Mörderisches Sachsen

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Um 15.30 Uhr sendet die Görlitzer Kriminalpolizei ein Fernschreiben an die Kollegen im VPKA Glauchau. Man erbittet dort die Anschrift und Personalien des Ofensetzmeisters Erich Thieme, der 1950 in Glauchau wohnhaft gewesen sein soll. »Hatte intime Beziehungen zu der HO-Verkäuferin Anni Hölzel«, heißt es da. »Diese wurde in Zittau am 28.07.1950 Opfer eines ungeklärten Tötungsverbrechens. Aktenmaterial weist nicht aus, dass Th. damals überprüft wurde (Alibi).«

Das Fernschreiben endet mit der Weisung, Thieme »nicht befragen«. Die Antwort erbitten die Görlitzer bis zum 28. Juli.

Wodurch man auf Thieme aufmerksam wurde und ihn offenkundig für eine heiße Spur hält, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Auch nicht, ob er überhaupt jemals vernommen wird.

Einen Tag vor Ablauf der Frist rattert 7.15 Uhr der Fernschreiber. Thieme wohnt in Glauchau, Platz der Freundschaft 4, meldet der Oberleutnant der K Schumann.

Montag, 31. Juli

Morgens um 8.30 Uhr wird der Flussmeister Martin Lange von Oberleutnant der K Strengeld befragt. Die Ermittler wollen wissen, ob die – vermeintliche oder tatsächliche – Tatwaffe, jene von Morche genannte Eisenstange, eventuell in dem etwa vierzig Kilometer langen Flüsschen namens Mandau gefunden worden ist. Martin Lange war im Sommer 1958 als Tiefbauarbeiter des VEB Gewässerunterhaltung und Meliorationsbau Dresden an Arbeiten am Flussbett der Mandau in Zittau beteiligt.

Im Frühjahr jenes Jahres gab es ein starkes Hochwasser, welches erheblichen Schaden im Flussbett angerichtet hatte. »So war u.a. das Wehr unter der Brücke der nach Olbersdorf führenden Straße am Einlauf Pfortmühlgraben stark beschädigt. Der Pfortmühlgraben war mit Sand zugeschwemmt worden. Dadurch hatten Textilbetriebe wie die Firma Könitzer kein Brauchwasser. Es musste der Pfortmühlgraben geräumt und das beschädigte Wehr instand gesetzt werden. Oberhalb und unterhalb des Wehres erfolgte eine grundhafte Beräumung des Mandauflussbettes.«

Geräumt wurden dreißig Meter flussauf- und fünfzig Meter flussabwärts von der Brücke. Der »Aushub« sei nach Hartau auf eine Kippe gefahren worden. Es habe sich um Müll und Schrott gehandelt.

Ob darunter auch eine Eisenstange gewesen sei, kann Flussmeister Martin Lange allerdings nicht sagen.

Samstag, 5. August

Der 3. Strafsenat des Bezirksgerichts beschließt, dass Morches Beschwerde wegen der Durchsuchung seiner Wohnung und der Beschlagnahme von Gegenständen als unbegründet zurückgewiesen wird. Gegen ihn werde schließlich wegen des Verdachtes, einen Raubmord verübt zu haben, ermittelt. In der Begründung der Entscheidung heißt es weiter:

»Der Beschuldigte hat sich selbst der Kriminalpolizei gestellt und angegeben, dass er die in der Nacht vom 27. zum 28. Juli 1950 ums Leben gekommene Bürgerin Hölzel mit einer Eisenstange erschlagen habe. Der Mord an dieser Frau ist bisher nicht geklärt. Da der Beschuldigte sich selbst der Tat bezichtigt, und einige Angaben von ihm nicht ausschließen, dass er der Täter sein kann, besteht gegen ihn dringender Tatverdacht. Die in seiner Wohnung beschlagnahmten Gegenstände sind zum Zwecke des Beweises erheblich, insbesondere die Handtasche.«

Dienstag, 8. August

Am Vormittag, von Oberleutnant der K Strengeld befragt, macht der Klempner Wilhelm Schrumpf – seit zwanzig Jahren im Karosseriewerk Gustav Winter beschäftigt und seitdem dort auch Betriebsgewerkschaftsleiter (BGL) – eine Zeugenaussage. Die Ermittler wollen von ihm vor Ort wissen, ob der Täter, wie behauptet, in der Äußeren Weberstraße 1950 ein Rundeisen gefunden haben könnte.

