Bube, Dame, König

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Vorsichtig nahm ihm Isabelle das lange Gebilde aus der Hand, hob es in die Höhe und stellte sich darunter. Traurig sagte sie: »Es funktioniert nicht!«

Sie sah so enttäuscht aus, dass der Lord jetzt trotz seiner Not lauthals loslachen musste. Er nahm der jungen Frau den Schirm aus der Hand und öffnete ihn. Dann breitete er die aufgespannte Fläche über sie und beugte sich zu ihr: »Also gut! Erzähl!«

Er reichte Isabelle schüchtern den Arm. Sie zögerte einen Moment, dann atmete sie zweimal tief, bevor sie sich bei ihm einhakte und langsam mit ihm in Richtung St. James’s Park ging.

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THEODOR SCHAUTE DER erdfarbenen Strömung des Rheins hinterher und ließ es zu, dass sich sein Blick nach und nach in den Wellen verfing, bis alles vor seinen Augen zu schwimmen begann. Mit einer trotzigen Geste wischte er die Tränen weg, von denen die erste schon beinah sein schmales Oberlippenbärtchen erreicht hatte. Der siebzehn jährige Student saß in etwa zwei Metern Höhe rittlings auf dem abgespreizten Ast einer großen Eiche in den Auen vor der Stadtmauer Kölns, während die untergehende Sonne über das Wasser sprang und die Luft mit glitzernden Reflexen füllte.

Vorsichtig versuchte er, eine andere Position zu finden, um seinen im Lauf der Stunden steif gewordenen Körper zu entlasten. Es half nichts. Die Druckstellen blieben. Er warf einen halb flehenden, halb verärgerten Blick Richtung Himmel und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Das Rauschen des Windes nahm zu. Nach kurzem Zögern knüllte er das halb beschriebene Blatt auf seinen Knien zusammen und zog ein neues aus der Tasche, die an seiner Seite hing. Er legte es sorgsam auf das Buch, das ihm als Unterlage diente, und schrieb zum wiederholten Male: »8. September 1708«. Weiter kam er nicht. Süßlich poetische Zeilen schossen ihm wie Kometen durch den Kopf, beglückten seine Seele für einen kurzen Moment und ließen tief vergrabene Wünsche aus ihm hervorbrechen – bis sie in einem Akt freudloser Zensur verglühten. Nicht eine der Ideen genügte seinen Sehnsüchten. Diesmal wollte er endlich Worte finden, in denen sein Hoffen wahrhaftig gegenwärtig wäre, Worte, in denen er irgendwie das Unendliche, das ihn zu sprengen drohte, einfangen konnte, Worte, die wie ein Zauberspruch den Bann lösen und eine veränderte Welt hervortreten lassen würden.

Das Blatt blieb leer. Falls es solche Zeilen gab, hielten sie sich zumindest in diesem Moment verborgen und verwehrten dem jungen Mann ihre Kraft. Theodor, dessen blonde Locken ihm vom lauen Wind, der das Rheintal heraufzog, immer wieder ins Gesicht geweht wurden, biss so heftig auf seine Schreibfeder, dass sie zerbrach.

Kraftlos steckte der junge Mann die zerfransten Überreste in die zerklüftete Rinde des Baumes und griff dann mit zitternden Fingern in seine Tasche. Fast zärtlich zog er ein eingewickeltes Kreuz hervor und legte es frei. Es glänzte wie Elfenbein, als es die Sonnenstrahlen einfing. Seine Finger fühlten lange die Formen der Holzschnitzarbeit nach, in die er mit feinen, geschwungenen Buchstaben den Namen »Mariana« geritzt hatte. Die Enden des Kreuzes waren mit metallenen Beschlägen versehen, deren winzige Nägel über die glatte Oberfläche des Holzes zu wachen schienen. Ein Lächeln flog über das Gesicht Theodors; so verträumt war er, dass seine Augen bald nur noch in die Unendlichkeit starrten.

»Theodor! Bist du hier?«

Der Gerufene steckte das Kreuz blitzschnell in seine Weste, verbarg das Blatt mit den vergeblichen Liebesmühen zwischen den Seiten seines Buches und öffnete es an einer beliebigen Stelle.

