Zärtlich ist die Nacht

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VIII



In den nächsten Wochen empfand Dick eine gewaltige Unzufriedenheit. Der pathologische Ursprung und das mechanische Beenden der Angelegenheit ließen einen faden, metallischen Nachgeschmack zurück. Nicoles Gefühlen war übel mitgespielt worden – wie, wenn es sich nun herausstellen würde, daß es seine eigenen gewesen waren? Notgedrungen mußte er sich eine Zeitlang das Glück fernhalten – im Traum sah er sie auf den Klinikwegen dahinschreiten und ihren Strohhut schwingen.



Einmal sah er sie in Person; als er am Palast-Hotel vorbeiging, bog ein prächtiger Rolls Royce in die halbmondförmige Auffahrt ein. Im Vergleich zu seinen riesigen Ausmaßen klein wirkend und von hundert überflüssigen Pferdekräften gezogen, saß Nicole darin, mit einer jungen Dame, die er für ihre Schwester hielt. Nicole sah ihn, und alsbald öffneten sich ihre Lippen in einem Ausdruck des Schreckens. Dick zog seinen Hut und ging vorüber, doch war die Luft um ihn einen Augenblick erfüllt vom Geräusch all der umherschwirrenden Kobolde des Großmünsters. Er versuchte, sich die Sache von der Seele zu schreiben, in einer Denkschrift, die ausführlich das traurige Leben behandelte, das vor ihr lag, und die Möglichkeiten eines neuen Ausbruches der Krankheit unter dem Druck, den die Welt unweigerlich auf sie ausüben würde – alles in allem eine Denkschrift, die wohl jeden überzeugt hätte außer dem, der sie geschrieben hatte.



Im großen und ganzen war der Zweck dieser Bemühung, sich noch einmal darüber klarzuwerden, inwieweit er gefühlsmäßig beteiligt war; von da an sorgte er entschlossen für Gegenmittel. Eins davon war die Telefonistin aus Bar-sur-Aube, die jetzt durch Europa, von Nizza nach Koblenz, eine verzweifelte Treibjagd nach den Männern veranstaltete, die sie in ihrer unvergleichlich schönen Urlaubszeit kennengelernt hatte; ein weiteres war, daß er Anstalten traf, im August mit einem Regierungstransport nach Hause zu fahren; ein drittes die konsequente Steigerung seiner Arbeit an den Korrekturbogen für das Buch, das den Psychiatern der Deutsch sprechenden Welt im Herbst vorliegen sollte.



Dick war dem Buch längst entwachsen; nun wollte er praktische Forschungsarbeit leisten. Wenn er einen Posten als Assistent bekam, mußte ihm eine Menge Material zufallen.



Inzwischen hatte er ein neues Werk geplant: »Ein Versuch, die Neurosen und Psychosen einheitlich und pragmatisch zu klassifizieren, auf Grund der Untersuchung von fünfzehnhundert Prä-Kraepelin- und Post-Kraepelin-Fällen, wie sie  in der Terminologie der verschiedenen zeitgenössischen Schulen diagnostiziert werden würden – sowie eine Chronologie solcher Meinungsabweichungen, die unabhängig entstanden sind.«



Dieser Titel würde monumental wirken.





Nach Montreux fuhr Dick langsam mit dem Rad, sah soviel wie möglich nach dem Jugenhorn aus und war von dem Glitzern des Sees geblendet, der durch die Alleen der Strandhotels hindurchschimmerte. Ihm fielen die Scharen von Engländern auf, die nach vierjähriger Pause wieder zum Vorschein gekommen waren und mit mißtrauischen Detektivblicken umhergingen, so als könnten sie in diesem verdächtigen Lande jeden Augenblick von deutschen Räuberbanden überfallen werden. Überall ein Neu-Aufbauen und Wiedererwachen in dieser Welt, die eine Sturmflut in Trümmer gelegt hatte. Auf seinem Weg nach Süden, in Bern und in Lausanne, hatte man Dick neugierig gefragt, ob wohl in diesem Jahr Amerikaner kommen würden. »Im August oder am Ende schon im Juni?«