Entrüstet weist Schrumpf die Frage zurück: »Seinerzeit herrschten hier im Betrieb die gleiche Ordnung und Sauberkeit, wie sie auch heute herrschen.«

Er schließt völlig aus, dass irgendwelches Material auf dem Bürgersteig vor dem Betriebsgrundstück herumgelegen haben könnte. Und selbst wenn etwas auf dem Betriebsgelände gelegen haben sollte: »Das Zauntor ist nach Arbeitsschluss auch damals immer verschlossen worden.«

Mithin, Morches Aussage, er habe vor dem Karosseriewerk eine Eisenstange gefunden, mit der er später Anni Hölzel (bzw. Marianne Böhmer) erschlagen haben will und die er anschließend in die Mandau warf, scheint reine Fantasie.

Freitag, 18. August

Die Kriminalisten in Görlitz bringen in Erfahrung, dass Wolfgang Hölzel, der Sohn der Ermordeten, am 28. Dezember 1955 »illegal nach Westdeutschland verzog«.

Eine Marianne Böhmer wird in den Einwohnerregistern ebenfalls gefunden. Allerdings ist diese 1943 geboren, war also im Jahr 1950, als Morche sie niedergeschlagen haben will, gerade erst sieben Jahre alt. Damit kommt sie als »Opfer« nicht infrage. Morche sprach schließlich stets von einer Frau.

Ferner ermittelt man einen Oswald Burckhardt, einen Gärtner und Landwirt, der angeblich mit Anni Hölzel liiert gewesen sein soll, oder, wie es im Protokoll von Leutnant Kummer, der bei der Kriminalpolizei in Görlitz Dienst tut, heißt, »ein intimes Verhältnis mit der Ermordeten vor deren Ableben unterhalten hat«. Natürlich, danach war dies schlechterdings nicht möglich.

Auch die Adresse von Morches Cousine Rosl Hübner ist ermittelt – die 55-Jährige lebt in Zittau in der Willi-Gall-Straße 13.

In den Meldekarteien der Abteilung Pass- und Meldewesen, kurz P/M, der Deutschen Volkspolizei findet man auch die Adressen ehemaliger Arbeitskollegen von Morche und Hölzel, die man ebenfalls befragen wird.

Dienstag, 22. August

Oberleutnant der K Wenderlich – zu Beginn der sechziger Jahre Leiter der Abteilung Kriminalpolizei im VPKA Zittau – gibt in der Sache Morche zu Protokoll: Er erinnere sich, dass »im Jahre 1962 oder 1963, ein genauerer Zeitpunkt kann nicht mehr angeführt werden«, Karl Morche bei ihm vorstellig wurde und sich als Mitarbeiter beworben hat. Als Begründung »brachte er vor, dass er einen Diebstahl von MDN 50,00 im VEB Robur Zittau, Arbeitsstelle des Morche, und den Mord an der Weberkirche in Zittau aufklären wollte«.

Um die Ernsthaftigkeit seiner Bewerbung zu unterstreichen, legte ihm Morche einen »Aufklärungsplan« vor. »Es handelte sich dabei um einen weißen Bogen im Format DIN A1, auf den verschiedene aus illustrierten Zeitungen ausgeschnittene Bilder geklebt waren, welche mit verschiedenfarbigen Strichen untereinander wahllos verbunden waren.«

Karl Morche habe damals allerdings nicht erklärt, was er jetzt behauptet – nämlich, dass er der Mörder jener Frau gewesen sei.

Für ihn, Oberleutnant Wenderlich, steht außer Frage, »dass es sich bei Morche um einen nervenkranken Menschen handelte«. Kurz nach der Vorsprache in der Kriminalpolizei Zittau sei er auch in die Psychiatrische Klinik Großschweidnitz eingeliefert worden.

Dienstag, 29. August

Oberleutnant der K Strengeld sucht im VEB Robur die Transportbrigade Prasse auf. Sie arbeitet in der Eisenbahnstraße. In dieses Kollektiv ist Karl Morche seit sieben Jahren eingebunden. An der im Protokoll als »Aussprache« bezeichneten Zusammenkunft nehmen der Meister Erich Adam, der Brigadier Heinz Prasse sowie die Transportarbeiter Werner Wehle, Günter Jonas und Manfred Haußig teil.

»Die Kollegen sind sich darüber einig, dass Morche niemals fähig sei, einem Menschen etwas zuleide zu tun, schon gar nicht fähig, einen Menschen umzubringen.« Nicht minder apodiktisch erklären sie aber dem Oberleutnant auch, dass ihr Kollege »nicht normal, sondern verrückt im Kopf sei«.

Jedes Jahr im Frühsommer, 1966 ausgenommen, hätten sie bei ihm einen »Krankheitsschub« beobachtet, danach sei er durchschnittlich ein Vierteljahr in der Heilanstalt in Großschweidnitz gewesen.