»Theodor. Was machst du denn da oben? Wir warten auf dich!«

Es war, als klettere die Antwort erst mühsam den Baum herunter, ehe sie sich dem Frager zuwandte. Sie klang wie ein Seufzen: »Hallo, Ludwig. Ich lese.«

Der leicht schielende, schwarzhaarige Junge, der mit Theodor am Kölner Jesuitenkolleg studierte, zog seine Jacke aus, warf sie gewollt lässig über die Schulter und blickte hinaus auf das Wasser: »Was hältst du davon, runterzukommen und anständig mit uns zu feiern? Es ist nicht gerade höflich, was du hier tust. Du bist offiziell eingeladen.«

»Ich will nicht.« In der Stimme Theodors schwang Trotz mit: »Außerdem ist Plutarch viel zu aufregend.«

Ludwig hob langsam den Kopf: »Wie bitte? Du liest lieber antike Heldengeschichten, statt selbst welche zu erleben?« Er fing an, heftig zu winken: »He, es gibt ein Fest. Gute Laune, guter Wein, fantastisches Essen. Wann bekommen wir das schon? Und du Dickschädel beschäftigst dich mit den großen Taten heroischer Männer.« Er lehnte sich zurück, um hoch in den Baum schauen zu können, und schirmte dabei seine Augen gegen die Sonne ab: »Los, genug jetzt von Alexander dem Großen, Cäsar und Cicero. Vergiss die Toten und komm runter!«

Theodor schaute unverwandt in das Buch. Dozierend sagte er: »Du weiß selbst, dass Plutarch überhaupt keine Heldensagen verfasst hat. Er schreibt ganz klar: ›Ich erzähle keine Geschichten, sondern Lebensbilder, weil sich der Wert eines Menschen nicht in seinen großen Taten ausdrückt. Oft wirft eine unbedeutende Handlung, ein einzelnes Wort oder ein Scherz ein schärferes Licht auf den Charakter als Schlachten mit Tausenden von Toten, Zusammenstöße der mächtigsten Heere oder Belagerungskriege um einflussreiche Städte.‹« Endlich erbarmte er sich und schaute nach unten: »Ludwig, es geht um Vorbilder, um die wesentlichen Charakterzüge großer Persönlichkeiten. Bei Plutarch kann man lernen, was bedeutende Männer auszeichnet. Du siehst: Gerade du könntest von dem Priester aus Delphi einige Nachhilfe gebrauchen.«

Ludwig setzte sich mit dem Rücken gegen den Baum und streckte genüsslich die Beine aus, weil ihm die Streitgespräche mit Theodor allzu vertraut waren. Den Tonfall Theodors nachahmend, sagte er: »Bravo, du weiser Mann. Du kannst es ja sogar auswendig. Was für ein gelehriger Schüler. Aber vergiss nicht: Plutarch war nur sehr kurz in Delphi. Die meiste Zeit hing er in dem kleinen, elendigen Dorf Chaironeia in Boiotien herum. Offensichtlich haben ihm all seine Einblicke in das Wesen großer Heroen nicht besonders viel gebracht. Mann, Theodor, du bist ein Träumer.« Er unterdrückte ein hämisches Lächeln: »Ich hätte übrigens noch einen Anreiz für dich. Vielleicht möchtest du ja wissen, was der liebe Graf und Mariana gerade treiben.«

Bevor ihn das Buch schmerzhaft im Rücken traf, hatte sich Ludwig schon zusammengekrümmt und seinen Nacken schützend mit den Händen bedeckt. Er stand auf und sprang feixend um den Baum: »Na bitte! Du bist gar nicht im Gelehrtenhimmel verschollen. Es ist noch ein Stück Leben in dir. Sieh an! Der schlaue Theodor hat Gefühle. Ach, und was ist denn das hier?« Ludwig hob das Blatt auf, das beim Wurf aus dem Buch gerutscht war: »Du wolltest ihr einen Brief zu ihrem Namenstag schreiben. Vielleicht eine Liebeserklärung. Möchtest du es endlich wagen, dein Herz zu öffnen?«

»Hör auf!« Theodor erschrak über seinen eigenen Schrei. Verschämt sagte er: »Es hat doch alles keinen Sinn.«

Ludwig bog den Kopf in den Nacken: »Warum? Seit Wochen grämst du dich, dabei weißt du noch gar nicht, was sie für dich empfindet.«

»Das muss ich auch nicht. Ich weiß, was ich sehe. Sie liebäugelt mit diesem widerwärtigen spanischen Grafen, lacht über seine schäbigen Witze und ... kannst du mir erklären, warum er jetzt am Tisch an ihrer Seite sitzen darf?«

Ludwig hob das Buch auf und strich die Seiten glatt: »Warum? Weil er ein Graf ist. Und weil sein Vater dem Professor etwa dreimal so viel für die Unterkunft bezahlt wie unsere Eltern. Was willst du? Du bist eben nur ein kleiner Baron. So ist das Leben.«

