Bube, Dame, König

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Lord Kilmarnok sah ungläubig im Zimmer umher. Sein Blick huschte von einer Person zur nächsten und verharrte in tiefer Ratlosigkeit. Stammelnd fragte er: »Was? Ihr ... Ihr, du bist es nicht? Du bist nicht der König?«

Jizchak erhob sich langsam und lehnte sich dann schwer auf den Handlauf der Treppe. Seine Stimme klang leicht sarkastisch: »Eure Lordschaft! Schaut mich doch einmal etwas genauer an. Sehe ich etwa aus wie ein König?« Plötzlich wurde er ernst: »Na gut, Theodor sieht auch nicht mehr aus wie ein König. Aber Euer Gedächtnis scheint genauso miserabel zu sein wie Eure Treffsicherheit. Ihr kommt hier hereingestürmt, wollt den König erschießen und erinnert Euch nicht einmal mehr daran, wie er aussah?«

Der immer noch am Boden Liegende hatte plötzlich Tränen in den Augen. Unsicher rückte er seine Perücke zurecht und sprach mehr zu sich als zu den Anwesenden: »Ich kenne ihn gar nicht! Ich bin ihm auch nie vorher begegnet. Ich bin nach London gekommen, um die Ehre meiner Familie zu verteidigen.«

Isabelle nahm eine einfache Mantua vom Stuhl und hängte sie sich über die entblößten Schultern. Ihre Stimme war eng und gepresst: »Und Ihr meint, dass Ihr Eure törichte Familienehre wiederherstellt, wenn Ihr einem Sterbenden die letzten Tage raubt und daneben ein Kind zu Tode erschreckt?«

Als der Adlige sich erheben wollte, stellte ihm Philipp den Fuß auf die Brust und stieß ihn kraftvoll zurück. Lord Kilmarnok verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Kopf gegen eine Truhe, schien es aber in seiner Wut gar nicht zu bemerken. Schwer atmend lehnte er an dem Möbelstück, und es sah aus, als hätte er alle verfügbaren Muskeln seines Körpers gleichzeitig angespannt. Stolz hob er den Kopf und rümpfte die Nase. Plötzlich strömten die Worte aus seinem Mund wie ein Hornissenschwarm: »Der König. Euer König.« Verächtlich schnellte sein Kinn noch höher: »Ihr habt doch keine Ahnung. Er ist ein widerliches Schwein, ein gewissenloser Hochstapler, ein Schmarotzer, der die Welt zum Narren gehalten hat. Er verdient den Tod, nicht nur einmal, nein, tausendmal. Selbst ein Tier hat mehr Anstand im Leib als diese eklige Missgeburt. Keiner von euch weiß, wie es ist, wenn so jemand Schande über eine Familie gebracht hat. Er hat uns alles genommen. Und ich werde nicht eher Frieden finden, bis ich mich gerächt habe. Diese Ratte …«

Die Flüche hallten in dem kleinen Zimmer nach. Keiner sagte etwas. Jizchak kam von der Treppe und setzte sich auf den Stuhl, von dem Isabelle ihr Kleid genommen hatte. Sanft sagte er: »Ihr kennt ihn wirklich nicht. Wie Ihr ihn beschreibt … so ist der König nie gewesen!«

Lord Kilmarnok zog die Nase hoch, da er es nicht wagte, zu seinem Taschentuch zu greifen: »König! Ich höre immer nur König! Dass ich nicht lache. Ein aufgeblasener Popanz ist er, sonst nichts. Wer hat ihn denn jemals ernst genommen? Keiner. Man hat ihn ausgelacht. Ganz Europa hat sich über ihn amüsiert. Er war das Gespött aller Höfe dieser Welt.«

Er beugte sich vor: »Kennt Ihr die berühmte holländische Karikatur von ihm? Da sieht man ihn auf langen Stelzen, wie er verzweifelt versucht, eine über ihm hängende Krone zu erreichen. Aber er kam nicht dran. Nicht einmal mit diesen langen Dingern unter den Füßen. Er hatte einfach nicht das Format zu einem Herrscher. Er ist einfach ein Stück Unrat!«