Wie sich ein solcher Anfall bemerkbar gemacht habe, will der Ermittler wissen.

Indem »Kollege Morche stundenlang in die Sonne stierte und dabei die Körperlast auf ein Bein legt und dabei das andere Bein entlastet, wie bei der militärischen Rührt-euch-Stellung. Dann angesprochen sieht er seinem Gegenüber stier in die Augen und braucht lange Minuten, um auf gestellte Fragen zu antworten. Ihm übertragene Aufträge werden erst nach minutenlangem Überlegen langsam ausgeführt.

In solchen Fällen sorgten in der Vergangenheit die Kollegen dafür, dass er wieder in fachärztliche Betreuung nach Großschweidnitz kam.«

Strengeld urteilt: »Von der Brigade habe ich die besten Eindrücke. Ich zweifle nicht daran, wenn mir versichert wurde, dass man sich die erdenklichste Mühe gegeben hat. Morche ist niemals wegen seines Leidens gehänselt oder gekränkt worden. Die Brigademitglieder schätzen Kollegen Morche als guten und verlässlichen Mitarbeiter. Man hat es wegen seiner Krankheit weitgehend vermieden, ihn zu körperlich schweren Arbeiten heranzuziehen, schon um eventuelle Unfallgefahren zu vermeiden. In seiner Freizeit hat Kollege Morche in einer Laienkapelle als Pianist mitgewirkt, und die Kollegen sagen, dass er sehr intelligent ist und alles aus dem Kopf spielte, auch klassische Musik.«

Morches Leumund ist positiv. Und darum habe seine Teilnahme am Busausflug in die Tschechoslowakei am 2. Juli nie zur Disposition gestanden. Werner Wehle habe Morche kurz zuvor noch angerufen, da Morche im Juni im Lager eingesetzt gewesen ist und nicht in der Brigade arbeitete. Wehle hatte ihm die Route genannt, es sollte in Morches frühere Heimat und auch in seinen Geburtsort Friedland gehen, auch nach Haindorf, wo Morches Großeltern auf dem Friedhof liegen. Darauf habe er erklärt, dass er am Freitag, dem 30. Juni, sich den Tagespassierschein im VPKA abholen werde. Als Morche am Sonntagmorgen nicht zur Abfahrt des Busses erschien, habe man angenommen, dass er verschlafen hat, wollte aber nicht warten. Erst in der Woche darauf erfuhr die Brigade, dass Morche wieder in Großschweidnitz ist.

»Die Kollegen meinen«, so schreibt Strengeld, dass die bevorstehende Reise »ihn seelisch so aufgewühlt haben könnte, dass bei ihm neuerlich ein Schub seiner Geisteskrankheit einsetzte«.

 

Offenkundig gaben sie sich eine Mitschuld.

Inwieweit der Hinweis der Transportarbeiter zutraf, dass auch Morches Mutter »irgendwie geisteskrank gewesen« und ihr Kollege vielleicht erblich belastet sei, vermag der Oberleutnant nicht zu beurteilen.

Das Kommissariat Görlitz beantragt bei der Staatsanwaltschaft Zittau eine Verlängerung der Bearbeitungsfrist bis zum 1. Oktober.

Zur Begründung wird Morches Beschwerde wegen der beschlagnahmten Handtasche angeführt. Deshalb habe der »Vorgang sehr lange beim Bezirksgericht bzw. der Bezirksstaatsanwaltschaft in Dresden« gelegen, das heißt die Unterlagen, »so dass während dieser Zeit die im Untersuchungsplan vorgesehenen Ermittlungs- und Untersuchungshandlungen nicht weiter fortgeführt werden konnten«.

Zudem müsse »erst geprüft werden, inwieweit der Beschuldigte wieder vernehmungsfähig ist«. Dieser befindet sich noch immer »aufgrund eines richterlichen Unterbringungsbefehles in der Pflegeanstalt Großschweidnitz«.

Zwei Wochen später, am Donnerstag, dem 14. September 1967, bittet Görlitz erneut um eine Fristverlängerung, diesmal bei der Bezirksstaatsanwaltschaft in Dresden. Zwar hege man unverändert Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit Morches, dennoch müsse »ernsthaft und unvoreingenommen« geprüft werden, »ob er das Verbrechen nicht etwa doch begangen hat oder anderweitig in strafrechtlicher Beziehung zu diesem Verbrechen steht«.