Mit verkniffenem Gesicht beugte sich Theodor nach unten: »Nein, so ist das Leben nicht. Und wenn doch, dann darf es nicht so sein. Begreifst du? Es darf nicht sein, dass einem dahergelaufenen Grafen, dessen Intelligenz die eines ungepolsterten Stuhls nicht übersteigt, wegen seines dämlichen Titels die Gunst der Frauen zufällt. Der Kerl ist doch beschränkt.«

Der junge Mann wandte den Kopf in Richtung des Flusses, damit sein Freund die zurückkehrenden Tränen nicht bemerkte. Der aber hörte, wie brüchig die Stimme des Barons geworden war: »Du bist ja wirklich eifersüchtig. Ich dachte, dass das alles nur ein Spaß wäre.«

»Ein Spaß! Haha! Wenn das ein Spaß ist, dann habe ich nicht viel zu lachen. An meiner Eifersucht erkenne ich erst, wie heftig ich liebe. Ich vergesse Essen und Trinken, ich bringe die Nacht ohne Schlaf zu – und dieses Liebesfeuer, das mich verzehrt, bringt mich bald um. Verdammt noch mal, wäre ich als Prinz geboren, würde sie nur mich sehen.«

Ludwig schnipste eine vorwitzige Ameise von seinem Bein und sagte aufmunternd: »Wenn du ein Prinz wärst, dann hättest du sie wahrscheinlich gar nicht kennen gelernt. Und wenn eine Frau dich nur wegen deines Titels liebt, dann vergiss sie lieber gleich. So eine weiß gar nicht, was Gefühle sind.« Der Schalk überkam ihn wieder: »Übrigens: Hast du schon gehört, was der Graf Mariana geschenkt hat? Nein? Pass auf! Einen riesigen Blumenstrauß, Rosen in allen Farben, bunt, prall und mit einem betörenden Duft. Und weil die Rose ein Sinnbild Mariens ist, konnte er dieses, sagen wir mal, äußerst delikate Zeichen sogar in Anwesenheit ihres Vaters überreichen.«

Theodor stöhnte leise auf. Doch Ludwig bemerkte es nicht. Er genoss seine Schilderung: »Das Beste kommt erst noch. In der Blüte der schönsten Rose, einer kecken Floribunda, steckte ein riesiger Diamant. Der muss ein Vermögen gekostet haben. Ist das nicht abstoßend?«

Der Baron war blass geworden und hielt sich mit letzter Kraft an dem rauen Baumstamm fest. Er zog voller Ekel das Kreuz aus seiner Weste und warf es mit einem gequälten Laut auf den mit Steinen abgegrenzten Weg, wo es in mehrere Stücke zerbrach. Zart glänzten die Teile zwischen den Kieseln, als sprächen sie einen leisen Vorwurf aus. Sein Kommilitone schaute erst zu Theodor hoch, dann erhob er sich und sammelte die Stücke auf: »Was soll das denn? Warum hast du das gemacht?«

 

Der Baron lachte höhnisch auf: »Was meinst du, was Mariana denkt, wenn ich damit ankomme? Dieser Hundsfott schenkt ihr einen Diamanten und ich, ich bringe ihr eine banale Holzschnitzerei mit, ein bisschen Gekratze mit dem Messer. Meinst du, ich habe Lust, mich zum Gespött der Leute zu machen?« Er imitierte die hohe Stimme des Grafen:

»›O Theodor, was für ein großzügiges Geschenk, ein Stück Holz! Komm, wir legen es mal neben den Dia manten.‹ Ich könnte kotzen.«

Der Freund fügte die Bruchstücke in seiner Hand zusammen: »Das Kreuz ist einfach wunderschön. Theodor, du bist ein Narr.«

»Genau, ein Narr, der geglaubt hat, Mariana könne sich in den Spross eines enterbten Barons verlieben. Du hast Recht: So ist nun mal das Leben.«

Hilflos hielt Ludwig dem Verbitterten das Kreuz hin:

»Theodor, komm! Na los! Sie hat schon mehrfach nach dir gefragt.«

Der Baron legte demonstrativ die Arme übereinander und sagte mit einem Kratzen in der Stimme: »Gib mir bitte mein Buch, ich werde nicht gehen.«

Ludwig ließ die Überreste des Kreuzes in seine Hosentasche gleiten, hob eilig den Plutarch auf und trat damit ans Flussufer. Mit ausgestreckter Hand hielt er den Band über das Wasser:

»So! Du kommst jetzt runter und gehst mit mir zum Fest. Oder ich lasse deinen Lieblingsautor ins Wasser gehen.«

»Das wagst du nicht!«

Der Freund drehte sich einmal um sich selbst: »Hör mal zu, Theodor. Deine Mutter versucht alles, um dir diese Ausbildung zu ermöglichen. Ich weiß: In Münster ist der Herr Baron für seine rhetorische Begabung und seine Übersetzungen ausgezeichnet wor den – aber hier in Köln musst du die Spielregeln erst noch lernen. Und die lauten: Wenn ein Professor zum Namenstag seines Töchterleins ein Gartenfest ausrichtet, dann erscheinen die Studenten. Ist das klar?«

»Ich habe dir gesagt: Ich mache mich nicht lächerlich.«

Ludwig blätterte belustigt in dem Buch: »Mit welchem Helden soll ich anfangen? Welcher große Mann ist dir am wichtigsten? Wer soll zuerst in unserem herrlichen deutschen Rhein baden gehen? Wie wäre es mit Demosthenes?«

Er riss genüsslich eine Seite aus dem Buch und ließ sie in den Fluss fallen, wo sie, sich langsam im Kreise drehend, nach Norden gezogen wurde. Theodor schrie zornig auf, kletterte von seinem Ast und rannte hinter Ludwig her, der bereits lachend die Flucht ergriffen hatte.

Als die beiden jungen Männer um Atem ringend die lang gezogene Hecke des Gartens erreichten, war Theodors Wut verflogen. Neugierig sah er sich um. Die Festgesellschaft hatte sich schon im Garten verteilt. Die Älteren saßen unter den Bäumen an einem Tisch, der unter dem Aufgebot an Speisen fast zusammenzubrechen drohte, und die Jüngeren tollten auf der blumenbedeckten Wiese umher. Einige Dienstboten entzündeten gerade klobige Fackeln, die rundherum im Boden steckten.

Als Ludwig und Theodor näher kamen, hielt Eva, die jüngere Tochter des Professors, kichernd den Finger vor den Mund und hieß die beiden Neuankömmlinge, stille zu sein. In der Mitte der freien Fläche stand Mariana mit verbundenen Augen und versuchte, einen der Mitspieler zu erhaschen. Sie trug ein schlichtes Gewand mit Pagodenärmeln, das hinten wallend den Po bedeckte. Darunter konnte man wegen ihrer vielen Bewegungen die beiden am Mie der befestigten Röcke fliegen sehen. Der Saum des Manteaus aber hatte das gleiche Muster wie die Haube, unter der das dichte dunkelbraune Haar hervorschaute. Eva nahm Theodor an der Hand, und ehe er sich sträuben konnte, hatte sie ihn so in die Nähe Marianas geschoben, dass diese ihn mit ihren suchenden Händen ergreifen konnte. Siegessicher rief die junge Frau: »Ah. Ich habe jemanden. Nun, wer seid Ihr? Ich werde es gleich herausfinden.«

Theodor spürte, dass er über und über rot wurde, als ihre kleinen Hände geschickt sein Gesicht abtasteten und er sich der Blicke bewusst wurde, die ihn von allen Seiten musterten. Ihren eigenen Vater nachahmend, rezitierte Mariana mit dunkler, professoraler Stimme: »Mmh, weit auseinander liegende Augen, dichte Brauen, eine lange vorwitzige Nase, ein Schnurrbart ...« Die anderen Mädchen pressten feixend die Lippen aufeinander. »... wenn ich nicht wüsste, dass er mich versetzt hat, würde ich sagen: Ich habe Theodor von Neuhoff gefangen. Obwohl ...« Sie zog demonstrativ die Nase hoch: »Derjenige, den ich hier erwischt habe, riecht ein wenig nach, mmh ..., nach frischem Schweiß. Sehr interessant. Er muss es wohl sehr eilig gehabt haben, zu mir zu kommen.«

Siegesgewiss streifte sie die Binde ab und blitzte den Baron mit tiefgrünen Augen an, bevor sie ihm die Hand darbot. Eine zu laute Stimme schallte über die Schulter des Studenten: »Na, na, na! Frischer Schweiß. Ihr seid mir ja ein wilder Kavalier, von Neuhoff. Könnt es nicht erwarten und eilt herbei. Obwohl: Vielleicht ist ja auch ein wenig alter Schweiß dabei. Der Herr Baron liebt sein samtenes Jäckchen ja so sehr, dass er sich nie von ihm trennt.«

Ein belustigtes Prusten zog durch die Gruppe und erzeugte in Theodors Eingeweiden einen verheerenden Sog. Mariana dagegen reichte die Stoffbahn sanft lächelnd ihrer Schwester und sah den jungen Mann fragend an. Doch ehe sich die Blicke der beiden begegnen konnten, hatte sich der spanische Graf schon zwischen sie geschoben und den Arm des Mädchens ergriffen: »Liebste Mariana! Ihr habt mir den ersten Tanz versprochen. Ihr erlaubt doch, Baron von Neuhoff?«

Er gab den auf einer Bank sitzenden Musikanten ein Zeichen, zog die schlanke Frau an sich und drehte sie leidenschaftlich im Kreis.

