucht. Ich verstehe vielleicht vieles von dem, was in Euren herrschaftlichen Kreisen vor sich geht, noch nicht, und doch habe ich mehr Einblick in Euer Leben als Ihr in das Leben der Armen. Ich behaupte, dass jemand aus Euren Kreisen sich leichter in einem fernen Land wie Brasilien zurechtfindet als in der Unterschicht der eigenen Stadt. Jetzt guckt bitte nicht so hochmütig! Diese Leute können schließlich nichts für ihr Schicksal. Kaum einem war es vergönnt, lesen zu lernen, die meisten haben London, ja, sogar ihr Viertel noch nie verlassen, und wer mit zwölf Pfund im Jahr auskommen muss – kaum mehr als dem, was Euer feiner Hut kostet –, der braucht nun mal ein ganz anderes Wertesystem als Ihr. Seid ehrlich, wart Ihr schon einmal auf einem Fischmarkt?«

Der Lord schüttelte den Kopf.

Ein zufriedenes Grinsen ließ ihre Zähne aufblitzen. Leise fuhr sie fort: »Ich bin überrascht, dass Ihr es wagt, hierher zu kommen. In eine völlig fremde Umgebung. Nach unserer gestrigen Erfahrung hatte ich nicht den Eindruck, dass Ihr besonders feinfühlig mit dem Leben anderer umgehen könnt. Und dass Ihr es vor allem nicht gewohnt seid. Aber vielleicht habe ich mich geirrt.«

Sie näherte sich seinem Gesicht: »Euer Auge sieht interessant aus. Oder hat es dieses interessante Muster, weil Ihr es nicht gewohnt seid, so früh aufzustehen? Nun: Ihr seid hier. Offensichtlich bedeutet Euch die Geschichte des Königs doch mehr, als ich anfangs vermutet hatte.«

Isabelle war plötzlich stehen geblieben und musterte den hinter ihr herlaufenden Adligen von oben bis unten: »Wie wollt Ihr eigentlich den König verstehen, wenn Ihr nie gelernt habt, Euch in andere Menschen hineinzuversetzen? Ich bin ziemlich sicher, dass sich seit Eurer Geburt immer alles um Euch gedreht hat, in Eurem Elternhaus, bei Eurer Dienerschaft und bei Euch selbst ...«

Lord Kilmarnok wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da drehte sich Isabelle um, nahm einen etwa achtzig Zentimeter großen, silbrig glänzenden Fisch mit dunklen Flecken von dem hinter ihr stehenden Tisch und warf ihn dem verdutzt Dastehenden lachend zu: »Voilà! Eure Lordschaft, nun zeigt, wie Ihr mit fremden Dingen umgehen könnt.«

Der junge Mann sah den Fisch auf sich zufliegen, wollte zurückweichen und packte dann zornig zu, um sich keine Blöße zu geben. Doch der glitschige Leib ließ sich nicht greifen, er entglitt seinen Händen und sprang, als lebte er noch, zurück in die Luft. Lord Kilmarnok setzte nach, hielt das schlanke Tier für einen kurzen Augenblick fest, bis es ihm wieder aus den Fingern rutschte und er es, ehe es zu Boden fiel, mit einem Schlag nach oben katapultierte. Irritiert sah er auf seine Finger. Bevor er erneut nachfassen konnte, schoss Isabelles Hand zielsicher hervor und hielt den Fisch knapp vor der Schwanzflosse fest. Traurig blickend baumelte der Fang umher, während die umstehenden Händlerinnen in ein gackerndes, höhnisches Gelächter ausbrachen.

Der Beschämte klopfte einige Fischschuppen von seinem Rock und vermied es, die junge Frau anzusehen: »Ein großartiger Einfall! Ich hasse Fisch!«

»Ein merkwürdiger Satz in dieser Umgebung.« Wieder quittierten die Zuschauerinnen den Wortwechsel mit einem schadenfrohen Lachen. »Ihr konntet den Fisch nicht fangen, weil sich etwas in Euch sträubt, so etwas dreckig Schleimiges überhaupt anzufassen. Aber wer Angst hat, das Schmutzige zu begreifen, der begreift auch das Schöne nicht.«