Hauptmann der K Niebel erklärt in seinem Anschreiben, dass man bei den Ermittlungen schon gut vorangekommen wäre, doch es sei noch eine Zeugin zu vernehmen, »die damals vor der Tat mit der Geschädigten (womit das Mordopfer Hölzel gemeint ist – E. Sch.) Dienst versah und damals offenbar nicht vernommen worden ist. Die Zeugin befindet sich z. Zt. zu einem Ferienaufenthalt in Bulgarien.

Des Weiteren soll die geschiedene Ehefrau des Beschuldigten nochmals vernommen werden.«

Dienstag, 12. September

Rosl Hübner, Morches Cousine, als Weberin im VEB Textilkombinat Zittau beschäftigt, wird von Oberleutnant Strengeld am Nachmittag befragt. Das Gespräch im VPKA dauert fünfzig Minuten. Rosl Hübners Mutter ist die Schwester von Morches Vater.

Man zeigt ihr die vier schwarzen Damenhandtaschen, von denen sie keine kennt. Auf Strengelds Frage, woher sie wisse, dass ihr Cousin wieder einmal in Großschweidnitz sei, antwortet sie: von Josef Ferner, dem Leiter der Kapelle, in der ihr Cousin als Pianist spiele. Herr Ferner habe sie am 3. September daheim besucht. Morches Kollege kümmere sich ein wenig um ihren Cousin, der »sehr zurückgezogen« lebe, seit er geschieden ist. Er habe ihr gesagt, »dass mein Cousin wieder fortgekommen ist in die Nervenheilanstalt. In diesem Zusammenhang sagte Herr Ferner auch, dass mein Cousin sich bezichtigt hätte, 1950 einen Mord hier in Zittau an der Weberkirche begangen zu haben«.

Sie selber habe von diesem Verbrechen überhaupt keine Kenntnis, weil sie von 1949 bis 1951 in Westdeutschland gelebt hätte.

Ob Morche noch weitere Verwandte in der DDR habe, erkundigt sich der Oberleutnant. Sie sei die einzige, sagt Rosl Hübner, seit Karl Morches Eltern auf dem Friedhof liegen. In Freiburg im Breisgau lebe nach ihrer Kenntnis ein Bruder, Josef Morche.

Zur geschiedenen Frau ihres Cousins habe sie »keinerlei Verbindung«.

Damit ist die Befragung zu Ende.

Knapp zwei Stunden später, genauer gesagt um 17.10 Uhr, sitzt auf dem gleichen Stuhl der LPG-Bauer Oswald Burckhardt aus Hörnitz. Strengeld befragt ihn zu Anni Hölzel. Damals habe er eine Gärtnerei besessen, berichtet er, und er sei Witwer gewesen. Frau Hölzel habe sich »von Zeit zu Zeit«, so alle zwei oder drei Wochen, Gemüse bei ihm geholt.

Als Erstes werden auch ihm die vier Handtaschen gezeigt. Er kennt davon keine, den Spiegel und das Parfümfläschchen hat er auch nie zuvor gesehen.

Wie sich zeigt, ist das Burckhardt nachgesagte »intime Verhältnis« zu der Ermordeten offenkundig nur ein Gerücht. Er weiß weder, in welcher HO-Verkaufsstelle sie tätig war, noch wie ihr Sohn mit Vornamen hieß. Und mit einem »Bauchladen« hat er sie auch nie gesehen.

Der Ermittler Strengeld fragt nach Erich Thieme und Karl Morche. »Diese Namen habe ich noch niemals gehört«, sagt der Landwirt, auch Frau Hölzel habe sie ihm gegenüber nie erwähnt.

Der Kriminalist bittet ihn um eine Charakterisierung Anni Hölzels. Burckhardt bezeichnet sie als eine »recht ordentliche und anständige Frau«. Was darunter konkret zu verstehen ist, sagt er nicht. Das aber ist für den Fall Morche ohnehin unerheblich.

Gleichwohl signalisieren Strengelds Fragen, dass es ihm auch um die Lösung des damals ungeklärten Mordfalls geht.

»Sie war sehr beredt, d.h. sie konnte mit dem Mundwerk gut fort, war aber immer nett und freundlich.« Ob sie Feinde gehabt hätte? Davon wisse er nichts, sagt Burckhardt, sie habe dergleichen ihm gegenüber nie verlauten lassen.

Am Ende des Protokolls heißt es: »Ich lese meine Vernehmung nicht durch, weil ich infolge meines schlechten Sehvermögens damit nicht zurechtkomme.«

Nachdem ihm alles vorgelesen wird, signiert er mit blauem Kugelschreiber jedes der drei Blätter.

Um 18.10 Uhr verlässt Burckhardt gemeinsam mit seiner Frau das Volkspolizeikreisamt Zittau.

