Bube, Dame, König

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»Theodor zeigte in allen ritterlichen Übungen Mut und Gewandtheit. Waffen und Kriegswesen waren seine

früheste Beschäftigung, während zugleich die Gewöhnung des Hoflebens den Sinn bedeutender Verhältnisse und geselliger Feinheiten in ihm ausbildete.«

K. Varnhagen von Ense, Biographische Denkmale

5. Dezember

Lord Kilmarnok betrachtete sein grün unterlaufenes Auge im Spiegel und fluchte laut vor sich hin. Die Beschimpfungen verfingen sich in den schweren golddurchwirkten Vorhangstoffen, und für einen Moment schien es dem Adligen, als verdunkelten seine Worte das exquisit eingerichtete Zimmer der Herberge an der Themse. Im Laufe des Tages hatte der Ärger über sein Versagen immer weiter zugenommen und sich zuletzt mit einer beängstigenden Verzweiflung verbunden, die nach und nach Besitz von ihm ergriff. Es war nicht nur der Ärger über den verfehlten Schuss, sondern das Erschrecken darüber, dass er derart die Kontrolle über sich verloren hatte. Eine eigentümliche Scham erfüllte ihn, ohne dass er dieses zermürbende Gefühl hätte näher beschreiben können; eine Demütigung, ein Unbehagen, das sein ganzes Dasein in Frage stellte, als wären die in ihm angestauten Gefühle wie ein Tor zur Seite geschwungen und hätten den Blick auf einen dahinter liegenden Abgrund freigegeben, in dessen Tiefe er zu stürzen drohte. Die Glockenschläge, die von Big Ben herüberzogen, hallten dumpf in seinem Kopf nach, und Lord Kilmarnok stellte sein Whiskyglas so fahrig auf den Tisch, dass sich der Inhalt über den Rand auf den Tisch ergoss.

Am frühen Nachmittag hatte der Adlige seinem Diener, einem untersetzten, dunkelhaarigen Schweizer namens Felix, harsch befoh len, die eben in den Schränken verstauten Kleider wieder einzupacken und eine Überlandkutsche zu bestellen. Er verspürte das dringende Bedürfnis, den Ort seiner entblößenden Niederlage so schnell wie möglich zu verlassen. Doch während er dem unterwürfigen Begleiter beim Zusammenlegen der seidenen Hemden zugesehen hatte, war ihm zunehmend bewusst geworden, dass er nicht vor dem floh, was geschehen war, sondern vor dem, was geschehen könnte. Sein spontaner Vorschlag, diese Frau in Hosen für etwas zu bezahlen, das ihm Schmerzen bereiten würde, kam ihm inzwischen gänzlich absurd vor. Ärgerlich wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn, der immer dann auftrat, wenn er sich verunsichert fühlte. Die Vorstellung, sich erneut der Geschichte seines Feindes stellen zu müssen, die er doch in seiner Fantasie schon Tausende von Malen durchlitten hatte, erschreckte ihn zutiefst. Sie war bei aller Abscheu im Laufe der Jahre zu seiner eigenen Geschichte geworden und vertrug keine Korrekturen.

Schwer ließ sich der Lord in einen der Sessel am Fenster fallen. Er wollte sich gerade zur Beruhigung eine Zigarre anstecken, als er bemerkte, dass sich das von draußen einfallende Licht verändert hatte: Unruhig schwamm es durch die Glasscheiben und brach sich wie Wellen im Spiegel. Die große Brücke vor dem Fenster brannte! Er sprang wieder auf und starrte durch die Vorhänge hindurch in den weiten Feuerwall, der die über den Fluss gezogene Häuserreihe in ein zuckendes Abendrot tauchte. Wie rötliche Geysire schossen die Flammen bis zu den Kaminen empor und züngelten hämisch gen Himmel, als wollten sie das Dunkel aus der hereinbrechenden Nacht lecken. In den Torbögen der Gebäude flogen Funken umher und suchten gierig nach Nahrung. An den Wänden aber wiegten sich im Rhythmus des Flackerns die Schatten der Menschen, die verzweifelt versuchten, den heißen Wellen Einhalt zu gebieten.

