Die Flucht in den Hass

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Wer aber einmal in der Stadt lebt, geht nicht wieder aufs Land „zurück“. Eine Rückwanderung würde nämlich der Weg von der Stadt aufs Land in dem Sinne bedeuten, als im Zeitalter des Industrialismus, in das die Zeit der jüdischen Freizügigkeit fällt, eine spontane Massenwanderung nur vom Lande nach der Stadt vorkommt. Die städtische Bevölkerung reproduziert sich nicht und ist auf ständigen Nachzug aus den ländlichen Wohngebieten angewiesen, der ihr nur zu willig zuteil wird. Die Landflucht stellt in fast allen industrialisierten Ländern ein ernstes Problem dar; Stadtflucht aber, wo je sie auftritt, endet als typische Erscheinung im äußersten Falle bereits in den sich mehr und mehr ausweitenden Vorstädten. Es würde gewaltsamer sozialpolitischer Eingriffe bedürfen, um diese natürliche Bewegungsrichtung umzukehren.

Mangels jeglicher Gegenwirkung blieben die Juden Städter und wurden in zunehmendem Maße Großstädter, weil fast alle erwähnten Momente für die Großstädte in noch höherem Maße gelten als für die Klein- und Mittelstädte51. Zwar nahm mit jeder Generation ihre Fremdheit, ja sogar ihre Andersartigkeit ab und damit ihr Bedürfnis, unterzutauchen. Sie strebten kaum noch nach eigenen Wohnbezirken, sondern im Gegenteil nach einer unterschiedslosen Verteilung über die ganze Stadt.* Das in den ersten Stadien auftretende Bedürfnis nach Freiheit von jeglicher Kontrolle seitens der Gemeinschaft machte einem verstärkten inneren Gleichgewicht Platz. Doch wirkten die Tendenzen der Frühzeit noch lange nach und wurden zeitweise durch den Antisemitismus noch verstärkt. Auch die verbreiterte Berufsbasis umfaßte ausschließlich städtische Berufe. Der traditionelle Erwerbssinn, dem die immer wiederkehrende „Herausforderung“ den „Antrieb“ nicht vorenthielt, suchte die besseren Chancen an den größeren Wirtschafts- Zentren, und schließlich haben auch gewisse, aus Stadtleben und Bildungsniveau herrührende kulturell-ästhetische Bedürfnisse der Juden dazu beigetragen, ihnen die Großstädte immer anziehender erscheinen zu lassen.*

Nun hat aber auch die unersetzbare wirtschaftliche Funktion der Stadt nach dem Zerfall des Feudalismus sie nicht davor bewahren können, zum Angriffsobjekt aller Sozialmoralisten zu werden. Sosehr man gezwungen sein mag, alle ihre Vorteile und Segnungen problematisch zu sehen, und sosehr sich der verantwortliche Sozialpolitiker zu bemühen hat, ihren unleugbaren gesundheitlichen, moralischen und bevölkerungspolitischen Gefahren zu begegnen, so bedeutet es doch eine gefährliche Abkehr von der Wirklichkeit, wenn die städtische Lebensform zugunsten der ländlichen allgemeiner Verurteilung verfällt. Genau diese Fehlauffassung aber charakterisiert fast durchweg die öffentliche Meinung über die relativen Vorzüge von Stadt und Land. In einem gesunden Volk, wie es die Engländer sind, führt diese Auffassung zu gesunden Reaktionen wie dem Countryhouse der besitzenden und der Gartenkultur der mittleren und kleinbürgerlichen Schichten. Im außergewöhnlich rasch industrialisierten Deutschland aber, das sich mit den Folgen der Industrialisierung nie ganz abfinden konnte, ist die Sehnsucht nach der verlorenen Naturnähe zu einem der bestimmenden Züge eines so weitverbreiteten, urdeutschen Lebensgefühls wie der Romantik geworden. Man muß nicht gleich von den „schmutzigen Menschenfluten der Weltstädte“, von dem „glühenden, unfruchtbaren Asphalt einer bestialisierten Unmenschheit52“ lesen und begegnet doch der Verurteilung der Stadt und der Sehnsucht nach dem Lande in populären sozialpolitischen Schriften, in Literatur und öffentlicher Meinung immer wieder. Auch eine so charakteristisch deutsche Erscheinung wie die Jugendbewegung vor und nach dem ersten Weltkrieg war von diesen Gefühlen getragen. Aber schließlich war es eine allen industrialisierten Ländern gemeinsame Erscheinung, daß man das Landleben mit allen Attributen paradiesischer Reinheit ausstattete und in der Stadt zwar lebte, aber in ihr das Prinzip des Bösen schlechthin sah. Und wiederum finden wir die Juden ausschließlich in jenem Lebensbezirk, dem der negative Wertakzent anhaftet.

