Die Flucht in den Hass

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6. Psychische Wirkungen der Krise

Nachdem wir zu zeigen versucht haben, aus welchen Gründen die jüdische Gruppe sich in besonderer Gefahr befindet, latente gesellschaftliche Unlustgefühle und Feindseligkeit auf sich zu lenken, wollen wir nun die Entstehung menschlicher Aggressivität in ihrer sozialpsychologischen Bedeutung darzustellen versuchen. Dazu bedarf es einer methodologischen Vorbemerkung:

Soweit wir bisher objektive und subjektive Gründe für Gruppenspannungen erörtert haben, handelte es sich in dem einen Fall um rein gesellschaftliche, in dem anderen um rein psychologische Tatbestände. Wir werden es im folgenden mit einem Phänomen zu tun haben, in dem gesellschaftliche Voraussetzungen bestimmte psychologische Wirkungen erzeugen, einem Phänomen also, das beiden Gebieten zugleich angehört oder auf der Grenze zwischen ihnen liegt. Die Frage, wie weit Soziologie und Psychologie einander zu befruchten vermögen, ist noch weitgehend ungeklärt. Es besteht zwar ein verbreiteter Wunsch nach Zusammenarbeit in beiden Disziplinen, aber es liegen bisher nur wenige geglückte Versuche vor, den methodischen Weg zu einer solchen gegenseitigen Ergänzung zu bahnen. Selbst ein so verdienstvolles Symposion wie das dem Problem gewidmete Sonderheft des American Journal of Sociology69 legt eher Zeugnis ab für die Ungeklärtheit der Frage, ja für das Widerstreben, seine Forschungsmethoden durch Prinzipien durchkreuzen zu lassen, die der eigenen Disziplin fremd sind, als für das rückhaltlose Streben nach einer Unterstützung von „außen“ her. Insbesondere sind Psychologen nur selten geneigt, ihr ausschließlich auf die Diagnose des Einzelfalles gerichtetes Interesse durch soziale Verallgemeinerungen zu beschweren. Eine bemerkenswerte Ausnahme macht Karen Horney70, die in ihren Arbeiten jenen Faktoren nachgeht, die beim Entstehen von Neurosen auf alle Mitglieder eines Kulturkreises in gleicher Weise wirken. Auch Franz Alexander71 unternimmt einen brauchbaren Vorstoß ins psycho-soziologische Grenzgebiet, wenn er ausführt, daß ungeachtet aller individuellen Sonderheiten eine bestimmte gesellschaftliche Situation, wie etwa die gemeinsame Situation aller Arbeitgeber, aller Arbeitnehmer oder aller Bauern bestimmte gemeinsame Züge in allen Angehörigen der entsprechenden Schicht entstehen läßt. In ähnlicher Weise unterscheidet Erich Fromm72 zwischen „individuellem“ und „sozialem Charakter“. „Der soziale Charakter“, erklärt er, „umfaßt nur eine Auswahl von Zügen, nämlich diejenigen, die den meisten Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam sind und die sich aufgrund der gemeinsamen Erlebnisse und der gemeinsamen Lebensweise dieser Gruppe entwickelt haben.“

Wir übernehmen den Begriff dieses „Gesellschaftscharakters“ unter ausdrücklicher Ablehnung der Erweiterung, die Fromm ihm später zuteilwerden läßt. Dort nämlich sagt Fromm: „Deckt sich der Individualcharakter einigermaßen mit dem Gesellschaftscharakter, so wird der Betreffende durch die in seiner Persönlichkeit überwiegenden Triebe dazu veranlaßt, das zu tun, was unter den besonderen Bedingungen seines Kulturkreises nötig und erwünscht ist.“ Darin liegt aber die unserer Meinung nach falsche Annahme, daß die Züge, die als Folge einer bestimmten Gruppensituation den meisten Mitgliedern der Gruppe gemeinsam sind, zugleich unter den besonderen Bedingungen dieser Gruppensituation auch „nötig und erwünscht“ seien. Das braucht keineswegs der Fall zu sein. Der soziale Charakter der Deutschen, und besonders der deutschen Kleinbürger in der Nachkriegszeit, war entschieden neurotisch, das heißt er zeigte übergroße Erschöpfung und Feindseligkeit. Er neigte infolgedessen zu eben der Haltung, die die Voraussetzung für die Massenwirkung des Nationalsozialismus war. Diese Haltung als „nötig und erwünscht“ zu bezeichnen, dürfte nicht angängig sein. Fromms Fehler liegt darin, daß er „Gesellschaftscharakter“ mit einem positiven Wert versieht, also etwa so viel wie „gesunder Gesellschaftscharakter“ darunter versteht. Gerade der zeitweise Auseinanderfall zwischen dem vom jeweiligen „Gesellschaftscharakter“ bestimmten Verhalten und dem, was unter den gegebenen Verhältnissen „nötig und erwünscht“ ist, zeigt das Vorhandensein einer sozialpsychologischen Krise an.