Er trug kurze Lederhosen, ein Militärhemd und Bergschuhe. In seinem Rucksack befanden sich ein Leinenanzug und einmal Unterwäsche zum Wechseln. Bei der Glion-Drahtseilbahn gab er sein Rad auf und trank auf der Terrasse der Bahnhofswirtschaft ein kleines Bier; dabei beobachtete er, wie die Bahn wie ein kleiner Käfer den Bergabhang von achtzig Grad heruntergekrochen kam. Sein Ohr war voll von geronnenem Blut, weil er auf dem Tour de Pelz, im Gefühl, daß ein Athlet an ihm verlorengegangen sei, eine Spurtstrecke eingelegt hatte. Er ließ sich Alkohol geben und reinigte die Ohrmuschel, während die Drahtseilbahn zur Station herabglitt. Er sah, wie sein Rad verstaut wurde, warf seinen Rucksack in das untere Abteil und stieg selbst hinein.



Die Wagen von Drahtseilbahnen im Gebirge sind in schiefer Ebene gebaut, ähnlich der heruntergezogenen Hutkrempe  eines Mannes, der nicht erkannt werden will. Wasser entströmte dem Hohlraum unter dem Wagen; auf Dick machte das Geniale dieser Erfindung großen Eindruck – der andere Wagen auf dem Berggipfel nahm jetzt Wasser ein und würde den erleichterten Wagen, sobald die Bremsen gelockert waren, nach dem Gesetz der Schwerkraft hochziehen. Das war entschieden eine große Erfindung. Auf der Bank gegenüber unterhielten sich zwei Engländer über das Kabel selbst.



»Die in England hergestellten halten immer fünf bis sechs Jahre. Vor zwei Jahren hatten uns die Deutschen unterboten, und wie lange, meinen Sie, hat ihr Kabel gehalten?«



»Wie lange denn?«



»Ein Jahr und zehn Monate. Dann hat die Schweiz es an die Italiener verkauft. Bei denen ist die Kabelkontrolle nicht so streng.«



»Ich kann mir vorstellen, daß es für die Schweiz entsetzlich wäre, wenn ein Kabel risse.«



Der Wagenführer schloß die Tür, er telefonierte mit seinem Kollegen oben zwischen den Berghängen, und mit einem Ruck wurde der Wagen angezogen und trieb auf die Spitze eines saftiggrünen Berges zu. Nachdem er die niedrigen Dächer unter sich gelassen hatte, breitete sich der Himmel von Vaud, Wallis, Savoyen und Genf wie ein Panorama um die Fahrgäste aus. Im Mittelpunkt des Sees, von dem hindurchfließenden Strom der Rhône erfrischt, lag der wahre Mittelpunkt der westlichen Welt. Auf ihm schwammen Schwäne, die Booten, und Boote, die Schwänen glichen, beide im Nichts der gefühllosen Schönheit verloren. Es war ein schöner Tag, die Sonne glitzerte auf dem Grasufer unten und auf den weißen Plätzen vor dem Kurhaus. Die Menschen auf den Plätzen warfen keinen Schatten.



Als Chillon und das Inselschloß Salagnon in Sicht kamen, wandte Dick seine Blicke dem Innern des Wagens zu. Die Drahtseilbahn befand sich über den höchsten Häusern des  Ufers; zu beiden Seiten erschien von Zeit zu Zeit in einer Fülle von Farben ein Gewirr von Laub und Blumen. Es waren Gärten, die an der Bahn entlangliefen, und im Wagen war eine Tafel: »Défense de cueillir les fleurs.«



Man durfte während der Fahrt nach oben die Blumen zwar nicht pflücken, aber die Blütenzweige drangen beim Vorbeifahren herein – Dorothy Perkins-Rosen ließen sich geduldig durch jedes Abteil schleifen, schaukelten gemächlich in der Bewegung des Wagens, gaben schließlich nach, um zu ihren rosa Blütenbüscheln zurückzuschnellen. Wieder und immer wieder schwankten diese Zweige durch den Wagen.



