Die Flucht in den Hass

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*Vgl. auch Harold O. Lasswell, World Politics and Personal Insecurity, S. 177; „Menschen, die die Umgebung, in der sie groß geworden sind, verlassen, zeigen in der neuen Umgebung verschiedene Grade persönlicher Anpassungsschwierigkeiten. In ihrer ursprünglichen Umgebung dienten Familie, Kirche, Schule, Freunde und Nachbarn als immer von neuem wirksame Antriebe zur Beibehaltung erworbener Hemmungen. In der neuen Umgebung fallen solche äußeren Stützen für das Über-Ich häufig fort; ja die alten Symbole fehlen vielleicht nicht nur, sondern sie werden von der neuen Umgebung manchmal sogar mit offener Nichtachtung behandelt.“ Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, daß es uns nicht um Apologetik geht, weshalb mit der einfachen Gegenbehauptung, daß die weitaus überwiegende Mehrheit der Juden in der Intensität ihrer religiösen Bedingungen sich nicht von ihrer Umwelt unterscheidet, nichts gewonnen wäre. Wie dünn auch immer die Schicht der jüdischen Irreligiösen im Vergleich zu den religiös Gebundenen sein mag, die ihr zuteilgewordene öffentliche Aufmerksamkeit macht es wünschenswert, auf die Entstehung und Wirkung der Erscheinung näher einzugehen.

*Von den Schwierigkeiten, die dieser Tendenz in Amerika entgegenstehen, gibt Leonhard Bloom, The Jews of Buna, in: Jews in a Gentile World, S. 195 u. S. 197, ein interessantes Bild.

*Gutes Zahlenmaterial für Deutschland bei Lestschinsky, a. a. O., Kapitel IV, Die Urbanisierung und Konzentrierung der Juden in Deutschland, S. 59 ff.

*Vgl. über den Ursprung der jüdischen Schneiderei: Baron, a. a. O., Bd. II, S. 14. Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 133, nimmt an, daß sich aus dem Altkleiderhandel der Handel mit neuen Kleidern und aus diesem die Konfektionsindustrie entwickelte.

*Die Bedeutung gleicher wirtschaftlicher, sozialer und bildungsmäßiger Möglichkeiten für die Annäherung des äußeren Typs unterstreicht Melville Jacobs, Jewish Blood and Culture, in: Jews in a Gentile World, S. 54.

*Bei aller dankbaren Anerkennung für die Aufhellung der abergläubischen Bestandteile des Antisemitismus durch Trachtenberg möchten wir uns doch im folgenden von ihm absetzen: Wir vermögen in ihnen nicht den tiefsten, ja nicht einmal den wichtigsten Entstehungsgrund des Antisemitismus zu sehen, sondern nur eine sich unter normalen Verhältnissen zunehmend verflüchtigende latente psychische Prädisposition, zu deren Aktivierung es zunehmend stärkerer anderer Faktoren bedarf.

*Die die aus schärferer Konkurrenz geborenen Angstgefühle sich direkt in Gruppenhaß und verschiedenartige Rationalisierungen umsetzen, zeigt David Rodnick, Group Frustrations in Connecticut, in: The American Journal of Sociology, Sept. 1941, S. 160 ff. Vgl. ferner Louis Wirth, Morale and Minority Groups, in: The American Journal of Sociology, Bd. 47, Nr. 3, 1941, S. 423.

*„‚Staat im Staat‘, – das war der Vorwurf, den alle Judengegner ausnahmslos dem Judentum ins Gesicht schleuderten.“ (Heinz Bender, Der Kampf um die Judenemanzipation in Deutschland im Spiegel der Flugschriften 1815-1820, S. 93.)

*Dabei spielen auch religiöse Momente, wie der angebliche jüdische Glaube an einen „menschenfeindlichen Gott“ (Fichte, a. a. O., S. 133), der Talmud (Fries, a. a. O., S. 251) und die Idee des auserwählten Volkes (Fries, a. a. O., S. 251 u. S. 253) eine Rolle.