Überhaupt ist die Unterscheidung zwischen einer generellen und einer individuellen psychischen Sphäre bei Angehörigen einer sozialen Gruppe erst ein Anfang. Sie kann dann zu wertvollen Ergebnissen führen, wenn gezeigt werden kann, in welcher Weise das Verhältnis zwischen genereller und individueller Sphäre nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern von Gruppe zu Gruppe, von Epoche zu Epoche und von Kultur zu Kultur sich verändert. Die generelle Sphäre dürfte relativ ausgedehnt sein in konformen Kulturen, und zwar sowohl bei primitiver, wie bei religiöser, wie bei post-rationaler Massen-Konformität; sie wird relativ groß sein in Gruppen, die sich in bedrängter materieller Situation befinden, in „durchschnittlichen“ – im Unterschied zu hochstehenden – Individuen. Sie wird sich – immer auf Kosten der individuellen Sphäre – verbreitern bei starker gefühlsmäßiger Erregung durch allgemeine Erlebnisse, sowie in Zeiten der Not; sie wird wiederum einer individuellen Differenzierung dann Platz machen, wenn ein erhöhter Lebensstandard und die Abwesenheit großer genereller Erschütterungen die freie Gestaltung einer relativ umfangreicheren Lebenssphäre zulassen. In dem gleichen Maße aber, in dem sich die generelle Sphäre zuungunsten der individuellen erweitert, wird die Anwendung gruppenpsychologischer Methoden im Sinne einer Psychologie ihrer typischen Mitglieder fruchtbar werden können. Von ihr zu unterscheiden ist die Psychologie der typischen Veränderungen, denen die Individuen infolge ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, wie der Menge, der formlosen oder ad hoc geformten Masse oder der organisierten Vereinigung unterliegen. Wir werden es zunächst nicht mit dieser Gruppenpsychologie im engeren Sinne, sondern mit der Psychologie der typischen Gruppenmitglieder zu tun haben.73

Nachdem wir die Rolle der individuellen Aggressivität für den Antisemitismus gekennzeichnet hatten, stellten wir die von der menschlichen Zivilisation untrennbaren persönlichen Triebverdrängungen und Unlustgefühle fest und haben nun einen gesellschaftlichen Tatbestand zu betrachten, unter dessen Einfluß diese Unlustgefühle die Neigung haben, in allen betroffenen Individuen sich außerordentlich zu vermehren: wir meinen die Krise.

Eine gesellschaftliche Krise besteht einmal dann, wenn die gesellschaftlichen Beziehungen auf einem oder mehreren Gebieten so aus dem Gleichgewicht geraten sind, daß sie völlig auseinanderzubrechen drohen, sofern es nicht gelingt, sie in einen neuen Gleichgewichtszustand zu überführen. Es wird ferner von einer Krise gesprochen, wenn die Zusammenbruchsgefahr zwar behoben ist, nun aber – so vor allem bei einer Wirtschaftskrise – eine allgemeine Stockung der normalen gesellschaftlichen Funktionen eintritt. Zwar widerspricht es beiden Definitionen nicht – ja es trägt sogar oft dazu bei, die Beseitigung krisenhafter Zustände zu erschweren –, daß einzelne Kreise von einer Krise profitieren; aber es folgt doch aus der schweren Gleichgewichtsstörung, der Kreislaufstockung und dem drohenden Zusammenbruch, daß jede Krise die normalen Lebensschwierigkeiten der Individuen, die von ihr erfaßt werden, erheblich vergrößert. Während die früher erwähnte Aggressivität sich vorwiegend aus der individuellen Situation des Individuums, seiner Familie, seinem persönlichen Lebensschicksal ergibt, gehört die Aggression, die durch die Krise entsteht, der generellen Sphäre an.