Dick gegenüber, in dem höherliegenden Abteil, erhob sich eine Gruppe von Engländern und erging sich in erstaunten Ausrufen darüber, daß der Himmel unter ihnen abzusinken schien; plötzlich entstand eine Bewegung unter ihnen, sie traten zur Seite, um zwei junge Leute durchzulassen, die, um Entschuldigung bittend, in das rückwärtige Abteil der Drahtseilbahn – Dicks Abteil – hineinkletterten. Der junge Mann war ein Italiener mit Augen wie ein ausgestopfter Hirsch; das Mädchen war Nicole.



Einen Augenblick waren die beiden Kletterer außer Atem von der Anstrengung. Als sie sich, lachend und die Engländer in die Ecken drängend, niederließen, sagte Nicole: »Hello.« Sie sah entzückend aus; Dick stellte sofort eine Veränderung fest und erkannte alsbald, daß ihr feines, seidiges Haar kurzgehalten war wie das von Irene Castle und sich in Locken bauschte. Sie trug einen pastellblauen Pullover und einen weißen Tennisrock – sie wirkte wie ein junger Maienmorgen, und es haftete ihr keine Spur von der Klinik mehr an.



»Uff!« japste sie. »Huuh, dieser Aufpasser! Man wird uns an der nächsten Haltestelle festnehmen. Doktor Diver – Conte de Marmora.«



»Ach, du lieber Himmel!« keuchte sie und befühlte ihre neue Frisur. »Meine Schwester hat Fahrkarten für die erste Klasse gekauft – das ist bei ihr Prinzip.« Sie tauschte Blicke  mit Marmora und rief: »Dann merkten wir, daß die erste Klasse das kleine Abteil hinter dem Wagenführer ist – mit Vorhängen gegen Regen versehen, so daß man nicht hinaussehen kann. Aber meine Schwester ist sehr würdevoll –« Wieder lachten Nicole und Marmora in jugendlicher Vertrautheit.



»Wohin wollen Sie?« fragte Dick.



»Nach Caux. Sie auch?« Nicole sah auf sein Kostüm. »Ist das Ihr Rad, das vorne verstaut worden ist?«



»Ja. Montag will ich hinunterfahren.«



»Und mich nehmen Sie auf der Lenkstange mit, ja? Im Ernst – wollen Sie? Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.«



»Nein, ich werde Sie auf den Armen hinuntertragen«, protestierte Marmora heftig. »Ich fahre Sie auf Rollschuhen, oder ich lasse Sie fallen, und Sie schweben langsam wie eine Feder hinunter.«



Welche Seligkeit in Nicoles Zügen – wieder eine Feder zu sein statt eines Bleigewichts, dahinzugleiten statt sich zu schleppen. Es war eine Freude, sie zu beobachten – zeitweilig war sie affektiert schüchtern, posierte, schnitt Grimassen und gestikulierte – dann wieder fiel ein Schatten über sie, und die Erinnerung an vergangenes Leid durchströmte sie bis in die Fingerspitzen. Dick wünschte sich fort von ihr; er fürchtete, sie an eine Welt zu gemahnen, die gottlob hinter ihr lag. Er faßte den Entschluß, im anderen Hotel abzusteigen.



Als die Drahtseilbahn kurz anhielt, bewegten sich die Neulinge erregt und gespannt mitten im Blau des Äthers. Es handelte sich jedoch lediglich um einen geheimnisvollen Grüßeaustausch zwischen dem Führer des nach oben und dem Führer des nach unten fahrenden Wagens. Dann ging es höher und höher über einen Waldweg und eine Bergschlucht – dann wieder über einen Abhang, der von den Fahrgästen aus gesehen bis zum Himmel hinauf voller Narzissen war.  Die Leute in Montreux, die auf den Plätzen am See Tennis spielten, wirkten jetzt wie Stecknadelköpfe. Etwas Neues lag in der Luft: Frische – Frische, die durch Musik Gestalt annahm, als sie das Orchester im Hotelgarten spielen hörten, während die Bahn nach Glion hineinglitt.