ZWEITER TEIL DIE ZEIT
1. Die Konkurrenzwirtschaft als Brutstätte kollektiver Unzufriedenheit

Innerhalb der Ursachen, die zur Vernichtung der deutschen Juden durch den Nationalsozialismus geführt haben, spielen Judenfrage und Antisemitismus nur eine untergeordnete Rolle. Diese Behauptung klingt paradox. Sie wird jedoch bewiesen werden durch eine Analyse der wirklichen Ursachen, die am Aufkommen des Nationalsozialismus mitgewirkt haben. Das Wesen des Nationalsozialismus erklärt sich ebensowenig allein aus dem Antisemitismus wie aus den Folgen der deutschen Nachkriegskrise oder dem Abwehrkampf des in die Verteidigung gezwungenen Monopolkapitalismus. Diese Faktoren haben lediglich eine Entwicklung zu ihrem Höhepunkt gebracht, die sich seit langer Zeit vorbereitet hatte.

Es liegt eine historische Tragik darin, daß die Emanzipation der Juden in eine Gesellschaft hinein erfolgte, die auf Konkurrenzwirtschaft beruhte. Zwar ist dieser Zusammenhang ganz gewiß nicht zufällig; es war wesentlich der durch die freier gewordene Wirtschaft bedingte Geist der Zeit, der die Emanzipation bewirkt hat. Aber gerade dieser inneren Abhängigkeit der Judenbefreiung von einer Zeit, deren wirkende Kräfte zugleich dazu geeignet waren, die Errungenschaften der Freiheit selbst in Frage zu stellen, wohnt eine tragische Note inne. Wenn wir um des Denkexperimentes willen einmal für einen Augenblick bei der Vorstellung verweilen, daß die Juden in eine nichtkonkurrierende Wirtschaft, etwa das mittelalterliche Zunftsystem hinein emanzipiert worden wären, wird uns der Unterschied klar werden. Nehmen wir an, die Zünfte hätten sich bereiterklärt, jüdische Gesellen und Meister unter den gleichen Bedingungen wie nichtjüdische aufzunehmen. Nehmen wir weiter an, daß trotz einer gewissen Voreingenommenheit der jüdischen Handwerker für Methoden des Wettbewerbs, die sie aus ihrer früheren Stellung außerhalb der Berufsverbände mitbrachten, diese Regelung schließlich zu einem normalen Ruhestand reibungsloser Zusammenarbeit geführt hätte. Die Folge wäre gewesen, daß einerseits die jüdischen Zunftmeister ihr gesichertes Auskommen gehabt hätten, daß anderseits der Versuch, entgegen den geltenden Zunftregeln eine Vergrößerung ihres Umsatzes auf Kosten der Zunftgenossen anzustreben, zu ihrem Ausschluß und so zum sofortigen Verlust ihres Einkommens geführt hätte. Aber eine derartige gebundene Wirtschaft hätte nicht nur Zusammenstöße jüdischer und nichtjüdischer Interessen auf wirtschaftlichem Gebiet wesentlich vermindert: eine statische, in feste Satzungen gebundene und in auskömmliche Erwerbssphären aufgeteilte Wirtschaft gibt an sich dem Menschen Sicherheit. Sie bewahrt ihn gewiß nicht vor persönlichem Unglück, und sie macht ihn auch außerordentlich „verbands-bewußt“, so daß der Stolz auf den eigenen und die Geringerwertung eines anderen Verbands häufig für eine Abreaktion „unechter“ psychischer Bedürfnisse herhalten muß. Aber die wirtschaftliche Sphäre als solche gibt normalerweise nicht Anlaß zum Entstehen starker Unlustgefühle. Die Unluststeigerung während der Krisen fällt weg, weil es Krisen in einer gesunden statischen Wirtschaft nicht gibt. Und der in eine solche Wirtschaft hineinemanzipierte Jude hätte nach einer kurzen Übergangszeit nicht mehr als eine wirtschaftliche Beeinträchtigung empfunden werden können, da eine Konkurrenzmöglichkeit nicht bestand.