Verwirrt beobachtete der Lord, dass einige der Umstehenden heftig Beifall klatschten, als forderten sie eine Zugabe. Einer von ihnen, ein langer, dunkelhaariger Arbeiter mit schwerem Matrosengang, stellte sich den Löschmannschaften in den Weg und trat demonstrativ gegen die schweren Holzeimer der Helfer, bis das Wasser hinausschwappte. Kurz darauf kam es zwischen den verschiedenen Gruppen zu ersten Schlägereien. Wütende Schreie hallten durch die Gassen. Der Adlige wollte sich gerade abwenden, als er unter den zahllosen Schaulustigen, die das Feuer angelockt hatte, auch das kleine Mädchen bemerkte, das ihm am Vormittag den Weg gewiesen hatte. Es stand wohl auf einer Tonne oder etwas Ähn lichem und lugte neugierig über die Köpfe der Versammelten hinweg auf den Brandherd. Dann plötzlich war es verschwunden. Wenig später bemerkte der Beobachter, dass es behände zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchschlüpfte und versuchte, zum Kai zu kommen. Lord Kilmarnok ergriff seinen Mantel und lief ins Freie.

Als er sich der Themse näherte, spürte der Suchende bei jedem Schritt die zunehmende Hitze im Gesicht. Die Flammen waren inzwischen auf eines der vorderen Häuser übergesprungen und bemalten die weiße Fassade mit schwarzen Zacken. Schwer atmend erreichte er das Ufer in der Nähe eines schräg liegenden Frachtkahns, dessen Heck halb gesunken zu sein schien. Das Mädchen war nirgends zu sehen.

»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

Felix, der seinem Herrn gefolgt war, ergriff indigniert dessen Mantel und legte ihn ordentlich zusammen. Lord Kilmarnok ließ währenddessen seinen Blick durch die Menge schweifen. Die Zahl der Zuschauer war noch weiter gestiegen, und rund um die brennende Brücke rangen Menschen aller Altersklassen miteinander. Ein geschickter Maler hätte in dem Durcheinander der vom Feuer beleuchteten Kämpfer prachtvolle Motive für ein Höllenszenario entdeckt. Der Adlige betrachtete das Geschehen, ohne es zu begreifen. Laut, um das Schreien der Menschen zu übertönen, sagte er: »Was ist hier eigentlich los?«

Der Diener rümpfte die Nase und nickte mit dem Kopf Richtung Gasthaus: »Die Bürger der Stadt haben die Brücke angezündet, Sir. Zum zweiten Mal in wenigen Wochen.«

Lord Kilmarnok ignorierte die auffordernden Blicke seines Dieners: »Warum? Warum sollte jemand so töricht sein und die Londonbridge anzünden?«

Felix hustete und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, um den Rauch nicht einatmen zu müssen: »Nein, Sir, sie haben nicht die Londonbridge angezündet, sondern die dahinter liegende Holzbrücke, eine vorübergehende Hilfskonstruktion. Habt Ihr auf der Hinfahrt gar nicht bemerkt, dass wir über eine Behelfsbrücke gefahren sind?« Er zögerte: »Mit Verlaub, Eure Lordschaft, seit Ihr heute Morgen ohne mich die Herberge verlassen habt, wirkt Ihr bedrückt. Gibt es etwas, das ich für Euch tun kann?«

Der Adlige schüttelte unsicher den Kopf. Sein Kammerdiener wartete eine kurzen Moment, dann fuhr er mit seiner Erklärung fort: »Die große alte Brücke soll doch abgerissen werden. Das ist auch dringend nötig. Im Lauf der Jahre hat man die neunzehn Pfeiler wegen der vielen Brückenhäuser so oft befestigt und verstärkt, dass jetzt fünf Sechstel des Flusses zugebaut sind. Wie Ihr seht, schießt das Wasser mit ungeheurem Druck durch die Bögen. Schiffe passen da schon lange nicht mehr durch, und die kleinen Kähne kämpfen mühsam mit der wilden Strömung. Ich habe jedes Mal Angst, wenn ich über dieses labile Ungetüm fahre. Und ich scheine nicht der Einzige zu sein. Darum hat die Stadt beschlossen, eine neue Brücke mit größeren Bögen zu bauen. Auf der soll es aber keine Häuser mehr geben. Im Augenblick ist die Brücke eine kleine Ortschaft für sich – mit Hunderten von Bewohnern. Sie alle wehren sich gegen den Neubau, demonstrieren gegen den Abriss und boykottieren die Arbeiten, wo sie nur können.«

Aus der Geräuschkulisse drangen immer häufiger Schmerzensschreie. Lord Kilmarnok beugte sich zu seinem Begleiter: »Ich begreife das nicht. Sie wollen ihre Häuser retten, indem sie sie anzünden?«