 



Als sie in die Bergbahn umstiegen, wurde die Musik von dem Rauschen des Wassers übertönt, das aus dem hydraulischen Kessel abgelassen wurde. Unmittelbar über ihnen lag Caux, wo die tausend Fenster eines Hotels in der Abendsonne erglühten.



Aber diese Fahrt nach oben war anders – eine Lokomotive mit robusten Lungen schob die Reisenden in Schraubenlinien in die Runde, bergauf, bergab; sie ratterten durch tiefhängende Wolken, und einen Augenblick lang konnte Dick durch den sprühenden Dampf der steil aufwärtsfahrenden kleinen Hilfslokomotive Nicoles Gesicht nicht mehr wahrnehmen. Böige Winde begleiteten sie, während das Hotel nach jeder Spiralwindung größer wurde, bis sie zu ihrer größten Überraschung auf dem Gipfel des Sonnenscheins angelangt waren.



In der Verwirrung der Ankunft, als Dick seinen Rucksack umgetan hatte und den Bahnsteig entlang ging, um sein Rad zu holen, war Nicole neben ihm.



»Steigen Sie nicht in unserem Hotel ab?« fragte sie.



»Ich muß sparen.«



»Wollen Sie zum Dinner zu uns kommen?« Hier folgte eine Unstimmigkeit über das Gepäck. »Dies ist meine Schwester – Doktor Diver aus Zürich.«



Dick verbeugte sich vor einer großen, selbstsicheren Dame von fünfundzwanzig Jahren. Sie flößte Respekt ein und bot gleichzeitig Angriffspunkte; so jedenfalls wirkte sie auf ihn, und er mußte an andere Frauen mit blütengleichen Mündern denken, die zum Anbeißen waren.



»Ich werde nach dem Dinner vorbeikommen«, versprach Dick. »Erst muß ich mich akklimatisieren.«



Er entfernte sich, sein Rad vor sich her schiebend, und  fühlte, daß Nicole ihm mit den Blicken folgte, spürte ihre hilflose erste Liebe und merkte, wie diese sich seinem Innern verband. Er stieg den dreihundert Meter hohen Abhang zu dem anderen Hotel hinauf, nahm ein Zimmer und wusch sich, ohne sich an die dazwischenliegenden zehn Minuten zu erinnern, lediglich in einem trunkenen Gefühl froher Erregung, in der er Stimmen vernahm, unwichtige Stimmen, die nichts davon wußten, wie sehr er geliebt wurde.





IX



Sie warteten auf ihn, und es war, als fehlte ihnen etwas; immer noch war er das ausschlaggebende Element; Fräulein Warren und der junge Italiener trugen ihre frohe Erwartung ebenso zur Schau wie Nicole. Der Salon des Hotels, ein Raum mit märchenhafter Akustik, war zum Tanzen ausgeräumt, doch befand sich darin eine kleine Galerie mit Engländerinnen einer gewissen Altersstufe, mit Halsbändern, gefärbten Haaren und rosagrau gepuderten Gesichtern, und mit Amerikanerinnen einer gewissen Altersstufe, mit schneeweißen Perücken, schwarzen Kleidern und kirschroten Lippen. Fräulein Warren und Marmora saßen an einem Ecktisch – Nicole vierzig Meter weit von ihnen entfernt am andern Ende des Raumes, und als Dick hereinkam, hörte er ihre Stimme:



»Können Sie mich hören? Ich spreche ganz natürlich.«



»Tadellos.«



»Hallo, Doktor Diver.«



»Was bedeutet das?«



»Denken Sie sich, die Leute in der Mitte der Tanzfläche können nicht hören, was ich sage, aber Sie können es.«