Theodor begab sich mit Ludwig zur Festtafel, begrüßte seinen Professor und die übrigen Gäste und setzte sich mit einem Glas Rotwein in die Nähe der kleinen Streichergruppe, die gerade ein Menuett anstimmte. Wortlos stippte er ein Stück Brot in den Wein und steckte es gedankenverloren in den Mund. Ludwig hatte inzwischen Blick kontakt mit Eva aufgenommen und beachtete den Freund erst, als der anfing, mit dem Absatz Löcher in die Wiese zu bohren: »Was ist?«

Theodor druckste: »Guck sie dir doch an: Ich weiß, wie gern sie tanzt. Sie hat es mehrmals erwähnt. Und dieser Dummschwätzer von Graf kann es einfach zu gut. Guck doch, wie er sich bewegt. Kein Wunder, dass sie strahlt. Frauen lieben gute Tänzer.«

Ludwig stieß ihm aufmunternd in die Seite: »Dann fordere sie doch auf!«

»Ich? Mein Gott, ich kann überhaupt nicht tanzen. Jedenfalls nicht so.« Theodor zupfte nervös an seiner Jacke: »Ich kann gerade mal den Takt halten. Aber er, er kennt Tausende von Figuren. Ich weiß nicht, wie man richtig führt, und ich weiß nicht, wann und warum man den Grundschritt variiert. Wahrscheinlich verliere ich ohnehin alle Kraft, wenn ich ihr so nah bin.« Ein verächtliches Keuchen kroch aus seinem Mund: »Außerdem hast du ja gehört, was sie gesagt hat. Ich stinke. Ich stinke! Kann eine Frau einem Mann etwas Schlimmeres sagen? Es ist identisch mit ›unattraktiv, abstoßend, eklig, billig, ungepflegt, viehisch und ärmlich‹. Sie hat mir vor dem Grafen gezeigt, wo mein Platz ist: beim Pöbel. Und er, er darf ihre Wange mit der seinen berühren, ihren Rücken spüren und ihre Hand halten. Warum?«

Ludwig schnitt Eva eine Grimasse, die diese mit gebleckten Zähnen und rollenden Augen erwiderte. Dann nickte sie kurz mit dem Kopf Richtung Tanzfläche. Ludwig wollte aufstehen, aber Theodor hielt ihn am Rock fest. Er flüsterte: »Da! Siehst du! Guck es dir an: Jetzt tuscheln sie. Und schauen dabei andauernd zu mir her. Sie machen sich über mich lustig, sie amüsieren sich über den kleinen Stinkebaron. Hast du dieses Grinsen des Grafen bemerkt? Wie beschämend. Ich hätte nie gedacht, dass Mariana so hinterhältig ist. Ich kann doch nichts dafür, dass ich nur eine Jacke besitze. Bitte, Ludwig, lass mich jetzt nicht allein.«

Der Freund legte ihm die Hand aufs Knie: »Theodor! Ich bin beim Tanzen nur fünf Meter von dir entfernt – und ich komme gleich wieder. Weißt du was: Wenn das heute klappt, dann werde ich Eva bestimmt küssen dürfen. Und vielleicht erlaubt sie mir ja sogar einen kleinen Griff in ihren Ausschnitt. Mannomann, sind das herrliche Brüste. Sei ehrlich: Hätte Mariana dich erwählt, wärst du doch jetzt auch in ihren Armen.«