Dieses reichlich irreale Denkexperiment mit einer Reihe von praktisch unmöglichen Voraussetzungen sollte dazu dienen, uns an einem Gegensatz klarzumachen, unter wieviel ungünstigeren Bedingungen die jüdische Emanzipation tatsächlich erfolgt ist. Das 19. Jahrhundert ist in ganz West- und Mitteleuropa ein Jahrhundert rascher wirtschaftlicher Entwicklung gewesen. Die „industrielle Revolution“ hatte zwar in England schon im späten 18. Jahrhundert eingesetzt, und ihr Äquivalent in Deutschland trat erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in sein entscheidendes Stadium ein; aber trotz diesen beträchtlichen zeitlichen Unterschieden ist sämtlichen Ländern das eine gemeinsam, daß die wirtschaftliche Entwicklung des Industrialismus zur Zeit der Emanzipation in sehr raschem Tempo vor sich geht. Der Industrialismus nun ist diejenige Phase des Kapitalismus, in der – wie der Name sagt – die Maschinenarbeit an die Stelle der handwerklichen Produktion und der Manufaktur tritt. Dieser Übergang bedeutet in jedem Falle eine überaus folgenreiche und umfassende Neuordnung aller wirtschaftlichen Verhältnisse, eine echte Revolutionierung, wie der englische Ausdruck zutreffend andeutet. An die Stelle der statischen Wirtschaft, die wir soeben sehr schematisch und unzulänglich skizzierten, tritt eine dynamische.* Das Mitglied der Zunft hat nicht länger sein Auskommen, das durch Tradition und geltendes Recht garantiert wird, sondern diese alte Gesetzgebung wird allenthalben abgebaut und revidiert zugunsten einer freien Konkurrenz.** Damit wird auf wirtschaftlichem Gebiet der Kampf aller gegen alle ausgelöst. Alle Bindungen werden beseitigt, die bis dahin die wirtschaftliche Betätigung nicht nur gehemmt, sondern auch geschützt hatten. Das Streben nach „Auskommen“ wird abgelöst durch das Streben nach „Gewinn“, die Herrschaft der „Sitte“ durch das wirtschaftliche Kalkül; an die Stelle der Tradition tritt der Fortschritt, an die Stelle der Qualität die Verkäuflichkeit. Das bedeutet, mit einem Wort, die Verwandlung eines ruhigen, sicheren Lebens und Arbeitens in ständige Bewegung, in Wettstreit, Kampf, Hast und Unsicherheit. Der Mensch ruht nicht mehr in der sicheren Hut seiner alten überkommenen Vorschriften und nicht mehr in der gewohnten Nähe seiner Verbandsgenossen. Er ist aus der Enge des vorgezeichneten Weges gelöst, er steht allein, von Feinden umgeben.***

 

Im Zeichen der freien Konkurrenz wird aber nicht nur das Individuum aus der schützenden Gemeinschaft herausgelöst und auf sich selbst gestellt, auch die Wirtschaft selbst wird sozusagen „emanzipiert“. Auch sie wird befreit von den gesetzlichen Umklammerungen und hineingestellt in ihre eigene wirtschaftliche Gesetzlichkeit. Diese wirtschaftliche Gesetzlichkeit führt aus Gründen, die wir hier nicht nachzuprüfen haben, zu Konjunkturschwankungen, das heißt zu einem Wechsel von Hochkonjunkturen und Absatzstockungen. Von der Produktionssphäre auf den Arbeitsmarkt übertragen heißt das: Perioden einer relativ hohen Nachfrage nach Arbeitnehmern wechseln mit einem Überangebot an Arbeitskraft, das heißt mit Arbeitslosigkeit.

So werden zwei Richtungen erkennbar, aus denen dem wirtschaftenden Menschen des industriellen Zeitalters Erschwerungen erwachsen. Einmal die individuelle Notwendigkeit, sich einer in ständigem Fluß befindlichen Wirtschaft anzupassen, innerhalb deren Stillstand Rückschritt bedeutet. Die Notwendigkeit, mit einer sich immer vergrößernden Zahl von Konkurrenten Schritt zu halten und sich im Kampfe mit ihr durchzusetzen, zwingt zur Vornahme dauernder Veränderungen, Vergrößerungen, Beschleunigungen in Warenproduktion und Warenumsatz.* Aber selbst eine erfolgreiche Bewältigung solcher individueller Konkurrenzprobleme sichert den freien Unternehmer keineswegs vor Rückschlägen, ja vor einem eventuellen Existenzverlust: die zweite Gefahr nämlich droht von den Konjunkturrückschlägen, die selbst – ja gerade infolge etwaiger gewagterer Investitionen – den erfolgreichen Geschäftsmann mit Verlusten bedrohen.