Die Antwort war nur schwer zu verstehen: »Nein, Sir, indem sie die Ersatzbrücke anzünden. Das Ganze ist ein völliger Irrsinn. Die Bewohner der Brücke zünden die Holzbohlen an und behindern die vierhundert Bauarbeiter beim Löschen. Aus Rache scheren die sich nicht darum, wenn die Flammen auf die Gebäude der alten Brücke überspringen. Warum auch? Sie sollen ja ohnehin abgerissen werden. Und so stehen beide Seiten da: Jeder möchte, dass die Brücke des anderen brennt und die eigene vor den Flammen bewahrt wird. Und weil sich die Gruppen jetzt auch noch Straßenschlachten liefern, werden bald beide Brücken abgebrannt sein. Das ist die Krönung der Dummheit.«

Der Diener trat einen Schritt zurück, als sich eine kleine Gruppe Kämpfender näherte. Hasserfüllt schlugen die Männer mit qualmenden Holzstöcken aufeinander ein und beschimpften ihre Gegner wüst, während hinter ihnen die Flammen immer mehr Häuser anfraßen. Der Lord hielt weiter nach dem Mädchen Ausschau: »Was für ein Trauerspiel! Diese Leute wollen die Zukunft verhindern und zerstören damit ihre Vergangenheit?«

Felix wich erneut einen Schritt zurück, da nun regelmäßig Funkenschwärme vom Wind ans Ufer getrieben wurden: »So könnte man es auch ausdrücken.«

Sein Herr schüttelte den Kopf: »Das ist dumm, es ist einfach dumm!«

In einem der brennenden Häuser öffnete sich auf einmal ein Fenster und das Gesicht des Mädchens tauchte neben vielen anderen in dem dunklen Rahmen auf. Die Kinder streckten ihre Köpfe heraus und musterten die Umgebung, als wollten sie abschätzen, wie viel Zeit ihnen im Inneren noch bliebe. Jedes von ihnen hielt einige Gegenstände umklammert, wohl um sie aus dem Feuer zu retten.

»Plündern sie oder lassen sie sich von den Bewohnern für ihre Rettungsaktionen bezahlen?«, fuhr es Lord Kilmarnok durch den Kopf. Ohne nachzudenken, hob er die Hand und winkte dem Mädchen zu. Sie sah es und schaute einen Moment überrascht und verwundert zu ihm hin. Dann erkannte sie ihn offensichtlich, denn ihr Mund öffnete sich zu einem breiten Lachen und sie winkte unbefangen zurück. So schnell, wie sie erschienen war, verschwand sie wieder.

 

Felix, der versuchte, seinen Herrn vor den vorbeifliegenden Funken zu bewahren, die vom aufkommenden Wind in immer größeren glitzernden Schwärmen herangetragen wurden, fuchtelte hektisch über dessen Kopf herum und stieß dabei gegen die ausgestreckte Hand. Entschuldigend zog er sich zurück. Dann murmelte er: »Darf ich fragen, was Ihr da tut, Sir?«

Der Adlige senkte plötzlich den Blick. Er nahm spielerisch die Hand herunter, holte ein Tuch aus der Tasche und putzte umständlich seine Nase. Dann lächelte er den Bediensteten an: »Ich weiß es selbst nicht genau. Ich dachte, ich hätte ein kleines Mädchen gesehen, dem ich zwei Münzen für einen kaputten Spielzeugkinderwagen schuldig geblieben bin.«

Felix schluckte elegant einen Kommentar hinunter. Dann fragte er unterwürfig zweifelnd: »Einen Spielzeugkinderwagen? Habe ich Euch richtig verstanden, Eure Lordschaft?«

Der Adlige lächelte: »Ja, ich habe etwas versprochen und es nicht gehalten. Ich möchte nicht, dass das Kind von mir enttäuscht ist. Es ist schrecklich, enttäuscht zu werden.«

Der gut gekleidete Mann empfand beim Anblick der brennenden Bauten auf einmal eine tiefe Zufriedenheit, auch wenn ihm die Hitze Tränen in die Augen trieb. Das Schicksal hatte für ihn entschieden und ihm die Qualen eines langen, zögerlichen Nachdenkens abgenommen: Es würde Tage dauern, bis zumindest eine der zerstörten Brücken wieder passierbar sein würde. Die Fähren auf der Themse fuhren sonntags nicht und wären für sein Reisegepäck ohnehin zu klein gewesen. So konnte er, ob er wollte oder nicht, frühestens am nächsten Morgen auf die andere Seite gelangen, um die Heimreise anzutreten. Zumindest an diesem Abend würde er sich daher mit der Frau treffen, um von ihr etwas über die Geschichte seines verhassten Feindes zu hören. Und jetzt, da es keinen Ausweg gab, war er bereit, die Begegnung zu riskieren. »Es ist verrückt«, dachte er, »weil die Entscheidung gefällt ist, kann ich mit ihr leben. Als ich sie selbst hätte fällen sollen, bin ich vor ihr davongelaufen.«