Die kürzeste Befragung an jenem Tag findet von 15.40 Uhr bis 16.15 Uhr statt. Strengeld vernimmt Annliese Fischer, die 1950 als Anneliese Koschnick in der HO-Gaststätte Dreiländereck als Verkäuferin tätig war. Jetzt arbeitet sie bei der Firma Könitzer & Haebler als Weberin.

Nach siebzehn Jahren kann sie sich kaum noch an Personen und Vorgänge erinnern, ihre damalige Kollegin Hölzel habe sie »nicht näher« gekannt. Anni Hölzel habe damals am Kuchenbüffet gearbeitet, sie selbst habe am Stand daneben Süßigkeiten verkauft. Sie hätten alle Schicht gearbeitet, immer wenn sie frei hatte, hätte ihre Kollegin hinterm Tresen gestanden, weshalb man sich nur kurz gesehen und gesprochen habe. Nur an jenem Tage arbeiteten sie gemeinsam, weil Anni Hölzel den Dienst einer Kollegin übernommen hatte. Den Grund könne sie nicht mehr sagen. Die Schicht sei von 16 bis 24 Uhr gegangen. Das wisse sie deshalb so genau, weil sie »damals noch in der Nacht von der Kriminalpolizei in meiner Wohnung vernommen« wurde.

Zum »Bauchladen«, den Morche erwähnte, sagt Anneliese Fischer, dass keine Kollegin aus dem »Dreiländereck« jemals als Straßenverkäuferin eingesetzt worden ist. Auch Anni Hölzel nicht.

Donnerstag, 14. September

Kriminalmeister Steppan und Oberleutnant Strengeld protokollieren ihre Ermittlungsergebnisse »bezüglich der am Freitag, dem 18. Juli 1950, zwischen 00.40 und 01.30 Uhr in Zittau, Innere Weberstraße, auf dem Bürgersteig an der Südseite der Weberkirche herrschenden Lichtverhältnisse«.

Darin fließen die Auskünfte der Meteorologen ein und jene von Johannes Korditzke und Fritz Klemm, Mitarbeiter des VEB Energieversorgung Dresden, Meisterbereich Zittau. Diese klärten die Ermittler auf, dass »keinerlei Pläne aus dem Jahr 1950 mehr vorhanden seien«, aber sie waren sich ziemlich sicher, dass schon damals die Beleuchtung am Tatort so war, wie sie heute noch immer ist: »Es sind über der Fahrbahn an Überspannungen aufgehangene Lampen, die aber damals mit anderen Glühbirnen (es sollen jeweils zwei Glühbirnen gewesen sein) bestückt waren. Welche Leistungen die damals, 1950, in den fraglichen Straßenlampen am Auffindort der Ermordeten und dessen Umgebung befindlichen Glühbirnen hatten, konnte nicht mehr angegeben werden, weil auch darüber keine Aufzeichnungen vorhanden sind.

Mehr konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, auch nicht, ob in der fraglichen Zeit alle diese Straßenlampen brannten.«

Zwei Tage später überprüft Oberleutnant Strengeld bei einem Ortstermin die Angaben der beiden. »Der Abstand der Straßenlampen in der Inneren Weberstraße hinunter in Richtung Weberkirche beträgt von Lampe zu Lampe ca. 35 Meter. Die Entfernung von der letzten Straßenlampe im untersten Teil der Inneren Weberstraße bis zum Auffindort des Opfers beträgt ca. 15 Meter. Die Entfernung vom Auffindort des Opfers bis zu der über der Straßenkreuzung hängenden Straßenlampe beträgt ca. 20 Meter.«

Resigniert schließt er: »Heute kann nicht mehr ermittelt werden, welche Leistung (Lichtstärke) seinerzeit diese Straßenlampen hatten.«

Dienstag, 19. September

Zwischen 15.10 Uhr und 17.20 Uhr vernimmt Oberleutnant Strengeld Josef Ferner. Ferner, Jahrgang 1920, arbeitet als Sachbearbeiter beim VEB Robur und spielt mit Morche in einer Band. Er kennt diesen seit 1959 und schildert ihn als »ruhig, bescheiden, hilfsbereit und gutmütig«. Er habe allerdings auch den Eindruck, dass Morche »Minderwertigkeitskomplexe« hat.

Natürlich hätten sie im Betrieb von seiner Krankheit gewusst. Diese sei immer schubweise aufgetreten, vornehmlich im Juni. Wenn der Monat ohne Anfall vorübergegangen war, sei man überzeugt gewesen, dass der Rest des Jahres gut verlaufen würde.