Die generelle Sphäre nimmt während der Krise an Bedeutung zu. Sie nimmt zu in jedem einzelnen Individuum, und sie umfaßt außerdem einen größeren Kreis von Individuen.

Die psychischen Kräfte jedes einzelnen Individuums werden infolge der auf alle wirkenden Krisenereignisse stärker als in normalen Zeiten beansprucht. Um ein Beispiel zu nennen: Ein Büroangestellter verbringt pro Tag normalerweise mit Arbeit, Hin- und Rückfahrt und Essen etwa zehn Stunden, mit Schlaf acht Stunden. Die Arbeit ist ihm zur Routine geworden und bindet weder große intellektuelle noch emotionelle Kräfte; während der übrigen sechs Stunden kann er in relativer Gemütsruhe seinen individuellen Lieblingsbeschäftigungen nachgehen. Verliert er während der Krise seinen Arbeitsplatz, so wird sein gesamtes Denken von der Sorge um eine neue Erwerbsmöglichkeit ganz ausgefüllt. Wohl gewinnt er rein äußerlich Zeit, aber nur ganz ausnahmsweise und unter äußerst seltenen, ungewöhnlich günstigen Umständen wird er in der Lage sein, die gewonnene Zeit zur Entspannung zu benutzen. Sie wird vielmehr wie bei allen seinen Schicksalsgenossen ausgefüllt sein mit Stellungssuche, Gelegenheitsarbeiten und Haushaltsfunktionen, durch deren Übernahme er die Kosten der Lebenshaltung herabzudrücken sucht. Das Entscheidende aber ist: sein gesamtes Denken und Fühlen bewegt sich um die Tatsache seiner Arbeitslosigkeit und schlägt damit die gleichen Wege ein wie das Denken und Fühlen aller seiner Leidensgefährten. Bei denen, die noch im Arbeitsprozeß verblieben sind, nimmt die Furcht vor der Ausschaltung einen anomal großen Raum ein. Um es kurz zu sagen: in dem, der aus der Wirtschaft ausgeschaltet ist oder unter ihr anomal stark zu leiden hat, wird die Wirtschaft, werden die allgemeinen Verhältnisse einen breiteren Raum einnehmen und einen größeren Kraftaufwand beanspruchen als in dem, der in seiner wirtschaftlichen Funktion beruhigt lebt und von ihr befriedigt ist. Genau die gleiche Veränderung und Verbreiterung jener generellen Sphäre, die von der Wirtschaft abhängig ist, ließe sich für den Kaufmann oder Industriellen nachweisen, der mit Absatzschwierigkeiten zu kämpfen hat.

 

Die generelle Sphäre wächst aber während der Krise nicht nur in jedem einzelnen Individuum, sondern ein größerer Menschenkreis als in normalen Zeiten gerät unter den Einfluß von gleichmachenden Faktoren. Mit anderen Worten: ein größerer Menschenkreis wird während der Krise allgemeine Züge aufweisen als in Zeiten, die der individuellen Differenzierung weitere Möglichkeiten offen lassen. Den ihm Angehörenden gemeinsam ist ein erhöhtes Angstgefühl, vermehrte Unsicherheit und das daraus sich ergebende Bedürfnis nach Selbstbestätigung und nach einem Objekt, die eigenen Unlustgefühle abzureagieren. Der Einbruch der generellen in die individuelle Sphäre innerhalb der Krise ist gleichbedeutend mit dem Ausbreiten feindlicher zuungunsten freundlicher Empfindungen. Die Folge ist, daß jene Gruppenrivalitäten, die für Selbstbestätigung und Abreaktion sich vorzüglich eignen und innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges gewissermaßen immer bereitliegen, während einer Krise mit besonderer Genugtuung zu diesen Zwecken benutzt werden. Die weitere Folge ist, daß der in so vielfacher Beziehung „bevorzugte“ Fall der jüdischen Gruppe in Krisenzeiten zu einem besonders brauchbaren Blitzableiter werden kann. Die Stärke des Antisemitismus in einem gegebenen Zeitabschnitt wird nachgerade zum Maßstab einer gesellschaftlichen Krise, und zwar in dem Maße, in dem durch Abnahme der objektiven Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden der empfundene Gegensatz immer ausschließlicher die Menge der subjektiv entstandenen generellen Unlustgefühle widerspiegelt.*