So etwa liegen die Verhältnisse für den Geschäftsmann, der den oberen Schichten der neuen Wirtschaft angehört, für den Kaufmann und den Industriellen, deren schwierige wirtschaftliche Funktionen durch die gewaltigen Erfolgschancen der Wirtschaft reichlich kompensiert werden. Das Bild wird noch unfreundlicher, wenn wir jene Schichten betrachten, denen die neue Wirtschaft des 19. Jahrhunderts grundsätzlich nicht so günstig ist wie den bisher erwähnten. Der Handwerker, der den Anschluß an die maschinelle Produktion nicht oder noch nicht gefunden hat, hat nicht nur die freie Konkurrenz mit seinesgleichen, sondern auch die ungleich schwierigere mit der Fabrik zu bestehen. Für ihn ist der Kampf in vielen Fällen aussichtslos, da seine Produktionsmethode selbst und nicht nur ein etwa unzulängliches persönliches Verfahren die Schuld an seiner wirtschaftlichen Unterlegenheit trägt. Auch bei vielen Inhabern von Kleinbetrieben, in Produktion und Verteilung, liegt eine solche strukturelle Unterlegenheit vor.

Eine ganz besondere Stellung in der Geschichte der industriellen Wirtschaft nehmen die Lohnarbeiter ein. Sie sind recht eigentlich die Voraussetzung und immer neu auch das Produkt der industriellen Wirtschaft. Sie sind ohne Besitz und darum den Härten des Wirtschaftskampfes besonders schutzlos preisgegeben. Gerade deshalb aber sind sie die ersten, die den- zweifelhaften, den für sie nahezu illusorischen Vorteilen der freien Konkurrenz gegen ihresgleichen freiwillig entsagen und sich, indem sie die Struktur der freien Wirtschaft durchbrechen, zu Korporationen zusammenschließen. Den Gefahren der Arbeitslosigkeit bleiben sie trotzdem in stärkstem Maße ausgesetzt. Daß ihre objektive wirtschaftliche Schwäche, ihr Leben in ständiger Nähe des Existenzminimums und ihre durchschnittliche Unbildung sie trotzdem nur in Ausnahmefällen in die Reihen des politischen Antisemitismus geführt haben, ist um so erstaunlicher, als ihnen der Druck des Kapitalismus häufig genug in der Person eines jüdischen Arbeitgebers oder Kaufmanns entgegentrat. Wir werden auf dieses Phänomen in anderem Zusammenhang noch eingehen.

Unter den Schichten, die durch den Kapitalismus in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind, muß schließlich die Landwirtschaft noch betrachtet werden. Auch auf ihr lastet zur Zeit der industriellen Entwicklung, ähnlich wie auf dem Handwerk, die gesamte Struktur der neuen Wirtschaft, oder richtiger: der durch die neue Wirtschaft ausgelösten Wirtschaftspolitik. Ganz allgemein wächst mit dem industriellen Aufschwung auch der Bedarf an Agrarprodukten. Aber die erstarkende und sich politisch organisierende Industrie läßt die heimische Landwirtschaft die Folgen dieser Konjunktur nicht lange genießen. Sie strebt danach, die Preise der landwirtschaftlichen Produkte und damit die Arbeitslöhne so niedrig wie möglich zu halten, und tritt deshalb für eine Aufhebung der Agrarzölle ein. Selbst wenn, wie in Deutschland, dieser Kampf nach einer Zeit des Freihandels zugunsten der Landwirtschaft entschieden wird (Bismarcks Übergang zur Schutzzollpolitik 1878), ist er damit keineswegs beendet. Nicht nur schränkt Bismarcks Nachfolger Caprivi die Schutzzollpolitik wieder ein, sondern die Landwirtschaft leidet auch ständig unter chronischen Übeln wie Verschuldung, Güterzerschlagung, unrationeller Wirtschaft und so weiter.*

Zwar stellt sich dieser Kampf der Landwirtschaft für Großgrundbesitzer anders dar als für Bauern; aber beide Schichten sind sich bei vielen inneren Differenzen doch einig darin, daß sie sich als die Stiefkinder der industriellen Entwicklung empfinden. Die Redensart: „Landwirte klagen immer“ war in Deutschland wohlbekannt. Es verdient für später auftauchende Gesichtspunkte festgehalten zu werden, daß die Landwirtschaft in steigendem Maße darauf angewiesen war, die ihre Existenz erhaltenden Agrarzölle mit außerwirtschaftlichen, vor allem militärischen Argumenten zu unterbauen. Sie wies darauf hin, daß Deutschland im Kriegsfall eine eigene Landwirtschaft nötig hätte und deshalb gezwungen wäre, sich seine Landwirtschaft selbst unter wirtschaftlichen Opfern zu erhalten.