Lord Kilmarnok nahm Isabelle am Arm und zog sie energisch von den Ständen weg. Schwer atmend lehnte er sich gegen eine Kaimauer: »Du weißt, warum ich hier bin. Also lass bitte dein Spielchen. Ich möchte gerne hören, wie die Geschichte weitergeht.«

Sie zuckte demonstrativ mit den Achseln. Dann sagte sie verspannt: »Ich habe gestern Abend noch lange nachgedacht. Und ich bin zu einem Entschluss gekommen: Ich werde Euch nichts mehr erzählen. Es tut mir ernsthaft Leid, dass Ihr so früh aufgestanden seid, aber es wäre falsch. Jedenfalls kommt es mir falsch vor. Ich dachte, ich könnte Euch helfen. Doch wenn ich dabei Schaden an meiner Seele nehme, dann … dann geht es nicht. Ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken soll.«

»Also gut: Ich zahle dir zwei Pfund für jeden Tag.«

Der Körper der jungen Frau verspannte sich: »Mein Gott, ich hatte Recht. Ihr seid wirklich ein Schwein.« Sie richtete sich auf und fauchte den Lord an: »Was glaubt Ihr eigentlich, was ich bin? Eine Hure? So wie die Kleine, die Euch an der Laterne Ihren verbrauchten Körper angeboten hat. Na, was ist es: Erregt es Euch, Menschen zu kaufen? Mit all dem Geld, das Ihr wahrscheinlich nicht einmal selbst verdient habt. Ist es das? Ja? Ihr haltet Euch für klug, weil Ihr teure Privatlehrer hattet. Aber ihr begreift nichts. Ihr müsst zum Beispiel erst einmal lernen, welche Dinge keinen Preis haben – weil man sie nicht kaufen kann. Ich gehöre auch dazu. Und jetzt lasst sofort meinen Arm los!«

Mit einem Ruck der Schulter entzog sie Lord Kilmarnok ihren Körper. Der blickte sie völlig befremdet an: »Was, wieso? Pass auf, was ich gesagt habe, war sehr dumm. Ich halte dich doch nicht für eine Hure ...«

»Ach nein?« Ihr Stimme wurde laut: »Aber Ihr denkt ernsthaft, ich wollte den Preis in die Höhe treiben. Wie soll ich dieses Angebot denn sonst verstehen? Ihr könnt so viele blumige Worte machen, wie Ihr wollt, aber es wird an der Tatsache nichts ändern, dass Ihr mich kaufen möchtet. Und das widert mich an. Es ist schon schlimm genug, wenn jemand den Körper eines anderen wie eine Ware behandelt, seine Gedanken kaufen zu wollen ist wahrscheinlich das Schäbigste, was ich je erlebt habe. Wenn Ihr mich für die Geschichte des Königs bezahlt, dann werde ich nicht nur zur Pros tituierten, sondern auch noch zur Verräterin. Zumindest fühle ich mich so. Und das will ich nicht. Noch heute Mittag werde ich Euch den schändlichen Judaslohn von gestern Abend in die Herberge bringen.«

Der Adlige steckte den Geldbeutel, den er bereits hervorgezogen hatte, wieder ein. Er schwieg einen Moment lang, in dem scheinbar auch der Lärm des Marktes hinter ihm versickerte. Dann sagte er leise: »Isabelle. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Es waren einfach zu viele Gedanken da ... ich ... versteh doch: Ein Verräter schadet dem, dessen Geschichte er preisgibt. In unserem Fall geht es aber genau um das Gegenteil: Ich habe vor vielen Jahren geschworen, Theodor von Neuhoff für das zu töten, was er meiner Familie angetan hat. Nach all der Zeit voller Wut habe ich nun zum ersten Mal das Bedürfnis herauszufinden, wer dieser Mann wirklich war und warum er so gehandelt hat.

Ich bin kein Mörder. Ich töte nicht aus Lust. Du wirst wahrscheinlich niemals nachvollziehen können, wie viel Leid dieser Mann über mich gebracht hat. Aber eines weiß ich: Wenn ich nicht begreife, was ihn zu dieser Tat getrieben hat, wenn sich in seiner Geschichte nicht zumindest der Ansatz einer Erklärung findet, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als meinem Hass nachzugeben und ihn umzubringen. Ich habe dich das gestern schon gefragt, aber du hast nicht geantwortet: Hast du das schon einmal erlebt, dass in dir ein Hass gewütet hat, der so mächtig ist, dass er alles überflutet, wenn du den Damm nicht mehr verstärken kannst?