Verächtlich spie Kilmarnok neben sich auf den Boden. Isabelle strich sich die Haare aus dem Gesicht: »Nun, zumindest hat er wesentlich bessere Manieren als Ihr! – Ich glaube, dass Ihr keine Ahnung habt, wovon Ihr eigentlich sprecht und was für ein Mensch er ist.« Ihre Züge entspannten sich: »Der König ist herzlich und voller Leidenschaft für das Leben. Er kann so ... so begeisternd sein. Und er war immer großzügig. Er hat damals sogar meine Taufe bezahlt, als mein Vater kein Geld besaß. Er ist ..., nun, er war ein edler Mann.«

Der Körper des Adligen zuckte unkontrolliert. Nur langsam gewann er die Beherrschung zurück. Für einen Moment rührte er sich nicht mehr, dann fragte er lauernd:

»Wieso: ›Er war‹?«

Jizchak riss den zerfetzten Ärmel seines Hemdes ab, um die Wunde zu verbinden. Mit zusammengebissenen Zähnen murmelte er: »Der König liegt im Sterben. Sie haben ihn aus dem Gefängnis entlassen, weil sie nicht für seine Beerdigung aufkommen wollen. Der Arzt hat gesagt, dass er höchstens noch eine Woche zu leben hat. Lasst ihm diese Woche. Sie würde Euren Hass nicht mindern.«

Lord Kilmarnok stützte sich erneut auf, als wolle er sich erheben. Philipp zuckte nach vorne, doch Isabelle hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Als der Adlige aufgestanden war, richtete er seine Kleider und strich den Stoff glatt. Scharf fragte er: »Warum? Warum sollte ich das tun? Warum sollte ich diesem Haufen Dreck etwas gönnen?«

Isabelle strich ihrer Tochter, die sich immer noch an sie schmiegte, beruhigend über das Haar: »Warum? Mein Gott, was wollt Ihr eigentlich? Der König kann niemandem mehr etwas tun. Er ist schwer krank und halluziniert die meiste Zeit. Ja, er erkennt nicht einmal mehr die Menschen um sich herum. Er nennt selbst mich andauernd mit fremden Namen. Bringt es Eurer Ehre irgendetwas, wenn Ihr einen wirren alten Mann tötet?«

Auf der Straße fuhr eine Kutsche vorbei, und das kreischende Geräusch der Räder erfüllte das Haus und schnitt jedes Wort ab. Lord Kilmarnok ließ seinen Blick langsam durch den Raum schweifen, während er sein schmerzendes Kinn rieb. Direkt unter dem Fenster des schmalen Zimmers stand ein großer Schneidertisch, der mit einer dünnen Staubschicht bedeckt war. Deutlich war an einer Stelle der Abdruck einer Schere zu erkennen, die jemand weggenommen hatte. In dem kleinen Kamin, der schmucklos in die Wand eingelassen war, brannte ein mageres Feuer. An der Rückwand aber, an der die junge Frau gearbeitet hatte, gingen zwei Türen ab, die zwischen den angebrachten Papierbögen wie die Augen eines schlafenden Riesen in den Raum ragten. Als nähme er seine Umgebung erst jetzt richtig wahr, fragte der Eindringling, indem er auf die Wand zeigte: »Was ist das hier?«

Isabelle ging an ihm vorbei und stellte sich schützend vor die Wand. Mit einem ironischen Unterton sagte sie: »Das? Ihr solltet eigentlich wissen, was das ist. Oder kommt Ihr von so weit vom Land, dass Ihr die neusten Moden dort gar nicht erst kennen lernt? Das, was Ihr hier seht, heißt Tapete.« Ihr Blick war mit einem Mal voller Stolz: »Falls Ihr es tatsächlich noch nicht mitbekommen habt: Die Zeiten der bemalten Räume und des Stucks sind vorbei. Darin sind sich alle Experten einig: Es bricht eine neue Epoche heran. Bald wird man in allen Häusern der Reichen die Wände mit bemalten Stoffen behängen. Und ich werde ihnen die Muster dafür liefern.«