Die Verstädterung der Juden war einer der wesentlichen Gründe, die ihrer wirtschaftlichen und wohnortsmäßigen Normalisierung entgegenwirkten. Innerhalb der Städte bestand kein zwingender Anlaß, der sie in ihrer traditionellen Bevorzugung der händlerischen Berufe hätte irremachen können. Zunehmend gewann der Handel an Bedeutung und eröffnete beträchtliche Aufstiegschancen. Dank ihrer Erfahrungen und des Fehlens aller vor- und antikapitalistischen Vorurteile machten die Juden davon ausgiebigen Gebrauch. Die Aufstiegslinien vom Trödel – und Hausierhandel sowie vom kleinen Konsumkredit waren klar vorgezeichnet. Sie führten zum Ladengeschäft, zum Kauf- und Warenhaus, zum Großhandel, zur Bank, zur Börse und zu den vielen Vermittlungstätigkeiten jeder Stufe, wie sie etwa der Warenvertreter, der Grundstücksmakler, der Versicherungsagent repräsentieren. Es gibt innerhalb der Handelssphäre wohl keinen Beruf, den die Juden nicht ergriffen hätten.

Anders war es in der Industrie, die ebenfalls einen Teil der wirtschaftlich auf steigenden Juden auf nahm. Hier fand die jüdische Infiltration im wesentlichen in dreifacher Form statt, aber nur eine dieser Formen war einer Normalisierung günstig.

Zunächst entwickelten die Juden die von ihnen schon vor der Industrialisierung betriebenen Handwerke53. Dies führte zu einer starken Bevorzugung der Bekleidungsindustrie im weitesten Sinne, zu der die Juden vom Schneiderhandwerk her, das sie in großem Umfange betrieben, Zugang fanden.* Ruppin54, der in der Definition sogenannter „jüdischer Industrien“ sehr genau ist, weil es ihm nicht wie uns hier auf eine überproportionale jüdische Beteiligung, sondern darauf ankommt, daß „die ganze Industrie vom Besitzer bis zum Arbeiter ausschließlich oder vorzugsweise mit Juden besetzt ist“, – Ruppin läßt als „jüdische Industrien“ nur drei gelten, von denen zwei territoriale Unterabteilungen der Bekleidungsindustrie darstellen: die Textilindustrie in Polen und die Herstellung fertiger Kleidung und Wäsche in Paris, London und den Vereinigten Staaten55. Für unsere Zwecke ist die Feststellung statthaft, daß die Textil- und Bekleidungsindustrien mit allen ihren Abarten bis zur Lederverarbeitung, Kürschnerei, Mützenmacherei, Knopfmacherei in sämtlichen sich vorwiegend aus aschkenasischen Juden rekrutierenden Judenheiten einen außerordentlichen Prozentsatz der in der Industrie tätigen Juden aufnehmen. Als dritte „jüdische Industrie“ erwähnt Ruppin die Diamantenschleiferei in Amsterdam und Antwerpen, für welche die Juden durch ihre frühere Tätigkeit im Glaserhandwerk sowie durch ihren im Mittelalter betriebenen Handel mit Edelsteinen prädestiniert gewesen seien. Eine gewisse Neigung und Eignung für diesen Industriezweig mag daneben auch in der traditionellen Betätigung von Juden im Bearbeiten edler Metalle begründet liegen56. Der jüdische Anteil an den genannten Industrien bezieht sich auf Unternehmer, Angestellte und Arbeiter, mit der Maßgabe, daß in Mittel- und Westeuropa der prozentuale Anteil der Unternehmer und Angestellten, in Osteuropa jener der Arbeiter überwog57. In den Industrien, die sich aus solchen Handwerken entwickelt haben, in denen Juden nicht vertreten waren, wie Eisengießereien und Maschinenfabriken, sind Juden nur selten zu finden58. Deshalb bleibt auch im Aufstieg die ursprüngliche Schichtung weitgehend erhalten.