Diese knappe Übersicht über die Situation der hauptsächlichen Berufsgruppen in der industriellen Wirtschaft gibt absichtlich ein einseitiges Bild. Sie vernachlässigt den ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung, den tatsächlich jede Gruppe durch den Kapitalismus genommen hat, das unerhörte Anwachsen an materiellem Reichtum, die Fortschritte in dem äußeren Wohlleben selbst der relativ gedrückten Bevölkerungsschichten. Hier, wo es uns darauf ankommt, den Ursachen des Entstehens weit verbreiteter Unlustgefühle auf die Spur zu kommen, mußten wir mit gutem Grund auf die Schwierigkeiten hinweisen, um deren Preis der wirtschaftliche Fortschritt erkauft wurde. Weil es für diese objektive Maßstäbe nicht gibt, wie sie für den wachsenden Reichtum, die steigende Bevölkerungszahl, die Fortschritte der Technik zur Verfügung stehen, wird diesem veränderten Lebensgefühl der frei konkurrierenden Erwerbswirtschaft gemeinhin nur geringe Beachtung geschenkt. Geschichts- und Wirtschaftsgeschichtswerke sind voll von Bewunderung für die gewaltigen Errungenschaften dieser Zeit. Kein Zweifel, daß sie die Menschen freier, reicher und – abgesehen von den Gesundheitsschädigungen der frühkapitalistischen Arbeitsweise – körperlich gesünder gemacht haben. Diese Leistungen sind so gewaltig, daß eine sentimentale Klage um die „gute alte Zeit“ durchaus fehl am Platze wäre. Berechtigt aber ist die Frage, ob die neue Zeit die Menschen glücklicher gemacht hat. Glück ist, wie erwähnt, nicht meßbar; aber wenn man Stärke und Allgemeinheit der trotz allem wirtschaftlichen Aufstieg vorhandenen Unsicherheit in Rechnung stellt80 und dazu die anwachsende Verbreitung nervöser Störungen, wie sie vorwiegend aus einer mangelhaften Bewältigung von Lebensschwierigkeiten entstanden sind, so wird man an einem Zuwachs an menschlichem Glück, der dem technischen Fortschritt entspräche, mit Fug zweifeln dürfen.*

So ist es denn nicht zu verwundern, daß der Kapitalismus trotz seinen großartigen Errungenschaften es nicht fertiggebracht hat,, die von ihm gestaltete Zeit mit Sympathien für sich zu erfüllen. In seiner tragischen Verteidigungsschrift81 – tragisch, weil der Verfasser trotz den dem Kapitalismus nach seiner Ansicht noch heute innewohnenden Kräften nicht an seine Zukunft glaubt – bezeichnet Joseph Schumpeter „gefühlsmäßige Zuneigung“ zu seiner gesellschaftlichen Ordnung als „den Inbegriff dessen, was der Kapitalismus seinem Wesen nach unfähig ist hervorzurufen“.82 Er spricht von einer „Atmosphäre von nahezu allgemeiner Feindseligkeit gegen seine eigene soziale Ordnung“, die der Kapitalismus schaffe83 und erklärt die Verurteilung des Kapitalismus und aller seiner Schöpfungen geradezu für ein „Erfordernis der Gesprächsetikette“.84 Schumpeters ambivalente Haltung wird am besten charakterisiert durch seine Formel „Schöpferische Zerstörung, in der er das eigentliche Wesen des Kapitalismus sieht.85 Sombart spricht in ähnlicher Weise von dem sonst von ihm überschwenglich gepriesenen Wirtschaftssystem als von einem „Hexensabbath“, „den die Menschheit seit Beginn des 19. Jahrhunderts aufführt“ 86, von einem „Riesen“, der „fessellos durch die Lande“ jage, „alles niederreißend, was sich ihm in den Weg stellt“. Er empfiehlt, gegen ihn wie gegen eine Feuersbrunst „Schutzvorkehrungen zu treffen, Leib und Leben zu sichern, Löscheimer aufzustellen“.87 An mehreren Stellen schildert er die dem Kapitalismus innewohnende Eigenschaft, den wirtschaftenden Menschen unablässig zu immer neuem Kraftaufwand anzutreiben88 und die „Energieausgabe des modernen Wirtschaftsmenschen extensiv wie intensiv bis an die Grenze des Menschenmöglichen“ zu steigern. Er spricht von den „bis zum Wahnsinn arbeitenden Menschen“, die „beständig vor Überanstrengung zusammenzubrechen drohen“.89