Er stand auf und lief zu dem aufreizend strahlenden Mädchen, das schon auf ihn wartete. Neckisch zog er die Nase nach oben und sah für einen Moment wie ein Wiesel aus. Eva schmiegte sich an ihn. Theodor aber konnte seine Augen nicht von Mariana und dem Grafen wenden, die leichtfüßig über die Wiese flogen, während er sich an seinem Weinkelch festhielt. Er fühlte sich immer unbehaglicher, versuchte mehrmals unauffällig, seinen eigenen Geruch wahr zunehmen, und entdeckte, dass er sich der aufsteigenden Verzweiflung nicht entziehen konnte. Wie eine Krankheit kam sie tief aus seinem Inneren, schlich sich in alle Glieder und verdrängte nach und nach die letzte Hoffnung. Er wollte schreien, doch es war keiner da, zu dem er hätte rufen können. Und in seinen Gedanken trugen zwei Schreckensbilder einen schmerzhaften Kampf aus: Da stritten »Mariana und der Graf, Wange an Wange« gegen »Mariana und der Graf, wie sie leise und erregt über ihn sprachen«. Theodor musste seine ganze Kraft aufbieten, damit ihm nicht wieder die Tränen in die Augen traten; sie flossen stattdessen in seine Seele.

Als er mit verhangenem Blick auf die Tanzfläche sah, löste sich Mariana gerade aus den Armen ihres Tanzpartners, der sie offensichtlich zu etwas ermutigte, und nickte schelmisch in seine Richtung, woraufhin der Graf äußerst süffisant lächelte. Theodor wurde von einer würgenden Angst gepackt, die mit jedem Schritt wuchs, den die junge Frau auf ihn zu machte. Er erhob sich, als sie vor ihm stand, und hörte sie wie in weiter Ferne sprechen:

»Baron! Wie soll ich denn das verstehen? Erst kommt Ihr zu spät und dann fordert Ihr mich nicht einmal auf. Ich habe noch niemals mit Euch getanzt. Kommt, lasst es uns probieren! Zeigt mir, wie viel Taktgefühl Ihr besitzt!«

Der junge Mann vernahm die Worte, doch in seiner Fantasie verzog sich der fröhliche Mund der erregten Frau zu einer triumphierenden Fratze, die ihn vor allen der Lächerlichkeit preisgab. Sie konnte es nicht ernst meinen. Es war, als filtere seine Angst alle Schönheit aus dem Leben, er musste schlucken und durfte doch nicht. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er sich um und lief vor seinen Tränen davon.

Es war längst dunkel geworden, als Theodor die aufsteigende Gasse zum Haus des Professors erreichte. Er war stundenlang ziellos durch die Rheinauen gezogen, verletzt und mit der entschlossenen Wut eines Menschen, der sich in die Enge getrieben fühlt. Ihn fröstelte, denn mit dem Mond stieg an diesem 8. September auch die erste herbstliche Kälte aus den Wiesen und erkundete klamm die Innenstadt. Weil die Fledermäuse auf der Promenade immer frecher um seinen Kopf geflogen waren, hatte sich der Baron der Frage entzogen, die ihn verfolgte: »Wie sollte ich Mariana jemals wieder unter die Augen treten?« Seine Verzweiflung war im Lauf der Stunden einer betäubenden Leere gewichen, die sich festzusetzen drohte.

Als Theodor den Schlüssel zur Haustür aus der Tasche zog, hörte er hinter sich ein verhaltenes, schabendes Geräusch. Instinktiv zog er seinen Degen und ging in den Grundschritt. Ein leises Pfeifen zog durch den Vorgarten. Dann kam eine ruhige Stimme aus der Dunkelheit: »Lieber Baron von Neuhoff. Nicht so hitzig.« Der Sprecher sog die frische Luft ein, als könne er sich daran berauschen. Weich sagte er: »Ihr hättet auf dem Fest etwas mehr Feuer zeigen sollen. Jetzt und hier ist es überflüssig.« Theodor entdeckte unter dem Kirschbaum die aufglimmende Spitze einer Zigarre und erahnte in der winzigen Lichtquelle die Umrisse des Grafen. Der löste sich langsam aus dem Dunkel und hob grüßend die Hand: »Ihr habt Euch heute ziemlich töricht benommen, Baron. Und Mariana ...«

»Schweigt!« Wilder Hass stieg in dem Angesprochenen auf. Erregt ließ Theodor den Schlüssel zurück in die Tasche gleiten und zog seine Jacke aus: »Das genügt!« Er presste die Sätze hervor: »Erst beleidigt Ihr mich, indem Ihr verkündet, dass ich rieche, und jetzt nennt Ihr mich einen Dummkopf. Glaubt Ihr, dass Euer Titel Euch alle Unverschämtheiten erlaubt? O nein! Zieht Euren Degen!«

Der spanische Graf wich zurück. Seine Bewegungen zeigten erstmals Unsicherheit. Bewusst beherrscht sagte er: »Baron, hängt nicht an die Fehler von heute Abend noch einen weiteren dran. Ihr habt Euch da in etwas verrannt. Es geht hier doch gar nicht um meine möglicherweise etwas saloppen Worte. Das war ein Spaß, den Ihr mir sicher vergeben werdet. Ich bitte Euch: Lasst uns in Ruhe darüber sprechen, was Mariana und ich ...«