Der zweite Weg in die Industrie leitete sich vom Handel und Geldgeschäft ab und bediente sich des dort erworbenen Kapitals zum Zwekke der Gründung oder des Erwerbs von Unternehmungen. Hier gab es keine Beschränkung auf bestimmte Industriezweige59, so daß kaum einer existiert, in dem Juden nicht vertreten sind. Entsprechend der besonderen Art der Einflußnahme bekleideten die so in die Industrie gelangten Juden vorwiegend leitende Stellungen. Es handelt sich hier um den schon weiter oben erwähnten Weg, der eine Normalisierung begünstigte.

Schließlich gibt es noch einen dritten Weg in die Industrie, den Juden in größerer Zahl beschritten haben. Er folgt weder der normalen Fortentwicklung des Handwerks, noch der Suche des Kapitals nach rentabler Anlage in schon bestehenden Werken. Es handelt sich da vielmehr darum, ganz neue Industrien zu erschließen, in denen eine nichtjüdische Konkurrenz nicht im Wege steht60. In der Suche der Spätkommenden nach Erwerbszweigen, die nicht schon von den früher Dagewesenen besetzt sind, offenbart sich ganz besonders stark die dem Gruppencharakter innewohnende Tendenz, sich ohne eine bewußte Abschließung aus sich selbst heraus zu erhalten. Sombart schildert den Prozeß folgendermaßen61: „Hier sind sie die Begründer der Tabakindustrie (in Mecklenburg, Österreich); dort der Schnapsbrennerei (in Polen, in Böhmen). Hier finden wir sie als Lederfabrikanten (in Frankreich, in Österreich); dort als Seidenfabrikanten (in Preußen, in Italien, in Österreich). Hier machen sie Strümpfe (Hamburg), dort Spiegelglas (Fürth); hier Stärke (Frankreich), dort Baumwollzeug (Mähren).“ Wohl hörte die jüdische Exklusivität in einem Industriezweig meistens auf, wenn die Erschließung erfolgreich vonstatten gegangen war, so daß die Gruppenstruktur nur vorübergehenden Charakter besaß. Aber in einigen Zweigen blieb ihre überwiegende Beteiligung doch bestehen. So illustriert etwa die Filmindustrie, besonders in Amerika, die noch äußerst rege Pioniertätigkeit der Juden in der Industrie auf prägnante Art.

Zum Schluß bleibt noch eine typisch jüdische Aufstiegstendenz zu betrachten: der Aufstieg in die freien Berufe. Die Gründe, aus denen die freien Berufe ganz besonders in Westeuropa, aber in geringerem Grade auch im europäischen Osten sich einer besonderen Bevorzugung seitens sozial aufsteigender Juden erfreuten, brauchen nicht lange gesucht zu werden. Die traditionelle geistige Kultur der Juden fand in dieser Berufswahl ihren europäisierten Ausdruck. Die Universität spielte die Rolle einer säkularisierten Jeschiwa (Talmud-Hochschule). Die Beamten- und die Hochschullaufbahn aber blieb den Juden lange Zeit verschlossen. So wurde der freie Beruf zum gegebenen Betätigungsfeld des jüdischen Akademikers. Er wählte auch innerhalb der freien Berufe wieder besondere Sparten, vorwiegend die Berufe des Arztes und des Rechtsanwalts, in denen er nur von der eigenen Leistung und dem Vertrauen eines nicht organisierten Publikums abhängig war. In den technischen akademischen Berufen dagegen, in denen eine spätere Betätigung mehr von den Möglichkeiten einer Anstellung in der Großindustrie abhängig blieb, waren Juden spärlicher vertreten. Hier mag allerdings auch die jüdische Neigung eine Rolle gespielt haben, die stärker auf Personen als auf Maschinen gerichtet ist62.