Der Lord drehte seinem Diener den Rücken zu und ließ sich in den Mantel helfen, der durch den permanenten Funkenflug an einigen Stellen kleine Brandlöcher bekommen hatte. Er klang entspannt, als er seine Anweisungen gab: »Du kannst die Koffer wieder auspa cken, Felix. Da die Brücke zerstört ist, können wir ohnehin nicht nach Hause fahren. Wir bleiben also auf jeden Fall bis morgen hier.«

Der Diener wischte einen glimmenden Punkt, der sich gerade auf dem feinen Stoff niedergelassen hatte, von der Schulter des Adligen. Er musterte seinen Herrn einen Atemzug lang und sagte dann verhalten: »Eure Lordschaft, Ihr habt sicher nur vergessen, dass London seit einigen Jahren eine zweite Brücke hat. Die Westminsterbridge ist nun wahrhaftig kein großer Umweg. Wir können also sehr wohl fahren. Die Kutsche müsste sogar schon eingetroffen sein.«

Lord Kilmarnok schaute auf seinen Bediensteten und verfluchte ihn innerlich. Gleichzeitig wusste er, dass sich das Ja zu einer Begegnung mit der Tochter des Schneiders in ihm festgesetzt hatte wie der Angelhaken in einem Fisch. Es jetzt noch zu entfernen, würde unnötige Wunden hinterlassen. Abgesehen davon empfand er die Entscheidung, nachdem er sie innerlich getroffen hatte, plötzlich als konsequent und klar, so klar, dass er nicht einmal gewillt war, über eine Änderung des Plans nachzudenken: »Wir bleiben hier. Es geht nicht anders.«

Er wandte sich um und ging mit festem Schritt Richtung Soho. Felix sah ihm unschlüssig hinterher. Schließlich lief er schimpfend zurück zum Gasthaus.

In der Little Chapel Street hing der Mond schläfrig in den Bäumen und beobachtete zwei Katzen, die seit Stunden umeinander herumstrichen. Obwohl die Bewohner der Häuser verpflichtet waren, die Straße vor ihrer Tür von 18 bis 23 Uhr zu beleuchten, lag alles im Dunkeln. Wer in Soho wohnte, war meist froh, wenn er die Miete auf bringen konnte, Geld für kostspielige Brennstoffe besaß er nicht. Der leichte Wind, der die Häuserschlucht entlangzog, brachte die Schilder der Handwerker über den Eingängen der Werkstätten zum Schwingen und das Aneinanderreiben der Kettenglieder erfüllte die Luft mit einem stetigen Seufzen. Gegen neunzehn Uhr tauchten wie jeden Abend die roten Laternen der Latrinenleerer das Viertel in ein warmes Licht, das mit dem süßlich-schweren Gestank der Exkremente um die Aufmerksamkeit der Anwohner buhlte, bis es träge Richtung Leicester Square davonschlich.

Lord Kilmarnok zog angewidert die Nase hoch, als er wenig später die Gasse betrat und sich dem Haus mit der Nummer 5 näherte. Vor den Stufen zum Eingang hielt er einen Augenblick inne, dann schüttelte er energisch den Kopf, stieg hinauf und klopfte. Die Tür war nur angelehnt und sprang von selbst auf. Vorsichtig blickte der Adlige in das hell erleuchtete Innere.