»Ein Kellner hat uns darauf aufmerksam gemacht«, sagte Fräulein Warren. »Man kann von einer Ecke zur anderen hören – es ist wie Rundfunk.«



Es war aufregend oben auf dem Berg, wie in einem Schiff auf See. Alsbald gesellten sich Marmoras Eltern zu ihnen. Sie behandelten die beiden Warrens mit Hochachtung – Dick schloß daraus, daß ihr Vermögen etwas mit einer Bank in Mailand zu tun hatte, die ihrerseits etwas mit dem Vermögen der Warrens zu tun hatte. Aber Baby Warren wollte mit Dick sprechen, wollte mit ihm sprechen aus dem Drang heraus, der sie allen neuen Männern unstet entgegentrieb, als befände sie sich auf einem straff gespannten Seil und zöge in Betracht, daß sie eigentlich so schnell wie möglich an sein Ende gelangen sollte.



»– Nicole hat mir erzählt, daß Sie sie mit betreut und eine Menge zu ihrer Genesung beigetragen haben. Was ich nicht begreife ist, was

wir

 nun tun sollen – im Sanatorium haben sie sich so unklar ausgedrückt, sie haben mir nur gesagt, sie sollte natürlich und vergnügt sein. Ich wußte, daß die Familie Marmora hier ist, darum bat ich Tino, sich an der Drahtseilbahn mit uns zu treffen. Und man sieht, was dabei herauskommt – das erste ist, daß sie ihn am Wagen entlang von einem Abteil zum andern kriechen läßt, als wenn sie beide übergeschnappt wären –«



»Das war durchaus normal.« Dick lachte. »Ich halte es für ein gutes Zeichen. Sie haben sich voreinander großtun wollen.«



»Aber wie soll

ich

 das wissen? Ehe ich es mich versah, fast vor meinen Augen, ließ sie sich in Zürich die Haare abschneiden, nach einem Bild in ›Vanity Fair‹.«



»Das ist ganz in Ordnung. Sie ist eine Schizoide – wird immer eine Exzentrikerin sein. Daran ist nichts zu ändern.«



»Was ist das?«



»Was ich Ihnen sagte – eine Exzentrikerin.«



»Ja, aber wie soll man wissen, was exzentrisch und was übergeschnappt ist?«



»Von Übergeschnapptheit ist keine Rede – Nicole ist neugeboren und glücklich. Sie brauchen keine Angst zu haben.«



Baby bewegte ihre Knie hin und her – sie war die Verkörperung all der unbefriedigten Frauen, die vor hundert Jahren Byron geliebt hatten. Trotz des tragischen Erlebnisses mit dem Gardeoffizier war etwas Onanistisches um sie.



»Es ist mir nicht wegen der Verantwortung«, erklärte sie, »aber ich schwebe in der Luft. Wir haben noch nie etwas Derartiges in der Familie gehabt – wir wissen, daß Nicole irgendeinen Schock gehabt hat, und meiner Meinung nach war ein junger Mann im Spiel, aber wir wissen es nicht genau. Vater sagt, er hätte ihn niedergeknallt, wenn er dahintergekommen wäre.«



Das Orchester spielte »Arme Butterfly«; der junge Marmora tanzte mit seiner Mutter. Es war eine Melodie, die ihnen allen ziemlich neu war. Dick lauschte und betrachtete die Schulter von Nicole, indes das junge Mädchen mit dem älteren Marmora plauderte, dessen Haare weiß gesprenkelt waren wie die Tastatur eines Klaviers; er mußte an die sanfte Rundung einer Geige denken, und dann dachte er an die Schmach, an das Geheimnis. O Butterfly, die Minuten werden zu Stunden –



»Wissen Sie, ich habe einen Plan«, fuhr Baby mit einer gewissen Strenge fort. »Vielleicht wird er Ihnen völlig unausführbar erscheinen; aber es heißt, daß Nicole noch ein paar Jahre unter Aufsicht sein muß. Ich weiß nicht, ob Sie Chicago kennen –«