»Auch deshalb warteten wir immer auf den Geburtstag unseres Staatsratsvorsitzenden, Walter Ulbricht, also auf den 30. Juni, weil dieser Tag neben seiner genannten Bedeutung für uns bezüglich Morche immer so eine Art Erinnerungsmarke war.«

Als Symptome nannte Ferner »gläsern wirkende Augen und sehr schweißige Hände«. Karl Morche bemerkte dies selbst und wurde daraufhin immer unruhiger und unsicherer. Er habe dann auch bald »wirres Zeug« geredet.

Dazu gehörte beispielsweise, dass er sich als »berufen« erklärte, Unrecht, das andere Menschen begangen hatten, »wieder in Ordnung zu bringen. So wollte er die Welt bessern und verändern.« Er habe einmal einen Diebstahl im ­Betrieb aufklären wollen. Einer Kollegin waren fünfzig Mark gestohlen worden, was Morche für ein Drama hielt.

»Mir ist auch bekannt, dass er sich einmal bei der Kriminalpolizei beworben hat«, gibt Ferner zu Protokoll. Allerdings habe Morche selbst im Wahn nie etwas von einem Mord an der Weberkirche erzählt.

Der Tod des Vaters während der Osterzeit 1962 habe Morche völlig aus der Bahn geworfen. Er habe in der elterlichen Wohnung, in der er seit der Scheidung wieder lebte, damals unter Alkoholeinfluss ziemlich randaliert. Als Leiter der Laienkapelle würde er aber immer darauf achten, dass sich Morche während ihrer Auftritte nicht betrinke.

Das sei kein Problem, Morche lasse sich von ihm »leicht führen«, zitiert Strengeld Josef Ferner im Protokoll. »Morche ist höchst unselbständig und bedarf der Führung, insbesondere dann, wenn seine Krankheit ausbricht«. Er, Ferner, habe sich seiner angenommen, »weil er mir leidgetan hat, und er hat sich auch von mir immer beraten und führen lassen. Er hat Vertrauen zu mir.«

Als bei der Befragung das Gespräch auf den Mord an Anni Hölzel kommt, erklärte Josef Ferner, dass er sich noch an die »große Aufregung« erinnere, die damals in Zittau geherrscht habe, als die Tat publik wurde. Er könne sich deshalb noch an das Datum 28. Juli 1950 genau erinnern, weil sie damals auf dem Kulturfest der IG Metall im Volkshaus gespielt hätten.

Zu jener Zeit habe er Morche noch nicht gekannt. Und später habe dieser auch nie über den Mordfall mit ihm gesprochen. Für ihn käme Morche schon deshalb als Mörder nicht infrage, weil die Tat Ende Juli erfolgt sei, also nach dem Juni, wo die Krankheitsschübe in der Regel immer auftraten. »Ich halte Karl Morche für unfähig, einen solchen Mord zu begehen.« Darum sei er von der Information »völlig überrascht und direkt sprachlos« gewesen, dass Morche sich selbst bezichtigt habe, die HO-Verkäuferin Hölzel erschlagen zu haben.

Josef Ferner macht dem Kriminalisten klar, warum Morche ausgerechnet an jenem 30. Juni ins VPKA gegangen war, um sich selbst anzuzeigen. Das weiß dieser aber bereits von Morches Arbeitskollegen.

Im Unterschied zu früheren Unternehmungen, bei denen einer aus dem Arbeitskollektiv sich um Vorbereitung und Unterlagen für den Brigadeausflug gekümmert hatte, musste sich diesmal jeder selbst einen Tagespassierschein für die Tschechoslowakei besorgen. »Er ist ein Phlegmatiker und hat das immer aufgeschoben. Bis zum Donnerstag, dem 29. Juni, hatte er sich noch nicht um den Passierschein bemüht. Deshalb habe ich ihn scharf gemacht.« Am Abend hätten sie gemeinsam gespielt, und Ferner habe ihm gesagt, dass er anderentags – also am Freitag – unbedingt zur Polizei gehen müsse, um das Papier abzuholen. Das wäre die letzte Gelegenheit, ansonsten könne er nicht mitfahren.

 

»Das hat er mir auch versprochen«, zitiert das Protokoll Josef Ferner. Er habe am Freitag auch von Kollegen aus Morches Brigade gehört, dass diese im gleichen Sinne Morche bedrängt hatten. Der Brigadier Manfred Haußig will dabei Veränderungen bei Morche beobachtet haben. Er hätte zum Beispiel jedes Wort wiederholt, das Haußig ihm gesagt habe, was doch ungewöhnlich gewesen sei.