Einen Augenblick war er überzeugt, sich in der Tür geirrt zu haben, denn er erkannte den Raum nicht wieder. Er wollte sich schon, eine Entschuldigung murmelnd, zurückziehen, als er plötzlich die junge Frau entdeckte, die wieder vor der hinteren Wand kniete und Bögen mit Mustern anbrachte. Die Farben dieser Blätter waren so verschieden von denen des Morgens, dass sich die gesamte Atmos phäre des Raumes verändert hatte. Diesmal hatte die Künstlerin ein warmes Blau gewählt, auf dem zarte weiße Linien die Wellen andeuteten, zwischen denen kleine Ruderboote ihre Bahn zogen. Auf den ersten Blick schienen dem Ankömmling die kleinen Kähne mit ihren weit nach hinten gelehnten Ruderern alle identisch zu sein, bis er erkannte, dass im hellen Fond jedes Bootes andere Menschen saßen: einmal ein verliebtes, kosendes Pärchen, einmal zwei streitlustige Alte, dazwischen ein in der Bewegung erstarrtes Geigenquartett, eine stillende Mutter oder ein steif thronender Soldat mit ordenübersäter Brust. Wie ein Bilderbuch eröffnete die Wand den Einblick in eine winzige, verlockende Welt und weckte die Sehnsucht, die vielfältigen Geschichten der farbenfrohen Personen kennen zu lernen. Und während am Mittag der Raum mit der Pflanzentapete wie eine wohlige Höhle gewirkt hatte, schien er nun weiter und größer. Lord Kilmarnok war es, als betrete er eine Uferpromenade, während er die Türschwelle überschritt.

Die junge Frau hatte das Quietschen der Tür gehört. Sie legte ihren Pinsel zur Seite und drehte sich um. Verwundert sagte sie: »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr tatsächlich kommt!«

Der Mann trat langsam ein und versuchte, seine Sinne an den neuen Anblick zu gewöhnen: »Ich auch nicht! Aber jetzt bin ich hier.«

Er schloss die Tür hinter sich und legte zwei Pakete, ein langes und ein breites, auf den Schneidertisch, bevor er sich der Frau näherte, die sich erhob und demonstrativ zwischen ihm und der Kammer Aufstellung nahm. Der Adlige sah sich suchend um: »Wo sind die anderen?«

Isabelle, die diesmal einen einfachen Rock über dem Mieder trug, rührte sich nicht. Ihre Worte abwägend, sagte sie: »Bei der brennenden Brücke. Dort scheint sich ja die ganze Stadt zu versammeln. Jedenfalls wollten mein Vater und Jizchak das einzigartige Schauspiel nicht verpassen. Kaum war der rote Glanz am Himmel, sind sie losgerannt. Philipp …« Ihre Stimme zitterte leicht: »… wird jeden Augenblick zurück sein, und meine Tochter ist gerade nach Hause gekommen. Sie wäscht sich.« Scharf fügte sie hinzu: »Ihr solltet aber trotzdem nicht auf dumme Gedanken kommen! Ihr müss tet mich töten, um zu ihm zu gelangen!«

Jetzt erst entdeckte Lord Kilmarnok die blitzende Schere in ihrer Hand. Obwohl er spürte, dass die Nähe des ihm so verhassten Mannes ihn tatsächlich unruhig werden ließ, versuchte er zu lächeln. Es misslang. Schnell versteckte er sein Gesicht hinter einem seidenen Taschentuch und sagte verschnupft: »Ich bin vor allem gekommen, um mich zu entschuldigen. Ich kann mir vorstellen, was du nach diesem Tag von mir denkst. Ich habe mich wie ein Verrückter benommen – aber ich will nicht, dass du mich verachtest.« Er hielt ihren prüfenden Blicken stand: »Tatsächlich möchte ich diesen Widerling immer noch umbringen, aber gerade jemand, der einen unehrenhaften Menschen beseitigen möchte, sollte sich dabei selbst ehrenhaft benehmen. Mein Auftreten heute Mittag war äußerst verwerflich, und ich bitte dich um Vergebung.«

»Bitte geht!«

»Erst, wenn du meine Entschuldigung angenommen hast.«

Mit hochgezogenen Brauen sah der Lord Isabelle direkt in die Augen, verbeugte sich dann tief und wandte dabei die Augen bewusst zum Boden, bevor er sich wieder aufrichtete. Die dunkelhaarige Frau musste unwillkürlich lächeln, weil zum ersten Mal in ihrem Leben jemand vor ihr eine Verbeugung gemacht hatte. Dann fing sie plötzlich an, wie ein kleines Mädchen zu kichern. Irritiert runzelte Lord Kilmarnok die Stirn, unsicher darüber, wie er ihre Reaktion deuten solle. Zudem kam sie mit gezückter Schere auf ihn zu. Die erheiterte Frau aber griff zu ihrem Zeichenblock, der auf einem Stuhl lag, und zog den verwunderten Mann ins Licht. Sie musterte neugierig seine Gesichtszüge und sagte: »Ihr seht gruselig aus. Ihr wart offensichtlich auch beim Feuer. Vielleicht hättet Ihr Euch waschen sollen, bevor Ihr hierher kommt. Obwohl: Das Muster auf Eurem Gesicht gefällt mir.«