»Nein.«



»Also, es gibt den nördlichen und den südlichen Stadtteil, und beide sind sehr verschieden voneinander. Der Norden ist schick und so, und wir haben immer dort gelebt, zum mindesten viele Jahre lang; aber eine Menge alter Familien, alter Chicagoer Familien, wenn Sie wissen, was ich damit meine, lebt immer noch im südlichen Stadtteil. Dort befindet sich die Universität. Ich glaube, manche Menschen finden es langweilig, auf jeden Fall aber ist es dort anders als im Norden. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen?«



Er nickte. Mit einiger Willensanstrengung war er imstande gewesen, ihr zu folgen.



»Nun haben wir natürlich eine Menge Beziehungen dorthin – Vater hat Einfluß auf die Besetzung von Lehrstühlen und die Dotierung der Professoren an der Universität, und ich hatte gedacht, wenn wir nun Nicole nach Hause mitnehmen und mit den Leuten zusammenbringen würden – sehen Sie, sie ist ziemlich musikalisch und spricht so viele Sprachen – was könnte ihr, in ihrer Lage, Besseres passieren, als daß sie sich in irgendeinen guten Arzt verliebt –«



Eine plötzliche Heiterkeit durchströmte Dick: Warrens hatten die Absicht, Nicole einen Arzt zu kaufen. »Haben Sie einen netten Arzt, den Sie uns ablassen können?« Es hatte keinen Zweck, sich über Nicole Gedanken zu machen, solange ihre Familie in der Lage und imstande war, ihr einen netten, jungen frischgebackenen Arzt zu kaufen.



»Aber wo kriegen Sie den Arzt her?« fragte er automatisch.



»Es muß doch eine Menge geben, die auf eine solche Chance fliegen.«



Die Tänzer waren zurückgekommen, aber Baby flüsterte hastig:



»Das ist der Plan, den ich im Sinn habe. Aber wo ist Nicole? Sie ist irgendwohin gegangen. Ist sie oben in ihrem Zimmer? Was muß ich jetzt tun? Ich weiß nie, ob es sich um etwas Harmloses handelt oder ob ich auf die Suche nach ihr gehen soll.«



»Vielleicht will sie nur allein sein – Menschen, die viel allein waren, gewöhnen sich an die Einsamkeit.« Er hielt inne, als er merkte, daß Fräulein Warren nicht zuhörte. »Ich werde mich nach ihr umsehen.«



Im Augenblick war die Welt draußen von Nebel verhüllt, wie ein Frühling hinter zugezogenen Vorhängen. Alles Leben konzentrierte sich in der Nähe des Hotels. Dick ging an Kellerfenstern vorbei, hinter denen Hotelpagen auf Bettkästen saßen und bei einem Liter spanischem Wein Karten  spielten. Als er sich dem Promenadenweg näherte, fingen die Sterne an, über den weißen Gipfeln der hohen Alpen zu erscheinen. Auf dem hufeisenförmigen Pfad, von dem aus man den See überblicken konnte, stand eine Gestalt bewegungslos zwischen zwei Kandelabern; es war Nicole, und er ging schweigend quer über den Rasen auf sie zu. Sie wandte den Kopf mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen: »Da sind Sie ja«, und eine Sekunde tat es ihm leid, daß er gekommen war.



»Ihre Schwester war unruhig.«



»Oh!« Sie war daran gewöhnt, beaufsichtigt zu werden. Sie bemühte sich, eine Erklärung zu geben: »Manchmal macht es mich etwas – es wird mir etwas zuviel. Ich habe so still gelebt. Diese Musik heute war zuviel. Ich hätte am liebsten geweint –«



»Das verstehe ich.«



»Es war überhaupt ein furchtbar aufregender Tag.«



»Ich weiß.«



»Ich möchte kein Spielverderber sein – ich habe den Menschen genug Mühe verursacht. Aber heute abend hatte ich das Bedürfnis wegzugehen.«