Die Einsichten, die wir aus diesen Betrachtungen gewonnen haben, lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Es gibt eine psychische Sphäre, die den Angehörigen gesellschaftlicher Gruppen gemeinsam ist; 2. diese generelle Sphäre vergrößert sich in Krisenzeiten in ihrer Tiefe und in ihrer Breitenausdehnung; 3. die generelle Sphäre ist in Krisenzeiten vorwiegend der Sitz von Unlustgefühlen und den mit ihnen verbundenen Wünschen nach Aggression und Selbstbestätigung; 4. die so entstandenen Wünsche – genauso wie die aus persönlichem Erleben entstandenen – suchen ihre Erfüllung in der Richtung bestehender Gruppenspannungen; 5. unter den gesellschaftlichen Gruppen ist die jüdische Gruppe besonders exponiert und eignet sich daher besonders zu einem Objekt für Aggression; 6. soweit die Krise durch Faktoren ausgelöst ist, die mit Juden nichts zu tun haben – also imgrunde in allen modernen gesellschaftlichen Krisenerscheinungen –, gehören die Unlustgefühle, welche die Krise auslöst, zu den „subjektiven“ oder „unechten“ Gründen des Antisemitismus.

7. Das Zusammenwirken objektiver und subjektiver Ursachen in der Geschichte des deutschen Antisemitismus

Während der verschiedenen Phasen der Geschichte der Emanzipation in Deutschland waren objektive und subjektive oder „echte“ und „unechte“ Gründe des Antisemitismus in jeweils verschiedenem Grade und Mischungsverhältnis vorhanden. Nicht einmal in der Frühzeit der Emanzipation, also in einer Zeit, in der die beginnende Gleichberechtigung einer weitgehend fremden jüdischen Gruppe durchaus ein gesellschaftliches Problem darstellte, hat dieser objektive Tatbestand ausgereicht, um zu einer antisemitischen Bewegung zu führen. Immer bedurfte es noch anderer, besonders wirtschaftlicher Gründe und zumeist auch einer zielbewußten Lenkung der aus diesen anderen Problemen herrührenden subjektiven Faktoren in den latenten Gruppengegensatz, um eine antisemitische Stimmung in breiteren Kreisen zu erzeugen. In den meisten Fällen ist die antisemitische Propaganda die Voraussetzung für eine Umwandlung subjektiver in vermeintlich objektive Spannungselemente. Aber kaum je erschöpft sich ihre Funktion in dem Kampf gegen die Juden. Nahezu jeder antisemitische Publizist und Propagandist verfolgt außer antisemitischen noch andere politische Ziele, die er glaubt, in Verbindung mit den antisemitischen wirksamer vertreten zu können. Daraus geht hervor, daß selbst für den erklärten Antisemiten die Bedeutung der Judenfrage allein nicht ausreicht, um den einzigen Inhalt seines politischen Kampfes zu bilden. Wir werden einige charakteristische Episoden des deutschen Antisemitismus kurz und schematisch daraufhin analysieren, welche Rolle in jeder die „echte“ Judenfrage spielt und in welchem Maße sich darin „unechte“, dem jüdischnichtjüdischen Gruppengegensatz fremde Elemente zeigen.

Der Antisemitismus der Gegen-Emanzipation 1815-1819 kämpft gegen die Juden als Staat im Staat.* Der Philosoph Jakob Fries74 erklärt, die Juden seien 1. eine eigene Nation, 2. eine politische Verbindung, 3. eine Religionspartei, 4. eine Makler- und Trödlerkaste. J. G. Fichte, von dem der Vorwurf ausgeht, daß die Juden einen Staat im Staate bilden, erhebt ihn zwar gegen mehrere andere Gemeinschaften, besonders das Militär, in gleicher Weise und rechtfertigt gleich- zeitig die Existenz solcher „Staaten im Staate“ vom naturrechtlichen Standpunkt aus75; aber es besteht doch kein Zweifel, daß der Bestand einer Gemeinschaft, die Züge eigener Staatlichkeit aufwies und sich daher in den Rahmen der größeren staatlichen Existenz nicht ohne weiteres einfügte, allgemein als eine Störung empfunden wurde. Eine weitere objektive gesellschaftliche Störung ging davon aus, daß die Masse der Juden damals noch im Kleinhändler- und Trödlerberuf beschäftigt war und als Träger einer fremden, teilweise minderwertigen Wirtschaftsmoral erschien.76 Beide Momente standen zu der vor den Befreiungskriegen gegebenen Gleichberechtigung scheinbar im Gegensatz und bildeten so die Grundlage der objektiven Judenfrage jener Zeit. Auch der enger gewordene Kontakt mit den meist noch sehr strikten Anhängern einer fremden Religionsgemeinschaft bedeutete zu jener Zeit noch eine erhebliche Schwierigkeit.*