Wir haben absichtlich zwei Kritiker für viele andere sprechen lassen, die ohne – jedenfalls ihnen selbst bewußte – Vorurteile gegen den Kapitalismus seine Bilanz ziehen. Eine Aufzählung sozialistischer Verdammungsurteile, an denen gewiß kein Mangel ist, wäre weit weniger beweiskräftig gewesen. Daß aber zwei Volkswirtschafter, die sich der kapitalistischen Leistung so bewußt sind wie die zitierten, so vernichtende Gesamturteile zu fällen sich gezwungen sehen, dürfte die inneren Disharmonien des Systems zur Genüge beleuchten. Für unsere Beweisführung von geradezu überragender Bedeutung ist, daß sie die hauptsächlichen Schäden innerhalb der menschlichen Sphäre feststellen. Wohl erschließen sich den Menschen durch technische Fortschritte und den Fortfall gesetzlicher Schranken noch nie dagewesene Chancen des wirtschaftlichen Aufstiegs, – aber sie zahlen dafür mit einer so riesigen Kraftanstrengung, daß der Preis zu hoch erscheint. Das Leben ist mannigfaltiger und reicher geworden, aber Vielgestalt und Reichtum haben es nicht leichter gemacht, sondern schwerer. Ein Beispiel dafür bildet das chancen- und abwechslungsreiche Stadtleben, das mit seinem atemraubenden Tempo immer mehr Menschen dem Landleben entzieht. Schwer und nervenzerrüttend ist das Leben für den erfolgreichen Unternehmer selbst in einer Phase aufsteigender Konjunktur. Es wird schwerer und zerrüttender mit jedem Stillstand und Konjunkturrückgang. Das Leben ist voller Enttäuschung und vergeblichem Bemühen für den Handwerker, für den Besitzer eines kleinen Unternehmens, für den Landwirt, für den Bauern selbst in einer expansiven Phase. Seine Schwierigkeiten steigern sich in der Krise bis zur Verzweiflung. Für den Lohnarbeiter, der sich auch in Zeiten voller Beschäftigung nur mühevoll an der Grenze des Existenzminimums dahinschleppt, ist das Leben eintönige stumpfe Schufterei. Eine längere Arbeitslosigkeit bedeutet für ihn die materielle und moralische Katastrophe. Kein Zweifel, es gab in der Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auch Perioden des Aufstiegs, die allen Schichten zugute kamen, etwa während der fünfziger Jahre90 und in Deutschland in der berühmten „Gründerzeit“ nach dem Abschluß des deutsch-französischen Krieges 1871. Im ersten Falle folgte die Krise im Jahre 1857 nach einem Wertsturz amerikanischer Eisenbahnobligationen91, im zweiten schon nach zwei Jahren, 1873, infolge eines Bankkrachs in Wien. Zwischen 1873 und 1901 liegen noch drei weitere Wellen von Rückschlägen mit darauf folgender Erholung92. So stand neben der Genugtuung über jede wirtschaftliche Aufwärtsbewegung immer auch schon die Angst vor einem neuen Zusammenbruch.