Lord Kilmarnok zog verwundert die Oberlippe hoch. Dann sagte er mit leicht nasaler Stimme: »Welcher Edelmann wird von einer einfachen Arbeiterin ein Muster kaufen wollen?«

Die junge Frau wandte sich angewidert ab. Schascha aber schoss aus der Ecke, in der sie sich ängstlich verkrochen hatte, hervor, stellte sich vor dem Adligen auf die Zehenspitzen und gab ihm mit ihrer winzigen Hand eine Ohrfeige. Dann huschte sie blitzschnell zu ihrer Mutter zurück, um sich hinter ihr zu verstecken. Mehr verblüfft als erschreckt trat der Lord einen Schritt zurück. Dann hob er, verärgert über seine Irritation, die Hände. Philipp näherte sich dem Mann drohend, so als sei er für einen Anlass zum Verprügeln des Eindringlings dankbar, doch Isabelle hielt ihn wieder zurück: »Lass! Da sieht man nur, dass Geld keine Garantie für wirklichen Adel ist. Der Kerl ist vielleicht fein angezogen, aber er hat die Manieren eines Bauern und die Seele eines Unteroffiziers. Wer andere erniedrigen muss, ist immer selbst von Zweifeln zerfressen. Wir sollten ihn bedauern.«

Erbost zog der Zurechtgewiesene seine Jacke gerade und wollte eben zu einer heftigen Erwiderung ansetzen, als hinter der linken Tür ein verzweifelter Ruf erschallte: »Julia!«

Ehe einer der Anwesenden reagieren konnte, sprang Lord Kilmarnok an Isabelle vorbei, ergriff die Klinke und stürmte in die Kammer: »Wo ist das Schwein?«

Durch die Türöffnung kam ein schwacher Lichtschimmer, in dem sich der Rücken des Adligen deutlich abzeichnete. Konzentriert versuchte er, in aller Eile das Halbdunkel mit seinen Blicken zu durchdringen. Während die übrigen Anwesenden wie versteinert auf Lord Kilmarnok starrten, griff dieser zu einem Messer, das er am Hosenbund verborgen hatte, und hielt es vor sich. Kurz spiegelten sich die schwachen Lichter der Fenster in der Klinge, bevor er sie hob. Schascha heulte auf, als der Mann mit festen Schritten in dem Raum verschwand.

Zwei Sekunden später taumelte er zusammengekrümmt rückwärts wieder heraus und hielt sich den Bauch. Hinter ihm erschien Albrecht, der Großvater des Mädchens, und reckte strahlend einen Schürhaken in die Luft. Seine Augen folgten dem Metall, als hielte er ein Schwert in der Hand: »Ich wusste, dass Genua wieder Mörder schicken würde. Sie können es einfach nicht lassen. Und als ich den Schuss gehört habe, war ich bereit. Lang lebe der König.«

Albrecht salutierte militärisch korrekt und hüpfte dabei vor Freude leicht in die Luft. Seine Begeisterung steckte die anderen an. Isabelle nahm ihrem Vater den Schürhaken aus der Hand, mit dem der halb Blinde im Raum herumfuchtelte. Sie besann sich und sagte leise: »Lang lebe der König. Wie schön das klingt. Du weißt, dass er nicht mehr lang leben wird. Und das liegt nicht an solchen Trotteln wie diesem hier, sondern an der mangelnden Gesundheit seiner Majestät.«

Albrecht schaute mitleidig auf den um Atem ringenden Lord, dem Philipp gerade die Hände fesselte. Dann schüttelte er sich und nickte widerwillig: »Geh rein, Isabelle, er will dich sehen! Wir kümmern uns um diesen Kerl.«

 

Die junge Frau trat zu ihrer Tochter und begann, auch ihr die Spuren des Kleisters von den Kleidern zu streichen. Trocken erwiderte sie: »Der König will nicht mich, er will irgendeine Julia sehen. Und ich habe keine Lust, eine andere Frau für ihn zu spielen.«