Als Ausgangspunkt subjektiver Spannungen kam hinzu die allgemeine Enttäuschung nach den Kriegen, die zwar den Sieg, aber nicht die ersehnte Freiheit und Einheit gebracht hatten. Dazu trat in den Jahren 1816 und 1817 eine ausgesprochene Notzeit mit einer entsprechenden Preissteigerung und später eine allgemeine Wirtschaftsdepression, die Sombart77 als den „ersten großen Krach im 19. Jahrhundert“ bezeichnet.

Daß der Antisemitismus auch zu anderweitigen politischen Zwekken benutzt wird, ist in dieser Frühzeit der Emanzipation noch nicht so deutlich sichtbar. Antisemitische Wortführer gehören allen Richtungen an: Fichte ist liberaler Revolutionär, Paulus gleichfalls Liberaler, Fries ist Romantiker, allen gemeinsam ist lediglich der nationale Gedanke, der damals sowohl die Vertreter der Volkssouveränität als auch die Anhänger der romantischen Idee vom „Volkstum“ erfüllte. Mit diesem Gedanken ließ sich verständlicherweise der Antisemitismus einfach und vorteilhaft verbinden. Man bekämpfte im Zuge der Judenemanzipation zugleich ein Stück Franzosenherrschaft, weil die mindestens zeitliche Abhängigkeit jener von dieser, aber auch die Verwandtschaft des emanzipatorischen Gedankens mit den Ideen der Französischen Revolution außer Zweifel stand.

In den antisemitischen Streitschriften der Zeit finden sich Elemente jeder dieser drei verschiedenen Quellen. Es wurde versucht, sie in Ideologien verschiedener Färbungen zu vereinigen. Ausschlaggebend dabei sind überall jene Vorwürfe, die sich auf damals in der Tat bestehende Mißstände beziehen. Daß man die Behebung dieser Mißstände durch eine Entwicklung, die durch die Emanzipation eingeleitet wurde, nicht abwarten will, enthüllt zwar die Voreingenommenheit der antisemitischen Autoren; aber die Schärfe der Angriffe, die vielfach über das Ziel hinausschießen, ist in dem gleichen Maße Ausdruck mangelnder eigener Sachlichkeit, wie sie dazu dient, der subjektiven Aggressivität der Leser zu einer Entladung zu verhelfen. Trotzdem darf man sagen, daß in dem Antisemitismus des beginnenden 19. Jahrhunderts objektive Spannungen zwischen der jüdischen Gruppe und der Mehrheit eine maßgebliche Rolle spielen. Das kommt auch in den sporadischen antijüdischen Gewalttätigkeiten der sogenannten Hep-Hep-Hetze des Jahres 1819 zum Ausdruck. Ihr Auftreten in Franken, also in einer Gegend, in der der jüdische Landhandel eine große Rolle spielte, läßt darauf schließen, daß da neben allen möglichen „unechten“ auch manche „echte“ Ursachen der Gruppenspannung sich auswirkten.

Eine entscheidende Veränderung vollzieht sich, wenn man sechzig Jahre überspringt und die antisemitische Bewegung des Hofpredigers Stoecker in gleicher Weise untersucht. Was in den Jahren nach der Reichsgründung an „objektiver Judenfrage“ noch vorliegt, ist nicht mehr die Spannung zwischen einem „Staat im Staate“ und der größeren Gemeinschaft, sondern die ungleichmäßige Berufsverteilung der jüdischen Gruppe, von der weiter oben die Rede war. Aus der Vorherrschaft der Juden in Handel und Finanz, sowie aus der verwaltungsmäßigen Durchlöcherung der Vollemanzipation, vor allem aber aus ihrem Ausschluß aus der Beamtenschaft folgten ihre einseitige politische Zugehörigkeit zum Liberalismus und das Einströmen eines Teiles ihrer Intelligenz in die Presse. Diese Schichtung schafft zwar Spannungen objektiver Art; aber ihre Stärke ist mit denen der Frühzeit in keiner Weise zu vergleichen. Dagegen fehlt es nicht an Spannungen subjektiver Herkunft. Sie entwickeln sich aus den raschen Fortschritten der industriellen Wirtschaft, die den Mittelstand, insbesondere das Handwerk, schwer treffen. Diese latente Krise erreicht einen Höhepunkt, als im Jahre 1873 ein großer Bankkrach der „Gründer“-Konjunktur, die durch die französische Kriegsentschädigung hervorgerufen worden war, ein Ende macht. Es folgen Jahre schwerer wirtschaftlicher Depression.