 

Theodor ließ seinen Degen mehrmals durch die Luft kreisen. Die Worte sprangen jetzt unter größter Anspannung aus seinem Mund: »Ich wusste es: Ihr seid ein Feigling, ein Prahlhans und ein Charakterschwein. Ohne Euch wäre die Welt ein wesentlich schönerer Ort. Schlagt Euch mit mir!«

Noch während er sprach, näherte sich der Baron seinem Gegner, und nur Sekunden später trafen die Klingen aufeinander.

Da der Graf sich offensichtlich nur verteidigte und nicht ernsthaft kämpfte, geriet Theodor immer mehr in Rage. Verbissen hieb er auf den Adligen ein, der, während er die Angriffe parierte, immer wieder energisch bat, den Kampf zu beenden. Doch der beleidigte junge Mann legte all den angestauten Zorn in seine Hiebe und ließ sich nicht beirren. Minutenlang waren nur noch das Ächzen der Fechter und das harsche Klirren der Degen zu hören. Je weiter der Baron den Grafen in die Dunkelheit unter den Bäumen trieb, desto schwerer wurde es für beide, die Ausfälle des anderen überhaupt zu sehen.

Vom metallenen Schlagen der Waffen geweckt, entzündeten mehrere Bewohner der nahe liegenden Häuser Kerzen, doch als sich auch noch eine Wolke vor den Mond schob und endgültig alle Dinge ineinander flossen, ließ Theodor verärgert den Degen sinken. Ein letztes Mal, in einem abschließenden Auflodern seiner Aggression, stach er wahllos in die Dunkelheit – und spürte, wie sein Degen tief in das Fleisch des Grafen eindrang. Wie ein Messer, das in den Sand gesteckt wird. Erschrocken ließ Theodor die Waffe los, als der Körper schwer neben ihn auf den Boden fiel.

Wie erstarrt hörte der Baron die fahle Stimme des Verwundeten: »Neuhoff, Idiot. Mariana liebt Euch. Keinen sonst. Ja, ich war an ihr interessiert, aber beim Tanzen hat sie mir endgültig einen Korb gegeben. Weil sie nur Euch will. Sie hat so verdammt verliebt von Euch gesprochen, dass ich selbst sie gebeten habe, mir das zu ersparen und zu Euch zu gehen. Und Ihr, Ihr habt alles kaputtgemacht – durch Eure Angst vor Euch selbst.«

Zitternd floh Theodor in die Nacht. Ohne noch einmal sein Quartier zu betreten, rannte er davon und verließ die Stadt nur mit dem, was er am Leibe trug. Drei Wochen später erreichte er die Wohnung seiner Mutter in Paris, nachdem er, um seine Spuren zu verwischen, mit dem Schiff rheinabwärts nach Rotterdam gefahren war. Elisabeth, seine Schwester, überreichte ihm einen Brief Ludwigs, in dem dieser dem Freund mitteilte, dass der spanische Graf tatsächlich seiner Verletzung erlegen war und Mariana, als sie die Teile des Holzkreuzes erhielt, diese zärtlich geküsst und anschließend verzweifelt geweint hätte.

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Lord Kilmarnok blieb abrupt stehen. Isabelle, die sich beim Reden seinen schnellen kleinen Schritten angepasst hatte, kam aus dem Tritt und musste sich an seinem Arm festhalten: »Was ist los?« Sie versuchte in der Dunkelheit seine Augen zu finden, doch es gelang ihr nicht.

Der Adlige starrte die Straße hinunter: »Ich wusste das alles nicht!«

»Das kann sein. Soweit ich weiß, hat er nicht einmal seiner Mutter davon erzählt.«

Heftig packte der Mann seine Begleiterin mit beiden Händen an den Oberarmen und zog sie vor sich. Sein Unterkiefer zitterte leicht: »Ach, und jetzt plötzlich rückt er damit heraus. Woher weißt du eigentlich, dass das Ganze nicht eine seiner bekannten überdrehten Lügen ist? Wahrscheinlich wird dieser Scharlatan am Ende seines Lebens sentimental und sucht nach einer Rechtfertigung für sein verkorkstes Dasein. Abgesehen davon: Du hast doch selbst gesagt, dass er inzwischen öfter wirr spricht und Personen nicht erkennt.«