Plötzlich fiel es Dick ein – so wie es vielleicht einem sterbenden Mann einfällt, daß er vergessen hat zu sagen, wo sich sein Testament befindet –, daß Nicole von Dohmler und den gespenstigen Generationen vor ihm zu einem neuen Menschen gemacht worden war; es fiel ihm auch ein, daß es sehr vieles gab, was ihr gesagt werden mußte. Aber nachdem er diese Weisheit innerlich zu Protokoll genommen hatte, strich er die Segel vor der Macht des Augenblicks und sagte:



»Sie sind ein reizendes Geschöpf – bleiben Sie Ihrem eigenen Urteil über sich selbst treu.«



»Gefalle ich Ihnen?«



»Freilich.«



»Würden Sie –«



Sie schlenderten dahin, dem dunklen Teil des Hufeisens zu,  der zweihundert Meter über ihnen lag. »Wenn ich nicht krank gewesen wäre, würden Sie – ich meine, wäre ich ein Mädchen von der Art gewesen, wie Sie es hätten – ach was, Sie wissen, was ich meine.«



Nun packte es ihn doch, und eine ungeheure Unvernunft beseelte ihn. Nicole war ihm so nah, daß er fühlte, wie sein Atem schneller ging; wieder jedoch kam ihm seine Schulung zu Hilfe und äußerte sich in einem jungenhaften Lachen und einer abgedroschenen Bemerkung.



»Sie machen sich unnütze Gedanken, meine Liebe. Ich habe einen Mann gekannt, der verliebte sich in seine Krankenschwester –« Die Geschichte plätscherte dahin, begleitet von dem Geräusch ihrer Schritte. Plötzlich unterbrach ihn Nicole in kurzem, knappem Chicago-Jargon: »Scheibenkleister!«



»Das ist ein sehr ordinärer Ausdruck.«



»Na, und?« brauste sie auf. »Sie meinen, ich hätte keinen Verstand – bevor ich krank wurde, hatte ich keinen, aber jetzt ist es anders. Und wenn ich nicht merken würde, daß Sie der bezauberndste Mann sind, der mir je begegnet ist, müßten Sie mich immer noch für verrückt halten. Es ist mein Pech, schön – aber tun Sie nicht so, als wüßte ich nichts – ich weiß über Sie und mich genau Bescheid.«



Dick war doppelt im Nachteil. Er erinnerte sich an die Bemerkung des älteren Fräulein Warren über die jungen Ärzte, die man in den Viehhöfen der Intelligenz in Süd-Chicago käuflich erwerben konnte, und wappnete sich augenblicklich mit Widerstand.



»Sie sind ein entzückendes junges Ding, aber ich könnte mich nicht verlieben.«



»Sie wollen mir nur keine Chance geben.«

 



»Waaas?«



Die Unverfrorenheit, das Geltendmachen von Besitzrechten, das darin enthalten war, verblüfften ihn. Da ihm Anarchie fremd war, konnte er sich keine Chance vorstellen, auf die Nicole Warren Anspruch hätte erheben können.



»Geben Sie mir jetzt eine Chance.«



Die Stimme wurde leise, tauchte in ihre Brust zurück und breitete einen festen Schild um ihr Herz, als sie ihm nahe kam. Er spürte die jungen Lippen; erlöst seufzend lehnte sie sich in den Arm, der an Kraft zunahm, während er sie hielt. Jetzt gab es für Dick ebenso wenig Pläne mehr, als wenn er eigenmächtig eine unlösliche Mixtur aus zusammengehörigen und untrennbaren Atomen hergestellt hätte. Man konnte sie ganz und gar ausschütten, doch niemals konnten sie wieder in eine Atomskala zurückgegliedert werden. Als er das Mädchen hielt und spürte, und als sie mit Lippen, die ihr selbst fremd schienen, sich ihm mehr und mehr näherte – erstickt und verzehrt von Liebe und dennoch erquickt und jubelnd –, war er dankbar für seine bloße Existenz, wenn er sie auch nur in ihren nassen Augen widergespiegelt sah.