Der Antisemitismus des Hofpredigers Stoecker spiegelt deutlich die objektiven Spannungsmomente und die in seinen Anhängern selbst liegenden subjektiven Unlustgefühle wider. Der Schwerpunkt seiner Propaganda gegen das Judentum liegt völlig auf den Vorwürfen, daß sie Finanz und Presse beherrschten. Seine Anhängerschaft, die er zunächst ohne ausreichenden Erfolg unter der Arbeiterschaft sucht, findet er zum weitaus größten Teil in den Reihen der Kleinbürger, so daß er sich schließlich schweren Herzens entschließen muß, den ursprünglichen Namen seiner Partei von „Christlich-Soziale Arbeiterpartei“ in „Christlich-Soziale Partei“ abzuändern. Als Argument für die Namensänderung wurde von ihren Befürwortern vorgebracht: „Die Zahl der Arbeiter in der Partei betrage höchstens 150–200 Köpfe.“78 Es sind also nicht die Arbeiter, die zwar auch unter dem Kapitalismus leiden, aber in seiner Entwicklung anderseits auch ihre Chance sehen, die ihm zulaufen; sondern das ausweglose Kleinbürgertum flüchtet vor der sachlichen Interpretation der wirtschaftlichen Entwicklung, die ihm ungünstig ist, in eine Scheininterpretation, die ihm Erfolg verspricht, indem sie ihm erlaubt, statt des abstrakten Kapitals den konkreten Juden anzugreifen.

Aber gerade in der Stoecker-Episode des deutschen Antisemitismus kommt auch mit besonderer Klarheit zum Ausdruck, daß der Antisemitismus häufig nur als Mittel zum Zweck benutzt wird. Stoecker war mit seiner neuen Partei zunächst ausschließlich zum Kampf gegen die Sozialdemokratie angetreten. Erst als er diesen Gegner infolge der Sozialistengesetze (1878) als unschädlich gemacht ansah und in seinen eigenen Versammlungen auf seiten seiner Zuhörer antisemitische Strömungen hervortraten, kam ihm der Gedanke, das Judentum als Gegner in seinen Kampf einzubeziehen.79 Der Antisemitismus erschien ihm jetzt als ein vorteilhafter Bundesgenosse in seinem in den Vordergrund rückenden Kampf gegen den politischen Liberalismus. In dieser und nur in dieser Eigenschaft erfreute sich auch der Antisemitismus dann von Zeit zu Zeit der vorsichtigen und indirekten Förderung durch die Regierung.

Der Antisemitismus selbst ist vielleicht hie und da das Motiv für die öffentliche Tätigkeit einzelgängerischer Heißsporne; wo jedoch die Judenfrage in die ernste Politik einbezogen wird, dient sie hauptsächlich als Tarnungsmittel. Auch damit wird ihre Bedeutung als ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem entwertet, zugleich aber wird bemerkenswert deutlich, daß ein Aufrollen der Judenfrage beim Bemühen, latente Unlustgefühle in zweckdienliche Kanäle zu leiten, nahezu immer Erfolg verspricht. Allerdings ist dieser Erfolg von der Summe der „echten“ und „unechten“ Motivationen abhängig, die in einer bestimmten Epoche vorliegen. Waren in der Gegen-Emanzipationszeit die „echten“ relativ stark, die „unechten“ nicht eben knapp, wogegen eine bewußte politische Ausnützung des Antisemitismus noch wenig ausgebildet war, so liegen in der Stoecker-Zeit weit weniger „echte“, dafür um so mehr „unechte“ Motive vor, die sich aus der latenten sowohl, als auch aus der akuten Krise ergeben; noch dazu wird der Antisemitismus zu anderweitigen politischen Zwecken sehr bewußt ausgenutzt.