 

Ich hoffe, dass die Geschichte, die du mir erzählst, mich rettet. Ich will nicht hassen, aber ich kann nicht anders. Wenn du kein Geld annehmen möchtest, dann erzähle mir das, was du weißt, ohne Bezahlung. Nur lass mich nicht an meinem Hass zerbrechen. Bitte!«

Er fröstelte und steckte die Hände in die Ärmel des jeweils anderen Arms: »Verstehst du meine Verzweiflung wenigstens? Es geht um viel mehr als um Leben oder Tod, es geht um meinen Frieden. Ich kann diesen schäbigen Baron von Neuhoff zwar töten, aber der Hass auf ihn wird trotzdem bleiben. Bitte, befreie du mich von ihm!« Er blickte lange auf den Boden, dann fügte er hinzu: »Vielleicht klammere ich mich auch nur an eine allzu vage Hoffnung, aber ich wünsche mir sehr, dass ich das, was mich zerfrisst, mit deiner Hilfe endgültig besiegen kann.«

Isabelle blickte starr hinüber zum anderen Ufer, an dem gerade ein Pferd verladen wurde. Trotzig sagte sie: »Nein, ich will nicht! Ich darf es einfach nicht tun.«

»Bitte, Isabelle. Heute ist der Tag des heiligen Nikolaus, der Tag, an dem man einander hilft. Hilf mir! Das sind zwei Worte, die ich noch niemals zu jemandem gesagt habe: Hilf mir!«

Ein überraschendes, freches Grinsen zog ihre Mundwinkel nach oben: »Oje, Ihr seid auch noch Katholik.« Dann aber wurde sie schnell wieder ernst: »Ein Grund mehr, Euren schönen Worten nicht zu glauben. Hört zu, Lord Kilmarnok. Ihr seid für mich ein Fremder. Woher soll ich wissen, ob Ihr mich nicht einfach aus -nutzt? Ich traue niemandem mehr. Und ich will Euch eines sagen: Ich könnte Euer Geld gut gebrauchen, sehr gut sogar, aber wenn es etwas gibt, was arme Menschen sich bewahren sollten, dann ist es ihr Stolz. Viel mehr haben sie ja nicht. Also: Ich muss mit meiner Armut leben, Ihr mit Eurem Hass. Vielleicht ist die Welt doch nicht so ungerecht, wie es manchmal scheint. Und jetzt lasst mich bitte allein.«

Der Lord ließ seine Blicke lange auf dem Wasser des Flusses treiben, der schwerfällig vorüberzog, trübe und voller Unrat. Nach einigen Minuten fing er wieder an zu sprechen. Seine Stimme klang, als gehörte sie nicht zu ihm: »Ich habe gehört, dass sich manchmal Wale in die Themse verirren und bis hierher nach Billingsgate schwimmen. Dann stehen die Leute an den Ufern und brüllen, winken und klatschen, damit das Tier umkehrt, weil es sonst strandet und verendet. Im Augenblick fühle ich mich wie ein solcher Wal. Aber es ist keiner da, der winkt.«

Isabelle starrte den Mann vor sich an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Verwirrt lief eine Träne aus ihrem Augenwinkel, die sie etwas zu hektisch wegwischte. Die Gedanken schwirrten durch ihren Kopf wie ein Schwarm Bienen und ließen sich endlich in einer Ecke nieder. Unwillkürlich fasste sich die junge Frau an die Stirn, in der es zu pochen angefangen hatte. Dann flüsterte sie mit brechender Stimme: »In Ordnung! Ich werde Euch sagen, was mir der König heute Nacht berichtet hat. Schwört mir jedoch, dass Ihr nichts von dem, was ich Euch erzähle, gegen ihn verwendet!«

Lord Kilmarnok, dessen Gesicht dem ihren plötzlich sehr nahe war, nahm Isabelles Hand und hielt sie fest: »Ich schwöre bei meiner Mutter!«

Die junge Frau entzog sich ihm: »Gut. Das reicht. Aber Ihr müsst Euch die Geschichte verdienen.« Blitzschnell hatte sie sich wieder unter Kontrolle: »Ich hasse es, Fische auszunehmen. Das könntet Ihr für mich erledigen. Wenn Ihr diesen Fisch hier fertig gemacht habt, fange ich an zu erzählen.«

Sie drückte ihm den großen Fisch in die Hand, den sie die ganze Zeit festgehalten hatte, und führte den hilflosen Lord zu einem der Tische am Kai um den Dutzende von Katzen strichen, um die frischen Innereien der gerade bearbeiteten Tiere zu erbetteln.