Mit wenigen Strichen skizzierte Isabelle auf dem Papier die Ascheflecken, die das Gesicht des Edelmannes bedeckten und durch die die Tränen helle Kanäle gezogen hatten. Dabei lachte sie weiter vor sich hin. Sie riss das Blatt mit den dunklen Konturen ihres neuen Entwurfes ab und legte es zur Seite. Ehe der verblüffte Lord überhaupt reagieren konnte, hatte sie ihren Daumen an der Zun ge angefeuchtet und rieb ihm die Rußpartikel von der Wange. Fassungslos starrte der Mann die junge Frau an, was diese nicht da von abhielt, ihr Werk zu Ende zu bringen. Dann aber stockte sie kurz und zog dem Verdutzten mit einem Ruck den Hut mit-samt der Perücke vom Kopf und hielt beides wie eine Trophäe in der Hand. Die dunkelblonden Locken darunter glänzten schweißdurchzogen und räkelten sich der neu gewonnenen Freiheit entgegen. Mit einem grimmigen Ächzen griff der Adlige nach der Perücke – und ließ sie dann mit einem Aufschrei fallen. Isabelle bückte sich vorsichtig danach und hielt das traurige weiße Häuflein in die Luft: »Einige Funken haben sich in Eurer Perücke einge nistet, Eure Lordschaft, und kohlen nun mit den Haaren vor sich hin. Aber wenn Ihr sie unbedingt wieder aufsetzen wollt, bitte schön!«

Frederik von Kilmarnok trat einen Schritt zurück. Man sah ihm an, dass er den Ärger über die Art, wie sie ihn behandelte, unterdrücken musste, denn sein Adamsapfel zuckte fast ebenso schnell wie sein Atem. Er setzte sich auf den Stuhl und schlug verkrampft die Beine übereinander. Unentschlossen deutete er auf das Paket, das er auf den Tisch gelegt hatte, und sagte mit nasaler Stimme: »Ich habe als Zeichen meines Bedauerns ein Geschenk mitgebracht. Ich hoffe, es ist dir von Nutzen.«

Isabelle folgte seinem Finger mit den Augen. Mit einem kindlichen Jauchzer nahm sie das eingeschlagene Präsent in die Hand, bemerkte verwundert das Gewicht und löste dann mit kleinen, flinken Bewegungen das Wachspapier. Im Inneren fand sie ein Buch, dessen Titel sie mit einem Aufschrei las: »Das ›Complete Body of Architecture‹! Das ist doch erst in diesem Herbst erschienen. Seid Ihr wahnsinnig?«

Der Adlige lehnte sich zurück: »Du kennst das Buch?«

Sie begann in den Seiten zu blättern: »Natürlich. So viele Bücher über Tapeten gibt es ja nicht. Wobei ›kennen‹ viel zu viel gesagt ist. Ich habe ein einziges Mal kurz hineingeschaut. Meine Freundin Kathrin arbeitet als Zofe in einem vornehmen Haus. Sie hat mir erzählt, dass ihre gnädige Frau sich ein Buch über Inneneinrichtungen gekauft hat, und sie weiß, dass ich immer davon geträumt habe, so etwas zu machen. Sie hat mich dann, weil ich so gebettelt habe, einige Tage später, als ihre Herrschaften einen längeren Ausflug machten, heimlich in die Wohnung gelassen – obwohl es sie ihren Job gekostet hätte, falls man mich erwischt hätte. Dort konnte ich drei Stunden darin lesen und mir einige Dinge abschreiben. Weil es dieses Buch gibt, habe ich überhaupt erst angefangen, Muster für Tapeten zu entwerfen. Hier steht nämlich drin, dass es bald in allen Häusern Tapeten geben wird.«

Lord Kilmarnok machte eine abwertende Geste: »Nun, jetzt hast du ja selbst ein Exemplar. Und wie ich sehe, hat es sich gelohnt, den Buchhändler an einem Sonntag aus seiner Wohnung holen zu lassen. Offensichtlich habe ich ihm deine, wie nennst du es, ›Arbeit‹, also deine Beschäftigung, richtig beschrieben.«

Isabelle sah den Wartenden mit halb geöffneten Lippen nachdenklich an. Dann schlug sie das Buch langsam wieder zu und legte es zurück in den Umschlag. Ruhig faltete sie das Papier zusammen und hielt das fertige Paket mit ausgestrecktem Arm von sich: »So, wie Ihr eben noch ausgesehen habt, mit Ruß im Gesicht und qualmender Perücke, müsst Ihr dem Verkäufer viel Geld gegeben haben, damit er euch sonntags bedient hat. Ich will das Buch nicht.«