 

Wie sah dieses Verhältnis in der Zeit des nationalsozialistischen Antisemitismus aus? Es wird im vierten Teil dieses Buches noch des Näheren darzulegen sein, daß im 20. Jahrhundert in Deutschland nur noch von Restbeständen einer „objektiven Judenfrage“ gesprochen werden konnte. Gewisse berufliche, wohnortsmäßige und politische Unausgeglichenheiten bestanden zwar noch fort, aber sie hätten in sich niemals den Anlaß für einen scharfen Massen-Antisemitismus gegeben. Selbst der Spannungsgehalt, der dem politischen Hervortreten einiger radikaler Juden in revolutionären Episoden und ihrem Auftreten in der hohen Beamtenschaft innewohnte, das durch ihre Vollemanzipation ermöglicht worden war, hätte nicht ausgereicht. Um so mehr Gewicht haben zu dieser Zeit die beiden anderen Faktoren, die wir zum Entstehen einer antisemitischen Volksbewegung als notwendig erkannt haben: die „unechten“, aus der deutschen Nachkriegs- und Weltwirtschaftskrise geborenen subjektiven Unlustgefühle und das bewußte Ausnutzen des Antisemitismus zum Erreichen anderweitiger politischer Zwecke: zum Sturz der Weimarer Republik und zur Übernahme der politischen Macht.

Wir kommen damit zu dem Ergebnis, daß im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die von der Judenfrage ausgehenden objektiven gesellschaftlichen Spannungen sich ständig vermindert haben; daß aber zur gleichen Zeit kollektive Unlustgefühle, die aus anderen Quellen herrührten, sowohl chronisch – durch die Komplikationen des industriellen Wirtschaftssystems – als auch akut – infolge von Konjunkturkrisen – zunahmen. Politischen Führern, die die Brauchbarkeit antisemitischer Methoden zum Erreichen anderweitiger politischer Zwecke erkannten, gelang es mit bemerkenswertem Erfolg, die subjektiven Unlustgefühle breiter Bevölkerungskreise in das sich zwar ständig verflachende, aber doch noch immer vorhandene Strombett des jüdisch-nichtjüdischen Gruppengegensatzes hineinzuleiten.

*Die Zahl der Juden in Deutschland betrug 1820 etwa 270 000 oder 1,9 % der Bevölkerung; sie war 1925 auf 564 379 oder um 0,90 % gestiegen. (Nach Jakob Lestschinski, Das wirtschaftliche Schicksal des deutschen Judentums, S. 50)

**Das schließt nicht aus, daß die Juden in Deutschland in großem Umfange auch das verwirklichten, was Julian Morgenstern (Assimilation, Isolation, or Reform? Contemporary Jewish Record) „active assimilation“, „the process … of assimilating without being assimilated” nennt. Es handelt sich hier nur um eine andere Ausdrucksweise, nicht um einen Widerspruch der Auffassung. Indem die Juden sich (sibi) die Art der Umwelt assimilieren, assimilieren sie sich (se) gleichzeitig an die Umwelt. Die Gründung der Wissenschaft des Judentums zum Beispiel durch Leopold Zunz ist ein solcher Akt aktiver und passiver Assimilation zugleich; indem man die wissenschaftlichen Methoden der Umwelt in den Dienst jüdischer Forschung stellte, interpretierte man doch auch den geistigen Gehalt des Judentums und machte ihn für die Umwelt verständlich und damit akzeptabel.

*A. J. Toynbee, A Study in History, bezeichnet den Zusammenhang zwischen Diskriminierung und Intensität der jüdischen Substanz als soziales Gesetz. Bd. II, S. 248: „So finden wir bei den Juden eine Stufenleiter von Typen – aschkenasische Juden, sephardische Juden, Doenme, heimliche Juden und jüdische Katholiken –, bei denen die Dichte der jüdischen Substanz gradweise von einem Maximum bis nahezu zum Nullpunkt abgestuft ist; und wir bemerken, daß die Unterschiede in der Dichte der jüdischen Substanz den Unterschieden in der Heftigkeit der Bedrückung entsprechen, denen die Juden seitens der nichtjüdischen Umwelt ausgesetzt waren. Die sich von der Umwelt unterscheidende Substanz der unterdrückten religiösen Gruppe verliert sich mehr und mehr in dem Grade, in dem die Unterdrückung nachläßt; und dieses soziale Gesetz gilt nicht nur für die Juden. Seine Geltung kann auch für andere unterdrückte Sekten nachgewiesen werden.“ Toynbee vernachlässigt die anderen Faktoren, von denen die Intensität der jüdischen Substanz abhängt, vor allem die Länge der zurückliegenden Assimilationszeit, eventuelle Zuwanderung von jüdischen Gruppen intensiver Substanz und so weiter.