Der Adlige schluckte: »Ich soll diesen riesigen Fisch ausnehmen?«

»Ihr müsst nicht! Wenn Euch die Geschichte des Königs nicht einmal diesen kleinen Dienst wert ist ...«

Mit einer schnellen Bewegung ergriff Lord Kilmarnok eines der herumliegenden Messer, legte den Fisch vor sich hin und schaute angewidert darauf. Zögernd setzte er die Klinge an, um dem Tier den Kopf abzuschneiden. Ein lautes Grölen ertönte. In wenigen Sekunden hatte sich etwa ein Dutzend Marktfrauen um den Tisch versammelt, um dem seltsamen Treiben zuzuschauen. Sie tuschelten eifrig und kicherten dabei immer wieder gackernd vor sich hin.

Das Opfer ihres Spotts wollte sie erst wütend auseinander treiben, dann aber bemerkte er, dass die Lautstärke der Verkäuferinnen für ihn der einzige Hinweis darauf war, ob er an seine Aufgabe richtig heranging oder nicht. Langsam ließ er das Messer über den Fisch streichen, und als es um ihn her am ruhigsten wurde, kurz vor Erreichen der Schwanzflosse, setzte er an und schnitt den Bauch des Tieres mit einem Ruck von hinten nach vorne auf. Ein anerkennendes Murmeln breitete sich aus. In dem Moment jedoch, in dem er mit der Klinge in die Eingeweide vorstoßen wollte, brandete eine erneute Welle der Ablehnung auf.

Der Lord legte das Messer zur Seite, zog die beiden Hälften des Fisches auseinander und nahm das Innere in Augenschein. Ein Gefühl der Betäubung durchzog seinen Magen, als ihm die schleimig-blutigen Innereien entgegenquollen. Ohne nachzudenken, griff er am Schwanzende zwischen die Gräten, bog seine Finger hinter die glibberige Masse und schaufelte dann mit einer Handbewegung all das heraus, was er sehen konnte. Träge ergoss sich das noch warme, in der Kälte dampfende Gemisch auf den Tisch. Lord Kilmarnok schaute fragend in die Runde, dann sprang er zur Kaimauer und übergab sich in die Themse – begleitet vom tosenden Applaus der umstehenden Frauen.

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VOR DEM PALAIS DER STUARTS in St. Germain stauten sich Ein-und Zweispänner, elegante kleine Stadtgefährte und sorgfältig gepflegte Kutschen mit weit geschwungenen Dächern, in denen sich herausgeputzte Diener die Zeit mit Kartenspielen vertrieben, während ihre Herrschaften in den hell erleuchteten Sälen feierten. An der schmalen Einfahrt zum Vorplatz lehnte wie immer der längst zum Inventar zählende englische Spion und notierte gelangweilt, wer die im Exil lebende Herrscherfamilie bei ihrem Fest besuchte. Er gab sich keine Mühe mehr, seine Identität zu verbergen.

Theodor kam zu Fuß und warf im Vorübergehen einen schnellen, neiderfüllten Blick auf die schimmernden Karossen. Gelegentlich erkannte er einen der Diener wieder und hob grüßend die Hand, entschloss sich dann aber, Distanz zu wahren, und legte die letzten Meter in sich gekehrt zurück.

»Ihre Einladung, Monsieur!«

Der junge Offizier, gerade zwanzig geworden, hob den Kopf und blickte den Bediensteten durchdringend an: »Baron von Neuhoff. Ich bin ein alter Freund des Prinzen. Ich war lange Zeit im Ausland und bin erst gestern zurückgekehrt. Bitte melde mich seiner Majestät.«

Der Türsteher betrachtete den etwas heruntergekommenen Uniformrock des späten Gastes und sagte dann mit strenger Miene: »Tut mir Leid, Monsieur, ohne Einladung kann ich gar nichts für Euch tun.« Verschmitzt fügte er hinzu: »Der Prinz mag es nicht, wenn er gestört wird.«

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