Ruhig löste Isabelle ihre Arme aus dem Griff des Lords. Müde sagte sie: »Ich muss jetzt nach Hause. Der König will mich heute Nacht noch einmal sehen. Ich glaube, dass er Angst hat zu sterben, bevor er alles erzählen konnte. Das ist die Realität, die ich sehe. Ob er mir die Wahrheit erzählt, kann ich nicht sagen. Ich bin allerdings gar nicht sicher, ob Ihr überhaupt etwas anderes hören wollt als Eure eigene Wahrheit. Und genau so etwas hasse ich: Menschen, die zwar diskutieren wollen, aber nur dann zufrieden sind, wenn man sie bestätigt.« Ihre Augen blitzten in der Dunkelheit auf, als sich das Licht einer Laterne darin spiegelte: »Ich weiß nicht, woher Euer Hass kommt, aber eines weiß ich: Ihr kennt den König nicht.«

Lord Kilmarnok konnte das Lächeln nicht sehen, das ihre Lippen weitete, aber er spürte es in ihren Worten: »Ach, um Euch wegen des Wahrheitsgehaltes zu beruhigen: Ludwig, der damalige Studienkollege, hat 1736, im Jahr der Krönung seiner Majestät, ein Büchlein über das unselige Duell veröffentlicht. Komisch, oder? Damals wollten sie alle an seinem Ruhm verdienen, all die vielen Freunde und Bekannten, heute, zwanzig Jahre später, kommen solche unwissenden Leute wie Ihr daher und machen einem alten, unglück lichen Mann schwere Vorwürfe. Ihr, der Ihr alles habt, was man sich wünschen kann, wollt einem verarmten und verbitterten Träumer die letzten Tage rauben! Ich frage mich, ob nicht Ihr der Kranke seid.« Isabelle streckte ihm die Hand entgegen: »Ich bekomme ein Pfund von Euch!«

Lord Kilmarnok zog nachdenklich seinen Geldbeutel aus der Weste und legte eine Münze auf die geöffnete Handfläche der jungen Frau, die das Geld direkt in ihrem Korsett verschwinden ließ. Dann drehte sie sich um. Doch die Stimme des Mannes hielt sie noch einmal zurück: »Ich möchte auch wissen, was er dir heute Nacht erzählt!«

Eine weiche Trauer legte sich auf ihr Gesicht: »Warum? Wenn Ihr doch ohnehin der festen Überzeugung seid, dass er lügt.«

Der Lord ging einen Schritt auf sie zu. Er sagte unsicher: »Ja! Ich weiß noch nicht, ob ich ihm glauben kann, aber ich stimme Plutarch zu: Vielleicht versteht man einen Menschen wirklich nur dann, wenn man neben den äußerlichen Kennzeichen seines Lebens die verborgenen Züge seines Wesens erblickt, wenn man – unabhängig von allen Gefühlen – anfängt, eine Beziehung aufzubauen. Es stimmt: Ich weiß alles über die großspurigen Taten, die leeren Versprechungen und die bösartigen Intrigen dieses Mannes, der ja wohl zu Recht als Erfinder des ungedeckten Schecks bezeichnet wird. Aber ich frage mich seit so vielen Jahren, warum er das alles getan hat. Ich frage mich das so sehr, dass es zu meiner eigenen Frage geworden ist. Ich weiß nicht, ob du das kennst: dass eine Frage derart nach einer Antwort giert, dass das Leben sich völlig darauf ausrichtet. Sag mir, kennst du das, dieses ›Ich muss es wissen‹?« Er schüttelte sich, als könne er die Anspannung dadurch vertreiben: »Ich dachte, ich könnte das ›Warum?‹ in mir töten, wenn ich ihn töte. Aber jetzt wird mir klar, dass diese Frage mir weiterhin die Kraft rauben wird. Bitte hilf du mir, eine Antwort zu finden.«

Isabelle zögerte: »Ich weiß nicht, wie viel er mir heute noch erzählen wird. Vielleicht soll ich auch nur zu ihm kommen, um ihm vorzu lesen.«

»Das ist mir gleich. Ich werde mich morgen mit dir treffen.«

In einem der Häuser fing ein Paar an zu streiten und ihre erbosten Schreie brachten die junge Frau zum Lachen. Sie suchte in den Fassaden nach der Quelle der Laute und sagte freundlich, aber bestimmt: »Ich kann morgen nicht. Ich habe zu viel zu tun: Ich muss neue Muster entwerfen, ich muss dem König zuhören und ich brauche Zeit, um all das aufzuschreiben, was er mir erzählt. Es geht nicht.«