Albrecht starrte sie verwundert an. Offensichtlich hatte er nicht mit einem Widerspruch seiner Tochter gerechnet. Er kratzte sich nachdenklich am Hals: »Isabelle. Du bist für ihn diese Julia. Ist das so schlimm? Bitte enttäusche ihn nicht. Er hat es schwer genug. Guck nicht so. Ja, er ist immer noch etwas wirr, aber er spricht weiterhin davon, dass er dir etwas diktieren muss. Bitte, Isabelle!«

Die junge Frau zog verärgert die Schultern hoch: »Papa, ich kann nicht. Begreifst du das nicht! Ich muss arbeiten. Falls du es noch nicht bemerkt hast: Deine Augen werden jeden Tag schlechter. Nähen kannst du schon lange nicht mehr. Und wenn die Stadt merkt, dass ihr Aushilfsnachtwächter nicht mehr richtig sieht, wirst du diese Arbeit auch verlieren. Wovon sollen wir dann leben?«

Albrecht fiel in sich zusammen. Der Enthusiasmus über seinen Sieg verließ ihn genauso schnell, wie er gekommen war. Seine Stimme ging in ein Jammern über: »Isabelle. Es ist sein letzter Wille. Er hat so viel für uns getan.«

Isabelle beugte sich zu ihrer Tochter, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. Unwillig fragte sie: »Papa, wem will denn ein halbtoter König noch schreiben?«

Der Alte streckte die Handflächen vor, als präsentiere er ein Tablett für die gesuchte Antwort: »Ich weiß es nicht, aber es scheint das Letzte zu sein, was ihn noch interessiert. Er spricht von nichts anderem: ›Ich werde ihnen alles erklären. Sie sollen die ganze Wahrheit erfahren‹, sagt er.«

Jizchak murmelte: »Wahrscheinlich ist er schon so weggetreten, dass er denkt, er könne ein letztes Mal Verbündete für eine Rückkehr auf den Thron finden. Zumindest liegt ihm etwas auf dem Herzen, was er loswerden will.« Der gewitzte Mann, der inzwischen seine Wunde notdürftig verbunden hatte, erhob sich von seinem Stuhl und strich sich über sein kahles Haupt: »Isabelle! Dein Vater hat Recht. Schon in den Zeiten, in denen ich bei ihm im Gefängnis war, hat er oft davon gesprochen, dass er noch etwas zu erledigen hätte. Ich habe allerdings keine Ahnung, was das sein sollte. Wahrscheinlich eine Art Testament. Oder eine Beichte. Andererseits: Ist das so wichtig? Ihm bedeutet es viel. Kommt es dann noch darauf an, was es uns bedeutet?«

Er zuckte leicht mit den Schultern: »Ich gebe zu: Ich habe seine andauernde Sehnsucht, sich der Welt zu erklären, damals für eine Marotte gehalten. Ich dachte immer: Warum will er sich denn jetzt noch rechtfertigen. Aber ich weiß auch, dass er sehr unter dem Spott und den Hänseleien gelitten hat, die ihm regelmäßig zugetragen wurden. Er fühlte sich zutiefst verletzt, weil er überzeugt war, dass keiner seiner Kritiker sein Anliegen wirklich verstanden hatte. Ich könnte mir vorstellen, dass sein Wunsch in diese Richtung geht. Offensichtlich gibt es einige Personen, denen er vor seinem Tod noch einmal die Wahrheit über sein Leben mitteilen möchte.«

Isabelle wandte sich den zusammengelegten Papierbögen zu, die sich gerade wieder von der Wand lösten: »Philipp, dieser Knochen leim hält immer noch nicht. Du musst ihn verbessern. – Wenn euch die Erzählungen des Königs so wichtig sind, dann schreibt sie doch selbst auf. Ich kann nicht!«

Sanft legte der Jude seine Hand auf die Schulter der Frau: »Was ist los mit dir? Du weißt doch, wie es ist: Dein Vater sieht nichts mehr, Philipp muss zurück in die Metzgerei – und ich, ich habe eine kaputte Hand.« Er hielt seine von der Gicht verkrümmte Rechte hoch: »Außerdem verlangt er nun einmal nach dir.«