*Wir können uns mit der Frage der rassischen Homogenität der Juden nicht näher beschäftigen, doch sei folgendes über den Zusammenhang zwischen Rasse und Gruppe gesagt: Der rassische Faktor, der nicht einfach abgestreift, sondern höchstens durch Mischheirat verdünnt werden kann, genügt für sich allein nicht, um die Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gruppe zu begründen. Es gibt rassische „Volljuden“, die alle Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft gelöst haben, und Personen ohne einen Tropfen jüdischen Blutes, die zu ihr gehören. Die Betonung des Rassenkriteriums seitens der Antisemiten entspricht deren Wunsch, einen unveränderlichen Faktor zur Grundlage der jüdischen Gruppenexistenz zu machen.

*Daß der objektive Gruppencharakter stärker war als das schwindende subjektive Gruppenbewußtsein, geht aus der Anomalie der jüdischen Berufsgliederung hervor. Die Juden in Italien stellten zwar charakteristischerweise einen etwas geringeren Prozentsatz zu den Berufen des Handels und Verkehrs als in Deutschland; von je 100 berufstätigen Juden 41,5 % im Jahre 1910 gegenüber 69,4 % in Bayern im Jahre 1907 und 49,7 % in Deutschland im Jahre 1907, s. Ruppin, Soziologie, Bd. 1, S. 348; immerhin aber waren noch sechsmal mehr Juden in Handel und Verkehr beschäftigt als ihrem Bevölkerungsanteil entsprach, nämlich 0,6 % gegenüber ihrem Bevölkerungsanteil von 0,1 % (Ruppin, a. a. O. Bd. 1, S. 357). Was aber die Anomalie noch verstärkte, war die Tatsache, daß der Überschuß der früher in Handelsberufen Tätigen offenbar in die freien Berufe und Beamtenstellungen abströmte, in denen nicht weniger als 23 % aller erwerbstätigen Juden beschäftigt waren (Ruppin, a. a. O., Bd. 1, S. 350).

*Vgl. Bernstein, a. a. O., S. 219: „Die zwischen den Gruppen herrschende Spannung und die zur Äußerung gelangende Feindschaft ist keineswegs das Produkt von Eigenschaften oder Handlungen der Gegengruppe.“ Zweig, a. a. O., S. 30: „Das Wesen des Juden ist für das Zustandekommen des Antisemitismus ganz außer acht zu lassen.“

*W. Trotter, a. a. O., S. 32: „Alles, was dazu neigt, die Unterschiede von der Herde zu betonen, wird als unangenehm empfunden. Das Individuum hat eine nicht zu erklärende Abneigung gegen jede Neuerung im Tun und Denken.“

*Welche Bedeutung Simmel dieser Unterscheidung beimißt, geht aus der folgenden Fußnote zu S. 263 seiner „Soziologie“ hervor: „Alle Verhältnisse eines Menschen zu anderen sind in ihrem tiefsten Grund nach dieser Frage geschieden – wenn auch in unzähligen Übergängen zwischen ihrem Ja und Nein –: ob ihre seelische Grundlage ein Trieb des Subjektes ist, der sich, als Trieb, auch ohne jede äußere Anregung entwickelt und erst seinerseits einen ihm adäquaten Gegenstand sucht, sei es, daß es ihn als adäquaten vorfindet, sei es, daß es ihn durch Phantasie und Bedürfnis bis zur Adäquatheit umgestaltet; oder ob die seelische Grundlage in der Reaktion besteht, die das Sein und Tun einer Persönlichkeit in uns hervorruft; natürlich müssen auch zu ihr die Möglichkeiten in uns vorhanden sein, aber sie wären an sich latent geblieben und hätten sich nie von selbst zu Trieben gestaltet. In diesen Gegensatz stellen sich intellektuelle wie ästhetische, sympathische wie antipathische Verhältnisse zu Menschen ein und ziehen häufig nur aus diesem Fundamente ihre Entwicklungsformel, ihre Intensität und ihre Peripetie.“