Die Frage, warum das 19. Jahrhundert eine so besonders fruchtbare Brutstätte für kollektive Unlustgefühle, mit anderen Worten, für die „unechten“ Entstehungsursachen des Antisemitismus bildete, kann mit dem bisher Gesagten schon als wenigstens teilweise beantwortet gelten. Wo, wie Milton Steinberg sagt93, „die Hand jedes Menschen sich gegen seinen Bruder erhebt“, wo „der Fortschritt des Einen nur möglich ist auf Kosten des Anderen“, da wachsen nicht nur Unlust und Aggressivität in allen Kreisen, sondern da werden auch die Schichten, die – wie Klein-, Mittelbürger und Intellektuelle – den direkten Wettbewerb der Juden zu spüren bekommen, empfänglich für diskriminierende Gedankengänge, die ihnen die Aussicht eröffnen, möglichst die ganze Gruppe von Konkurrenten auf einmal loszuwerden. Diesem Wunsche würde grundsätzlich durch die Entfernung jeder Gruppe von Konkurrenten Genüge geschehen, er richtet sich gegen die Konkurrenz insgesamt und nicht gegen die Juden. Allein die Tatsache,- daß die Juden „fremd“ und „anders“ sind oder so hingestellt werden, läßt den Wunsch, der latent immer vorhanden ist, plötzlich erfüllbar erscheinen. Die Angst vor der Konkurrenz begleitet den Kampf gegen die Juden von Anfang an als ständiges Leitmotiv. In der Frühzeit der Emanzipation wurde es in voller Offenheit angeschlagen*, während man es später aus allen möglichen Variationen heraushören muß. Diese Entwicklung bezeichnet in etwa seine Verwandlung von einem in unserem Sinne „echten“ zu einem „unechten“ Motiv des Antisemitismus. Da nämlich, wo es sich um Konkurrenz Fremder oder wo es sich um unlautere oder auch nur dem Herkommen widersprechende Konkurrenz handelt*, liegt ein echter Antagonismus vor, eine legitime Selbstbehauptung der autochthonen, das heißt der mit herkömmlichen Mitteln arbeitenden Gruppe. Verschwindet aber, wie im Falle der emanzipierten Juden des 19. und 20. Jahrhunderts, die Fremdheit in gleichem Maße mit den anfänglich angewandten ungewohnten und traditionsfremden Methoden, so wird die Ausschaltung der Gruppenkonkurrenz mit zunehmend schlechterem Gewissen gefordert. Man versucht dann, die Fremdheit wieder vorzutäuschen, Unlauterkeit der Geschäftsmethoden zu behaupten; man spricht von „Übermacht“, „Vorherrschaft“ der Minderheit, von „Überfremdung“, um so scheinbar objektive „echte“ Gründe für die Abwehr der Konkurrenz in den Vordergrund zu rücken. Man arbeitet schließlich mit allen möglichen Vorwänden und Kampfparolen, die dazu bestimmt sind, das wirtschaftliche Motiv völlig zu vertuschen, und die in ihrem Kern doch dem „unechten“ Antrieb der reinen Wirtschaftsangst ihre Entstehung verdanken.

 

Obgleich die vorstehenden Bemerkungen dazu bestimmt waren, zu verdeutlichen, mit welchen aus der wirtschaftlichen Sphäre stammenden Schwierigkeiten jede Gruppe, die in eine konkurrierende Gesellschaft hinein emanzipiert wird, zu rechnen hat, dürfen sie doch nicht ohne einen spezifischen Hinweis abgeschlossen werden. Es ist nicht so, als ob die Juden nur „irgendeine“ solche Gruppe darstellten; ihr Verhältnis zum wirtschaftlichen Wettbewerb ist von ganz besonderer Art. Wir haben bereits weiter oben auf die Vorherrschaft der Juden im Waren- und Geldhandel, sowie auf ihren Ausschluß aus den der Konkurrenz abgeneigten mittelalterlichen Wirtschaftsverbänden hingewiesen. Beide Tatsachen zusammen mit ihren Voraussetzungen und Folgeerscheinungen genügen, um zu erklären, warum die Juden eine besondere Eignung und Neigung, mit einem Worte, das, was Sombart „Wirtschaftsgesinnung“ nennt, für die freie Konkurrenzwirtschaft mitbrachten. Man braucht keineswegs so weit zu gehen, in ihnen, wie Sombart94, die Schöpfer des Kapitalismus zu sehen und zum Beweise dafür ihre Religion und Frühgeschichte heranzuziehen, um ihre hervorragende Rolle in der Entwicklung und Ausbreitung kapitalistischer Methoden uneingeschränkt zu würdigen. Die historische Tragik, die in dem zeitlichen Zusammenfall der jüdischen Emanzipation mit einer besonders markanten Entwicklungsphase der kapitalistischen Wirtschaft liegt, kann erst dann völlig begriffen werden, wenn man die besondere Beziehung erkennt, die zwischen den Juden und gerade dieser Wirtschaftsform besteht, die eine so gewaltige Feindseligkeit unter den Menschen hervorgerufen hat. Ganz gleich, ob die Juden durch eine ihnen eingeborene Anlage oder durch ihre historische Situation auf Wirtschaftsrationalismus und Wettbewerb hingelenkt wurden, überall wirkten sie als kapitalistische Pioniere. Sie traten nicht nur als gewöhnliche Konkurrenten in eine Gesellschaft ein, in der fortan in gesteigertem Maße „homo hominis lupus“ war, sondern sie zeigten sich als besonders befähigte, äußerst bewegliche und vorwärtstreibende Konkurrenten. Frei von der mittelalterlichen Tradition, an der sie nicht hatten teilhaben dürfen, frei von sentimentalen Bindungen verschiedener Art, die in ihrer Umgebung noch lange hemmend nachwirkten, auch als die kapitalistische Wirtschaftsauffassung offiziell schon lange herrschend geworden war, betätigten sie sich konsequent nach den nunmehr nicht mehr erlaubten, sondern immanent geforderten Wirtschaftsprinzipien. So wurden sie die Träger der „schöpferischen Zerstörung“, die sichtbaren Symbole einer die Menschen gegeneinanderstellenden und ganze Schichten mit Vernichtung bedrohenden neuen Ära. „Je mehr sich jüdisches Wesen durchsetzt, desto ausschließlicher kommt die kapitalistische Organisation zur Anwendung“, sagt Sombart95, um nur eine Stelle für viele andere anzuführen. Und er fährt fort: „Ganz besonders deutlich kommt diese jüdische Mission – den Übergang zum Kapitalismus zu befördern – dort zum Ausdruck, wo es gilt, die heute noch konservierten Reste vorkapitalistischer Organisation aus der Welt zu schaffen: in der Zersetzung der letzten Handwerke und der handwerksmäßigen Krämerei. Man kann getrost sagen, daß etwa Schneiderei, Schuhmacherei, Tischlerei, Bauhandwerk zum großen Teil der rastlosen Tätigkeit jüdischer Geschäftsmänner ihren Untergang verdanken.“ Man wird sich nicht wundern, daß Sombart mit den Worten schließt, die auch uns wieder in unsere eigentliche Betrachtung zurückführen: „Weshalb denn sich gerade in jenen Kreisen des sinkenden Handwerks ein durchaus naturwüchsiger Antisemitismus entwickelt hat, der sich, wie es solchen blinden Volksbewegungen eigen zu sein pflegt, an die greifbare Form (das Judentum) statt an den inneren Kern (den Kapitalismus) hält.“