Isabelle fuhr unwirsch herum: »Ich will aber nicht. Ich muss Geld verdienen.«

»Ich zahle dir ein Pfund pro Tag.« Niemand hatte mehr auf den am Boden liegenden Mann geachtet, der nun trotzig den Kopf hob und sein Angebot wie einen Eindringling in den Raum stellte. Die Frau in Männerhosen strich sich erneut die Haare aus dem Gesicht. Mit einem abschätzenden Blick versuchte sie, den Fremden zu durchschauen. Sie reagierte zögerlich: »Ein Pfund pro Tag? Das ist ziemlich viel Geld. Warum?«

Lord Kilmarnok spielte nervös mit seiner Zunge zwischen den Vorderzähnen und versuchte dabei, sich mit den gebundenen Händen an der Wand hochzudrücken: »Alle hier scheinen sich einig zu sein, dass dieser verfluchte Kerl anders ist, als die Welt denkt. Ja, dass man sich in ihm getäuscht hat. Wenn ich euch zuhöre, dann klingt es auf einmal so, als ob die vielen wohlangesehenen Menschen, die es für nötig hielten, mich vor ihm zu warnen, alle verrückt sind. Ich möchte wissen, ob das stimmt. Ich möchte wissen, wer hier die Wahrheit verdreht. Und da du nur bereit bist, die wie auch immer geartete Rechtfertigung des Bettlerkönigs aufzuschreiben, wenn du deinen Unterhalt sichern kannst, bin ich bereit, dich dafür zu bezahlen. Hör auf diese beiden alten Männer.« Er blickte nach rechts zu den beiden, um sich ihre Zustimmung einzuholen.

Isabelle machte eine wegwerfende Handbewegung: »Ich soll Euch für Euer Geld das Diktierte vorlesen? Das mache ich nicht!«

Der Gefangene hatte seinen Oberkörper wieder aufgerichtet. Er suchte ihre Augen mit seinem Blick: »Es reicht, wenn du mir erzählst, was er gesagt hat. Und wenn etwas zu Persönliches dabei ist, dann lass es einfach weg. Einverstanden?«

Mit einem Ruck zog die junge Frau gleich mehrere Papierbögen von der Wand und knüllte sie zusammen. Schweigend drückte sie den klebrigen Haufen dem Mädchen in die Hand und starrte dabei auf den Boden. Schascha aber grinste sie an: »Kaufst du mir von dem vielen Geld ein neues Kleid?«

Isabelle blickte auf das immer noch feuchte einzige Kittelchen ihrer Tochter und schluckte. Dann sagte sie: »Gut. Da ihr euch ja alle einig seid. Ich werde zu ihm gehen. Und Ihr, Lord Kilmarnok ...«, sie sprach den Namen aus, als spuckte sie ihn auf die Erde, »... könnt heute Abend wiederkommen. Dann werde ich Euch für ein Pfund berichten, was er mir erzählt hat. Und ich werde entscheiden, was ich Euch sage und was nicht. Damit das klar ist. Mach ihn los, Philipp!«

Sie hob die Schere auf, die vor ihr auf dem Boden lag, und hielt sie dem jungen Mann hin. Man sah dem Metzgergesellen an, dass ihm die Entwicklung der Dinge nicht gefiel. Er hätte dem Eindringling lieber eine gehörige Tracht Prügel verliehen, doch ein Blick auf das geschwollene Gesicht des Mannes beruhigte ihn. Er nahm Isabelle die Schere aus der Hand, wobei er sorgsam darauf bedacht war, ihren Handrücken bei der Übergabe zu berühren. Dann schnitt er die Fesseln auf und ließ Lord Kilmarnok frei. Dieser wandte sich sofort zur Haustür, hielt dann aber noch einmal kurz inne: »Augenblick! Woher weiß ich, dass dort hinten tatsächlich der Mann liegt, den ich suche? Vielleicht ist das hier alles eine einzige Farce.« Er klang jetzt wieder so herrisch und sicher wie bei seinem Eintreten: »Ich will ihn sehen! Nur einen Augenblick.«