 

Der Adlige öffnete fragend beide Arme. »Warum denn nicht?«

Sie legte das Paket in seinen Schoß: »Ich weiß nicht, wer Ihr seid und was Ihr wollt. Und ich bedaure es, dass ich eben für einen Moment mein Misstrauen vergessen habe. Denn eines ist sicher: Ich nehme kein solch teures Geschenk von Euch an. Ihr könnt Euch vielleicht sonst alles von Eurem Geld kaufen, aber einen Ablass für Euer haltloses und verbrecherisches Verhalten bekommt Ihr von mir nicht. Auch nicht für ein so kostspieliges Buch. Lasst mich bitte in Frieden.«

Lord Kilmarnok fühlte sich ohne Perücke unwohl und schaute Isabelle zornig an: »Es ist ein Geschenk, nur ein Geschenk. Und ja, ich gebe es dir dafür, dass ich heute in diesem Haus unbeherrscht gewütet habe. Ich möchte mein Verhalten wieder gutmachen. Es ist einfach eine Entschuldigung. Musst du denn alles so kompliziert machen?«

»Ich?« Isabelle wurde mit jedem Wort lauter: »Wer kommt denn hier wie ein Berserker hereingestürmt, schießt um sich, bietet mir Unsummen für die privaten Erinnerungen, die Geschichte des Königs, und bringt dann abends ein Geschenk, für das ich normalerweise vier Monate arbeiten müsste? Vielleicht ist es wirklich besser, wenn Ihr jetzt geht.«

Angriffslustig blitzte sie Lord Kilmarnok an.

Von der Seite kam eine helle Stimme: »Nein, er darf nicht gehen!«

Isabelle erschrak, griff hinter die Abdeckung der Treppe und zog ihre Tochter an den Haaren hervor: »Schascha!« Der Klang schwang nach. »Wie lange sitzt du schon da?«

Das Mädchen, dessen weit auseinander stehende, tiefgrüne Augen der Lord zum ersten Mal bewusst wahrnahm, wand sich unter dem Griff seiner Mutter und blickte trotzig blinzelnd in den hellen Raum: »Das ist doch ganz egal! Warum willst du, dass er geht?«

Isabelle ließ so plötzlich los, dass die Kleine nach hinten stolperte. Die Stimme der jungen Frau war plötzlich sanft und ernst. Als sei der Lord gar nicht mehr anwesend, sagte sie: Wut und Angst. Das ist eine fürchterliche Mischung. So fürchterlich, dass er den König töten wollte. Er ist ein Mörder! Ganz gleich, ob er die Tat schon begangen hat oder nicht. Wäre Jizchak der König gewesen und hätte dieser Mann hier besser geschossen, dann wäre der König jetzt tot. Wir haben also gesehen, dass er dazu fähig ist. Bei so jemandem musst du sehr vorsichtig sein Denn wer andere verachtet, der verachtet auch sich selbst. Und das ist schlimm. Jemand, der sich selbst gern hat, der sich wirklich liebt, der tut anderen nicht weh. Verstehst du das?«

Schascha schaute zu Boden. Leise sagte sie: »Nein! Ich mag ihn, Mama. Er ist doch nur traurig.«

Lord Kilmarnok fühlte, dass seine Hände zitterten. Blass griff er nach seiner Perücke, dem zweiten Paket und dem Buch und drehte sich zur Tür. Er hatte die Klinke schon in der Hand, als ihn das Mädchen noch einmal anrief: »Du, Lord Frederik! Du schuldest mir noch etwas!«

Der Adlige hielt inne, zog mit fahrigen Fingern seinen Geldbeutel hervor und schnürte ihn auf. Schascha aber lief hinter ihm her und zog an seinem Mantel: »Darf ich mir etwas wünschen? Bitte!«

Sie schlüpfte unter seinem Arm hindurch und stellte sich in die Tür. Ihre Augen glänzten. Stolz auf ihren Einfall, rief sie mit einem kurzen Seitenblick zu ihrer Mutter: »Schenk mir das tolle Buch mit den Wohnungseinrichtungen!«

Isabelle, die sich schon wieder zu ihrer Tapete gewandt hatte, fuhr herum. Ihre Pupillen waren unnatürlich geweitet. Doch über das Gesicht des Lords zog ein befreites Lächeln. Er streckte der Kleinen das Buch hin: »Gerne! Hier hast du es.«

Ehe ihre Mutter reagieren konnte, hatte Schascha das Paket ergriffen. Lord Kilmarnok aber zwängte sich an dem Mädchen vorbei und verschwand in der Dunkelheit.