Morche ging also, wie aufgefordert, gegen 18 Uhr zum Volkspolizeikreisamt – aber nicht, um einen Tagespassierschein für den Brigadeausflug am Sonntag zu beantragen, sondern um sich selbst anzuzeigen.

Vor drei Tagen, so schließt Josef Ferner seine Aussage, habe er in Großschweidnitz Morche besuchen wollen. Obgleich er sich zuvor telefonisch erkundigt hatte und ihm gesagt worden war, dass einem Besuch nichts entgegenstünde, musste er zurückkehren, ohne Morche gesehen zu haben. Dessen Gesundheitszustand, so der Arzt, habe sich »überraschend« verschlechtert.

Donnerstag, 21. September

Von 8.40 Uhr bis 11.30 Uhr wird die Zeugin Ursula Morche, geborene Tzscherlich, von Oberleutnant der K Strengeld neuerlich vernommen. Wie schon bei ihrer ersten Befragung am 1. Juli durch Oberleutnant Horstmann wird sie zuvor belehrt, welche strafprozessualen Folgen Falschaussagen nach sich ziehen können.

»Frage: Haben Sie die vier schwarzen Lederhandtaschen oder eine davon irgendwo schon einmal gesehen? Kommt Ihnen eine der Ihnen vorgelegten Handtaschen irgendwie bekannt vor?

Antwort: Ich habe die mir vorgelegten vier Handtaschen genau angesehen. Keine davon habe ich jemals gesehen, keine kommt mir bekannt vor.

Frage: Kennen Sie die Gaststätte Freudenhöhe in der Neusalzaer Straße?

Antwort: Ja, diese Gaststätte kenne ich. Sie befindet sich unweit von meinem Elternhaus, in dem ich wohnhaft bin. Das ist die Neusalzaer Straße 13, wo ich geboren und aufgewachsen bin.

Frage: Kennen Sie das Eckhaus Äußere Weberstraße 70, welches sich gegenüber der Gaststätte Freudenhöhe befindet?

Antwort: Ja, dieses Wohngrundstück ist mir bekannt. Dort befand sich früher die Fleischerei Halangk. Jetzt ist dort das Lebensmittelgeschäft Dippold mit Gemüseverkauf.

Frage: Kennen Sie Bewohner des Hauses Äußere Weberstraße 70?

Antwort: Ich kannte Fleischermeister Halangk sowie Annemarie Drossel, die als Verkäuferin in der Konsum-­Lebensmittelverkaufsstelle Rathausplatz, Ecke Brüderstraße beschäftigt war, wo ich auch einmal gearbeitet habe. Sonst kannte ich keinen aus dem Haus. Eine Anni Hölzel, die im Haus Äußere Weberstraße 70 gewohnt haben soll, ist mir unbekannt. Die Frau, deren Lichtbild mir vorgelegt wurde, kenne ich nicht. Mir ist gesagt worden, dass es sich um Frau Hölzel handele.

Frage: Kennen Sie einen Wolfgang Hölzel, der ebenfalls in der Äußeren Weberstraße 70 wohnhaft gewesen ist?

Antwort: Der Name Wolfgang Hölzel sagt mir ebenfalls nichts. Auch der Hinweis darauf, dass wir fast zur selben Zeit geboren wurden – er im Januar 1932 und ich im Mai 1932 – und wir beide in unmittelbarer Nähe wohnten, was bedeutete, dass wir beide die gleiche Schule, vielleicht sogar die gleiche Klasse besuchten, ändert daran nichts. Ich kann mich an einen Wolfgang Hölzel nicht erinnern. Vielleicht liegt das daran, dass ich ab dem 5. Schuljahr, also ab 1942/43, die Mittelschule in Zittau besucht habe. Ich habe die Schule 1946 mit der 8. Klasse verlassen. Danach besuchte ich ein Jahr lang die Haushaltsschule, und anschließend absolvierte ich eine dreijährige Lehrzeit als Verkäuferin im Lebensmittelgeschäft Walter Schneider in der Breitestraße 25 in Zittau.

Frage: Hatte Ihr Vater, der selbständige Fleischermeister Walter Tzscherlich, Telefon im Hause?

Antwort: Ja. Wir hatten einen Telefonanschluss zu Hause. Mein Vater verstarb am 14. Dezember 1957 an Lungenkrebs. Wann meine Eltern den Fleischerladen schlossen, weiß ich nicht mehr. Sie betrieben die Fleischerei schon nicht mehr im Jahr meiner Eheschließung. Das Telefon existierte bereits 1950 nicht mehr. Auf der fotokopierten Ausgabe des Fernsprechanschlussverzeichnisses der Stadt Zittau von 1950, die mir vorgelegt wurde, finde ich den Telefonanschluss meines Vaters auch nicht mehr.