Das Leben wird schwerer, gleichzeitig tritt die Masse der Juden – im Unterschied zu den vorher allein privilegierten wenigen – in die Gesellschaft ein. Das Leben wird nicht schwerer durch die Juden; aber es scheint den unmittelbar Betroffenen oft so, weil die erschwerenden Umstände häufig durch Juden personifiziert in ihr Bewußtsein treten. Es liegt auf der Hand, daß ein solches Zusammentreffen dem Antisemitismus Nahrung geben mußte. Zwar kam der Jude in seiner äußeren Erscheinung, in seinem Denken, Fühlen und Verhalten dem Nichtjuden unablässig näher. Er sprach kein fremdes Idiom mehr, kleidete sich wie seine Nachbarn, er fiel immer weniger heraus aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Bild.* Aber Vorurteile waren noch vorhanden, neue Antipathien wurden geboren, und ein allgemeines Bedürfnis, seine durch den schweren Lebenskampf fortwährend neu genährte Aggressivität an einem geeigneten Symbol zu entladen, wartete auf Befriedigung.

Derartige aufeinander angewiesene Antriebe mußten sich schließlich zusammenfinden. Sie bildeten die nie versagende Quelle des latenten Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, aus der Schriftsteller und Politiker jederzeit schöpfen konnten, wenn es ihnen aus irgendwelchen Gründen wünschenswert erschien. Ja die Quelle besitzt sogar eine Eigenschaft, von der man sagen könnte, daß sie ans Wunderbare grenze, wenn sie nicht so leicht zu erklären wäre: die Quelle floß nämlich desto reichlicher, je mehr Wasser man ihr entzog. Mit anderen Worten: je mehr Antisemitismus man für politische Zwecke mobilisierte, desto stärker wurde seine Verbreitung. Das besagt aber gar nichts anderes, als daß durch die wirksame Agitation immer mehr latente Aggressivität, immer mehr „unechte“ antisemitische Antriebe in das Flußbett der Judenfrage gelenkt wurden. Das antisemitische Symbol schlug andere Antisymbole siegreich aus dem Felde. Wäre nicht zur gleichen Zeit die am härtesten von der wirtschaftlichen Entwicklung betroffene Schicht, die Arbeiterschaft, durch die überlegene Symbolik des Sozialismus in eine rationalistische und humanitäre Richtung gelenkt worden, so wären zweifellos auch von daher dem Antisemitismus weitere Kraftströme zu Hilfe gekommen. So aber wurde sein Kräftereservoir vorwiegend von der am hoffnungslosesten leidenden Schicht gestellt: von der zwischen Großkapital und Arbeiterschaft eingekeilten Kleinbürgerschaft.96

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