Allerdings hatte er wohl aus den soeben gemachten Erfahrungen gelernt, denn er versuchte gar nicht erst, seinem Wunsch nachzugeben und mit Gewalt zu der Kammer vorzudringen, sondern blickte fordernd in den Raum. Jizchak kramte konzentriert in seiner Tasche: »Ihr erwartet doch nicht ernsthaft, dass wir Euch zu ihm lassen. Aber es gibt etwas, das ich Euch zeigen möchte.«

Geheimnisvoll lächelnd zog der Jude seine Hand wieder aus dem Rock hervor, öffnete sie und hielt Lord Kilmarnok eine kleine Münze hin: »Schaut sie Euch gut an. Es ist eine der seltenen Silbermünzen zu einem halben Scudo mit dem Bild des Königs darauf. Sie wurden in seinem Land geprägt – und sie ist das Letzte, was Seiner Majestät von seinem herrlichen Reich geblieben ist. Der König hat dieses Kleinod auch in den Zeiten, in denen es ihm elendig ging, niemals ausgegeben. Es symbolisiert sein Lebenswerk. Im Gefängnis bekam er eines Tages Angst, die Münze könne ihm gestohlen werden, darum hat er sie mir anvertraut. Aber jedes Mal, wenn ich kam, um ihn zu besuchen, musste ich sie mitbringen. Es ist, als ob er sich daran festhält. Diese Münze sagt ihm, wer er ist. Versteht Ihr: Wenn die Anfeindungen und das Gelächter um ihn herum immer größer werden, weiß er bisweilen selbst nicht mehr so genau, ob er sich das nicht alles eingebildet hat: den geschmückten, königlichen Palast, die schreienden, jubelnden Menschenmassen, die wilden Feldzüge, die goldene Krone und seinen Hofstaat. Und dann lässt er sich von mir dieses Silberstück zeigen und sieht: ›Es ist wahr. Ich bin der König.‹«

Lord Kilmarnok drehte sich um, ging aus dem Haus und zog die Tür so energisch hinter sich zu, dass der Knall die Zurückgebliebenen zusammenfahren ließ. Sanft zog Isabelle ihre Tochter an sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Wann ist endlich Schluss mit dem Wühlen in der Vergangenheit? Ich will das nicht mehr! Wir beide, du und ich, wir müssen nach vorne schauen. Nur nach vorne. Hörst du!«

Schascha nahm die Hand ihrer Mutter und drückte einen vorsichtigen Kuss darauf. Die Turmuhr der St. Annenkirche schlug zwei, und aus dem Himmel über der Stadt mischten sich kleine Schneeflocken wie Sterne unter das beständige Nieseln. Im Haus aber löste sich Isabelle aus der Umarmung, ging erst zögernd und dann mit zunehmender Gewissheit auf die Tür zur kleinen Kammer zu und trat mit einem Satz in die Geschichte ein.

II.

Es gibt Gut und Böse nicht in Reinform. Diese Worte sind nur Andeutungen für die zwei Seiten einer Medaille. Das Gute allein macht jedenfalls nicht glücklicher als das Böse. Mag das auch noch so oft hingebungsvoll verkündet werden. Beides, Gut und Böse, legt den Menschen in Ketten und raubt ihm seinen Willen. Das Böse, weil es heimtückisch die Macht über alles Streben übernimmt, das Gute, weil es auf perfide Art die Freiheit des Menschen untergräbt: Einer, der nur noch Gutes tun will, hat ja keine Wahl mehr. Er ist wie eine Kompassnadel ausgerichtet, er muss den ewig gültigen Gesetzen des edlen Lebens gehorchen und verliert sich darin. Er gibt sein Ich gänzlich an das Gute ab. Ich konnte das nie. Obwohl ich es versucht habe. Vergeblich. Das Leben funktionierte bei mir nicht nach solch einfachen Formeln. Ich spürte, dass jeder, der eifrig nach Gutem strebt, von der Angst beherrscht wird, etwas falsch zu machen, so sehr, dass er verkrampft und verzagt. Und meist schienen mir diese Menschen keineswegs lebenstauglicher als diejenigen, die sich niemals dem Ideal des Guten verschrieben haben.