Frage: Hatten Ihre Schwiegereltern, hatte der Schneidermeister Josef Morche einen Telefonanschluss?

Antwort: Als ich 1948 meinen späteren Ehemann kennenlernte, hatten Morches noch keinen Anschluss. Später hatten sie Telefon im Hause, aber genau kann ich das nicht sagen. Anhand der vorgelegten Fotokopien des Telefonanschlussverzeichnisses von Zittau kann ich sagen, dass erst in der Ausgabe von 1952 mein damaliger Schwiegervater Josef Morche unter der Telefonanschlussnummer 3566 verzeichnet ist. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein geschiedener Ehemann und ich oft miteinander telefoniert hätten. Er hat mich nur selten im Geschäft, also auf der Arbeitsstelle, angerufen, sonst nicht.

Frage: Waren Sie mit Ihrem geschiedenen Ehemann in den HO-Gaststätten Volkshaus und Dreiländereck in Zittau zu Gast?

Antwort: Ja. Vor unserer Ehe und auch zu Anfang bin ich manchmal mit ihm an Wochenenden oder an Feiertagen dorthin gegangen. Andere Gaststätten haben wir nur selten aufgesucht.

Frage: Kannten Sie oder Karl Morche Angestellte aus dem Volkshaus oder dem »Dreiländereck«?

Antwort: Persönlich kenne ich nur den Kollegen Raschke, den Objektleiter des »Dreiländerecks«, und den Kollegen Schulz, den Objektleiter des Volkshauses. Sonst kenne ich keinen Angestellten dort. Ob mein geschiedener Mann irgendeinen weiblichen oder männlichen Angestellten in den beiden HO-Gaststätten kennt, weiß ich nicht.

Frage: Können Sie sich erinnern, wie oft Sie von Karl Morche 1950 besucht wurden?

Antwort: Ich kann mich nicht erinnern, dass er einmal bis Mitternacht geblieben wäre. Das hätten meine Eltern auch nicht geduldet. Ich war 1950 erst 18 Jahre alt. Es kann nur sein, dass wir einmal ausgegangen sind und er mich nach Hause gebracht hat. Wir waren meist im Kino. Was er nach der Verabschiedung gemacht hat, ob er eventuell noch wo hingegangen ist, weiß ich nicht. Ich glaube aber nicht, dass er im Anschluss noch irgendetwas unternommen hat. Ich halte es auch für völlig ausgeschlossen, dass er außer zu mir Beziehungen zu anderen Frauen gehabt oder solche gesucht hat. Es war nicht seine Art, nach anderen Frauen zu schauen. 1950 hat er niemals übermäßig Alkohol getrunken. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals angeheitert oder gar betrunken gewesen ist.

Frage: Haben Sie im Sommer 1950 an einer großen Kulturveranstaltung im Volkshaus teilgenommen, zu der die IG Metall eingeladen hatte und an der Volkskunstgruppen der Volkspolizei und des VEB Phänomen, heute Robur, mitwirkten?

Antwort: Nein. Später besuchte ich einmal im Volkshaus eine solche Kulturveranstaltung, 1950 bestimmt nicht. In welchem Jahr das war, weiß ich nicht. Ich glaube, da waren wir schon verheiratet. Karl Morche hielt sich oft an der Theke auf und war ziemlich angeheitert. Obwohl wir bereits verheiratet waren, wohnten wir noch getrennt bei unseren Eltern. Er brachte mich nach Hause, glaube ich jedenfalls.

Frage: Welchen Weg nahm Karl Morche, wenn er von Ihnen zurück zu seinen Eltern ging?

Antwort: Ich nehme an, dass er über die Äußere Weberstraße nach der Inneren Oybiner Straße 28 gegangen ist. Also am Ende der Äußeren Weberstraße müsste er gegenüber der Weberkirche in die Grünanlagen neben dem Feierabendheim »Rosa Luxemburg« oder in die Dr.-Brinitzer-Straße zur Inneren Oybiner Straße gelaufen sein.

Frage: Nachdem Sie am 1. Juli 1967 in der zu klärenden Sache erstmals als Zeugin vernommen wurden und Sie wissen, dass Ihr geschiedener Ehemann sich selbst bezichtigt hat, an der Weberkirche eine Frau getötet zu haben, hatten Sie Zeit, alles in Ruhe zu überdenken. Haben Sie von Ihrem geschiedenen Mann, auch andeutungsweise, jemals gehört, dass er mit diesem Tötungsverbrechen in Verbindung stünde?