Ängstlich schaute das Mädchen in den Raum. Tränen schossen in ihre Augen, als sie den verzweifelten Gesichtsausdruck ihrer Mutter bemerkte, die ihre Sicherheit verloren hatte und mit einem Mal sehr jung und verletzlich aussah. Nach einem Moment des Schweigens nahm Isabelle eine wollene Mantille vom Stuhl, legte sich die Zipfel des Schals über die Brust und knotete sie hinter dem Rücken zusammen. Dann lief auch sie wortlos in die Nacht.

Am Ende des Blocks hatte sie den Lord eingeholt, der mit weiten Schritten in der Mitte der Straße Richtung Themse eilte. Einige Meter hinter ihm blieb sie schwer atmend stehen und rief: »Ihr sollt die Geschichte hören.«

Er hielt inne. Erst in diesem Augen blick bemerkten beide, dass es angefangen hatte zu regnen. Lord Kilmarnok schaute auf die glänzenden Steine und fühlte wegen der fehlenden Perücke nach langen Jahren zum ersten Mal wieder Regentropfen auf seiner Kopfhaut. Fast tonlos sagte er: »Lass mich!«

Sie trat neben ihn: »O nein! Ich bleibe niemandem etwas schuldig, genauso wenig wie Ihr. Es ist Euch mit einem schäbigen Trick gelungen, das kostbare Buch in unserem Haus zurückzulassen, aber es wird Euch nicht gelingen, mich zu beschämen.«

Ihre Stimme wurde leiser: »Möglicherweise mache ich einen großen Fehler, aber da Ihr wie besessen zu sein scheint, kann Euch nur die Wahrheit heilen. Ja, ich möchte, dass Ihr erfahrt, wie der König wirklich ist, und dass die Gefühle, die Ihr ihm gegenüber hegt, falsch sind. Ich kann nämlich Hass nicht ausstehen.« Sie nickte ihm auffordernd zu: »Also: Kommt!«

Der Adlige schüttelte langsam den Kopf. Er redete mehr mit sich selbst als mit der jungen Frau: »Vielleicht hattest du vorhin doch Recht. Es ist alles nicht so einfach, wie ich dachte. Ich kann jedenfalls nicht mehr in das Haus gehen, in dem er liegt. Jedes Mal, wenn ich ihm zu nahe komme, zerbreche ich innerlich. Irgendetwas Fremdes nimmt dann von mir Besitz, das mich Dinge tun und sagen lässt, die ich niemals wollte – die ich zumindest nicht geplant, geschweige denn bewusst gewünscht habe. Es ist, als träte ich in eine andere Welt ein, in der alle meine Verletzungen, Zweifel und Fragen wie fratzenschneidende Dämonen um mich stehen und über mich spotten. Dann fühlt es sich an, als ob genau in diesem Moment mein Schicksal entschieden würde. Und ich ahne, dass ich verlieren werde, gegen mich selbst und gegen die Welt. Dann will ich nur noch fliehen, aber ich weiß nicht, wohin.«

Isabelle schloss zu Lord Kilmarnok auf: »Hört mir doch erst einmal zu. Vielleicht habt Ihr Euch einfach geirrt. Vielleicht hat man Euch falsch informiert. Wir laufen alle mit Lebenslügen herum. Und die meisten davon entstammen einfach der Furcht vor der Wahrheit. Aber nicht jede Wahrheit schmerzt. Im Gegenteil. Eine Lüge hat immer nur die Macht, die wir Ihr verleihen. Bitte! Kommt! Auch wenn ich Eure Vorbehalte verstehe: Wir können nicht hier im Regen bleiben.«

Der Adlige, der noch immer das lange Paket in Händen hielt, öffnete die darumgewickelten Schleifen, zog einen langen Gegenstand hervor und hielt ihn der jungen Frau hin. Die wich schnell einen Schritt zurück. Ratlos fragte sie ihn: »Was ist das? Ein Gewehr?«

Lord Kilmarnok schmunzelte unwillkürlich: »Nein! Das ist kein Gewehr. Das ist ein Schirm, ein Schirm gegen den Regen. Ich habe ihn vorhin in einem Laden gekauft, als ich mich entschlossen habe, zu Fuß zu dir zu gehen. Das ist eine ganz ungewöhnliche neue Erfindung. Du hältst dieses Ding über den Kopf und wirst nicht nass.«