Gebt es zu, ihr Gutgläubigen: Es existiert nicht nur ein Fanatismus des Bösen, sondern auch einer des Guten. Wer mit verbissener Miene Heil verkündigt, unterscheidet sich in nichts von demjenigen, der willentlich dem Bösen Vorschub leistet. Wie ich solche Pharisäer hasse! Jeder, der sich keine Fehler mehr erlaubt, beraubt sich mit blank poliertem Gewissen des Guten, nachdem er so sehr giert. Und eines weiß ich sicher: Die durch und durch Guten haben in dieser Welt noch nie etwas bewegt. Vielleicht, weil es ihnen an Mut mangelt, dem Bösen ins Auge zu schauen. Sie stehen weit weg und schimpfen, aber sie machen sich nicht dreckig, denn das würde ihr eigenes Dasein beschmutzen.

Diejenigen, die den Lauf der Geschichte verändern, kennen ihre dunklen Anteile. Sie lügen die Schatten nicht weg, sondern wissen, dass man sie nur dann hinter sich lassen kann, wenn man ins Licht schaut. Und je höher die leuchtenden Ideale stehen, denen solche Lebenskünstler nachfolgen, desto kürzer werden ihre Schatten. Irgendwann sind die schwarzen Anhängsel für sie so selbstverständlich geworden, dass sie kaum noch darüber nachdenken, geschweige denn darüber stolpern. Diejenigen dagegen, die ewig vom Guten reden, machen nichts anderes, als ihren eigenen Schatten pausenlos zu studieren. Sie glauben tatsächlich, sie könnten vor ihm davonlaufen, wenn sie ihn nur lange genug analysieren und verdammen. Welch ein Irrsinn, welch eine Hybris: Seinem Schatten entkommt man nicht. Denn das Dunkle ist ein treuer Weggefährte. Und wen man nicht besiegen kann, mit dem soll man sich verbünden. Nur wer die Freiheit hat, Böses zu vollbringen, hat auch die Freiheit, Gutes zu tun.

Ich habe mich mit meinen Schatten angefreundet. Ich heiße sie nicht gut, aber seit ich sie nicht mehr als Feinde betrachte, komme ich plötzlich mit ihnen zurecht. Meinte Jesus das, als er sagte: »Liebet eure Feinde!«? Vielleicht verlieren die Menschen, die sich ihrer Schatten bewusst sind, auch schneller ihre Allmachtsfantasien. Ich jedenfalls erfuhr sehr bald, dass Gut und Böse letztlich nicht in meiner Hand liegen: Der schlechteste Wille konnte unendlich viel Gutes zur Folge haben und die beste Absicht den Nächsten mit Leid überschütten. Ich genieße diese Erkenntnis. Ich bin frei, mich mit aller Kraft für ein Ziel einzusetzen, und ahne zugleich, dass in meinem Handeln gerade nicht das Heil der Welt liegt. Abgesehen davon sind mir in all den Jahren keine überzeugenden Kriterien begegnet, um Gut und Böse wahrhaft zu unterscheiden. Beide kommen allzu gerne im Gewand des anderen daher und verführen die Sinne. Ich kann diejenigen, die sich an ein Ideal des Guten klammern, dennoch verstehen, sie scheuen die frustrierende Suche nach dem, was wirklich trägt. Vielleicht lähmt sie auch nur die Furcht, dass es möglicherweise gar kein Gut und Böse gibt.

 

Ich habe für diese Erkenntnis teuer bezahlt: mit meinem Leben – einem Leben, das von Anfang an unter dem Doppelstern von Gut und Böse stand. Mein Gott, warum konnte ich es nicht ein einziges Mal einfach haben? Ich musste immer wählen, selbst bei den Dingen, bei denen alle anderen Menschen Gewissheit haben. Geboren wurde ich am 25. August, dem heißesten Tag des Jahres 1691, der schon mittags ein Gewitter so schwül und wütend ankündigte, dass die Hebamme zugleich schwitzte und fröstelte. Nicht einmal das Wetter wollte sich für mich entscheiden. Als ich den Leib meiner Mutter verlassen hatte, erklärte mich die Helferin nach kurzem Anschauen für tot und legte mich achtlos zur Seite. Mein Vater, der mich wenig später in einer Decke hinaustrug, um mich hinter dem Haus zu vergraben, bemerkte den flatternden Hauch von Leben in mir und holte mich zurück. So wurde ich zweimal geboren.