»Mein Gott!« stöhnte er. »Es macht Spaß, Sie zu küssen.«



Das waren Worte, aber Nicole hatte jetzt mehr Macht über ihn und nützte sie aus; sie entwand sich ihm kokett, ging von ihm fort und ließ ihn in Ungewißheit zurück, wie am Nachmittag in der Drahtseilbahn. Sie dachte: Dies wird ihm zeigen, was für ein guter Einfall das war, und was er alles mit mir anfangen könnte; oh, es ist herrlich! Ich habe ihn, er gehört mir. Nun, hinterher, wich sie zurück, aber alles war so süß und neu, daß sie zögerte, weil sie alles auskosten wollte.



Unvermittelt fröstelte sie. Zweitausend Fuß tiefer unten sah sie wie ein Halsgeschmeide und Armband von Lichtern Montreux und Vevey liegen und weiter entfernt, als blasses Schmuckgehänge, Lausanne. Irgendwo von unten erklang leise Tanzmusik. Nicoles Verstand arbeitete jetzt ganz klar und kühl; sie versuchte, die Gefühle ihrer Kindheit unter die Lupe zu nehmen, genau so bewußt, wie sich ein Mann nach der Schlacht betrinkt. Aber sie hatte immer noch Angst vor Dick, der bei ihr stand und sich in charakteristischer Weise an den Eisenzaun lehnte, der das Hufeisen umgab; und das veranlaßte sie, zu sagen: »Ich erinnere mich noch, wie ich im  Garten auf dich wartete und mein ganzes Herz auf den Händen trug wie einen Korb mit Blumen. So jedenfalls erschien es mir – ich fand mich liebreizend – wie ich so wartete, um dir den Korb zu überreichen.«



Er atmete über ihrer Schulter und drehte sie nachdrücklich zu sich herum; sie küßte ihn mehrere Male; jedesmal wurde ihr Gesicht groß, wenn es ihm nahe kam, ihre Hände lagen auf seinen Schultern.



»Es regnet stark.«



Plötzlich dröhnte es von den Weinbergen jenseits des Sees; man schoß mit Kanonen nach Hagelwolken, um sie zu zerstreuen. Die Lichter des Promenadenweges gingen aus und wieder an. Dann brach das Unwetter los; erst stürzte es vom Himmel herab, dann ergoß es sich mit doppelter Gewalt in Strömen von den Bergen und flutete brodelnd durch Straßen und Steingräben; es brachte einen erschreckend schwarzen Himmel mit sich, wildgezackte Blitze und ohrenbetäubende Donnerschläge, während unheilbringende Wolken in Fetzen am Hotel entlang jagten. Berge und See verschwanden – das Hotel duckte sich inmitten von Tumult, Chaos und Finsternis.



Mittlerweile hatten Dick und Nicole das Vestibül erreicht, wo Baby Warren und die drei Marmoras sie besorgt erwarteten. Es war wundervoll, aus dem nassen Sprühregen zu kommen, die Türen hinter sich zuzuschlagen und lachend und vor Erregung zitternd dazustehen, Sturm in den Ohren und Regen auf den Kleidern. Im Tanzsaal spielte das Orchester gerade einen Straußwalzer, fröhlich und mitreißend.



... Sollte ausgerechnet Doktor Diver eine Geisteskranke heiraten? Wie konnte das geschehen? Wann hatte es begonnen?



»Wollen Sie nicht wieder herkommen, wenn Sie sich umgezogen haben?« fragte Baby Warren nach eingehender Musterung.



»Außer ein paar Hosen habe ich nichts zum Wechseln mit.«



Als er sich in einem geliehenen Regenmantel zu seinem Hotel hinaufkämpfte, mußte er andauernd höhnisch vor sich hinlachen.



»Das große Los – jawohl! Grundgütiger! Sie haben beschlossen, einen Arzt zu kaufen. Nun, es ist besser, sie halten sich an jemand, den sie in Chicago haben.« Da seine Härte ihm gegen den Strich ging, ließ er Nic