Meine Mutter, die noch zwischen den blutigen Laken lag und fassungslos über meinen Tod trauerte, bekam an diesem Tag ebenfalls einen Riss in ihrer Seele. Einerseits liebte sie mich nach meiner Rückkehr mit einer Hingabe, die aus dem Irrtum eine Auferstehung machte, andererseits konnte sie es sich niemals verzeihen, dass sie nicht selbst ein Auge auf mich geworfen und somit meinen Verlust, den sie ja wahrhaft empfinden musste, mitverschuldet hatte. Sie wollte immer nur Gutes für mich, so sehr und so intensiv, dass daraus ein Kerker für mich wurde. Um sicherzugehen, dass es mir auch an nichts mangelte, ließ sie mich nicht nur nach calvinistischem Bekenntnis, sondern einige Monate später auch noch katholisch taufen. Zweiteres bedurfte eines wüsten Lügengebildes, das sie in Anbetracht meiner messianischen Attribute dem Priester mit rotgeklatschten Wangen und einem Beutel Münzgeld als die ach so reine Wahrheit andrehen konnte. So wurde ich zweimal gesegnet.

Vielleicht liegt mir das Hin- und Hergerissensein aber auch im Blut. Schon mein Vater kannte die Not, zwischen zwei Welten wählen zu müssen. Er entschied sich als junger Mann für Amelie, die betörende Kaufmannstochter aus Visé, gegen den erklärten Willen seiner Familie, die eine derartige Liaison für einen angehenden Baron strikt ablehnte und ihn mit Anfeindungen verfolgte, die man dem ärgsten Feind nicht wünschen würde. Doch die Ermahnungen fruchteten nichts, sie machten alles nur noch schlimmer. Mein Vater hatte sein Herz verloren und versuchte nach seiner Enterbung, als Kommandant eines der Forts von Metz seiner kleinen Familie ein Auskommen zu schaffen. Obwohl ich ihn nie wirklich kennen gelernt habe – er starb einige Jahre nach meiner Geburt –, schweb te seine zwiegespaltene Seele immer über uns. Die Familie Neuhoff nahm zwar meine Mutter, meine Schwester und mich in einem Anflug von Reue auf dem Familiengut Pungelscheid bei Werdohl auf, doch sie ließ mich immer spüren, dass etwas Ungeheuerliches in meinen Blutbahnen floss, ein wahrhaft explosives Gemisch, von dem Gefahr ausging. Und meine Mutter, die noch immer eine bezaubernde Frau war, hatte bald einen energischen Verehrer, der sich über mich einen Zugang zu ihrem Herzen erhoffte. So wurde ich zweimal erzogen.

Dieses Muster hat mich nicht verlassen. Ich habe zu keiner Zeit meines Lebens gewusst, wo ich hingehöre. Immer rissen mindestens zwei Wirklichkeiten an mir und forderten eine Entscheidung. Sie hielten meine Seele unter Spannung: Gut und Böse, Hell und Dunkel, Trauer und Freude. Diese Spannung hat mich frei gemacht, mich zu entscheiden, doch was soll ich mit einer solchen Freiheit? Ich verfluche sie. Heute weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich bin: ein König, ein Baron, ein Kaufmann oder einfach ein Idiot, der tatsächlich glaubt, dass es einen Ort der Geborgenheit gibt, an dem der ewige Zwiespalt seiner Seele ein Ende hat? Ich werde es wohl nicht mehr herausfinden – aber er kann es. Wenn er meinen Brief eines Tages erhält. Er wird verstehen, was ich nicht verstehe. Julia, komm, ich will dir erzählen, wie es wirklich war. Schreib es auf, bitte ... Julia!