 

Wir haben so für die ökonomische Struktur der jüdischen Bevölkerung zweierlei festgestellt: einmal die Tendenz, auch bei grundsätzlicher wirtschaftlicher Freiheit einen wirtschaftlichen Gruppencharakter beizubehalten, und zum andern eine Tendenz, sich in Sphären zu konzentrieren, die bei der öffentlichen Meinung verhältnismäßig wenig beliebt sind. Beide Entwicklungsrichtungen machten die jüdische Gruppe zu einem besonders geeigneten Angriffsobjekt.

Es dürfte kaum notwendig sein, darauf hinzuweisen, daß diese wirtschaftlichen Ausführungen keinerlei Vollständigkeit oder Genauigkeit für sich beanspruchen wollen. Das liegt nicht in ihrer Absicht. Es handelte sich vielmehr darum, unter außerordentlichen, teilweise gewaltsamen Fortlassungen und Vereinfachungen einige typische Tatbestände der jüdischen Existenz in ihrer Bedeutung für die Entstehung des neuzeitlichen Antisemitismus darzustellen. Demgegenüber besagt es nichts, daß einige dieser Erscheinungen nicht auf alle Landesjudenheiten zutreffen, daß, um nur ein Beispiel zu nennen, von einem übermäßigen Anteil der englischen Juden an den freien Berufen nicht gesprochen werden kann. Dieses in England ausfallende Gruppenmerkmal wird dort durch eine besonders einseitige Verstädterung und ein relativ noch früheres Assimilationsstadium der aschkenasischen Juden ausgeglichen, wie es der noch kurzen Emanzipationszeit – etwa seit der Jahrhundertwende – entspricht.

5. Widersprüche in der Erscheinung des modernen Juden

Damit haben wir aber unsere Übersicht über jene Eigenschaften der jüdischen Gruppe, die den Antisemitismus begünstigen, noch nicht beendet. Wir müssen, wenn wir versuchen, aus dem bisher Gesagten ein Ergebnis abzuleiten, noch auf einen Umstand hinweisen, der alle zuvor erwähnten Faktoren in sich faßt und zugleich in einem besonderen Licht erscheinen läßt.

Der durchschnittliche Jude ist so sehr an das eigentümliche Bild gewöhnt, das seine Gruppe ihm bietet, daß er geneigt ist, ihre verschiedenartigen Züge so zu betrachten, als ob sie alle miteinander zusammenhingen oder sich folgerichtig auseinander ergäben. Er besitzt ein mehr oder minder begrenztes Wissen von der jüdischen Geschichte und von der jüdischen Religion, als deren Folge er die Diaspora ansieht; und sofern er überhaupt eine gewisse Fragwürdigkeit empfindet, werden Gewohnheit und eben dieses Wissen eine ausreichende Antwort alsbald bereithalten. Beim Nichtjuden, der das Phänomen des Judentums von außen sieht, ist das anders. Ihm begegnet dieses Phänomen zu irgendeiner Zeit seines bewußten Lebens, vornehmlich während der Schulzeit, wenn das jüdische Kind der engen Lebensgemeinschaft seiner Klasse äußerlich angehört und doch als „jüdisches“ Kind durch eine Reihe unterschiedlicher Züge von ihr getrennt bleibt. Diese Züge können sehr verschiedenartig sein: Sie können in anderem Religionsunterricht, anderen Feiertagen, unter Umständen auch im Schreibverbot am Sabbath und dergleichen mehr bestehen. Sie können je nach ihrem Umfang und der Sensibilität des Mitschülers, der darüber nachzudenken anfängt, eine undurchdringliche Mauer aufrichten oder nur noch wie ein durchsichtiger Schleier erscheinen. Ganz fehlen werden sie niemals, wo immer das jüdische Kind noch in diesem oder jenem Sinne Mitglied seiner Gruppe ist und während seiner Freizeit in deren Bereich zurückkehrt. Der Widerspruch zwischen Nähe und Entferntheit, der in diesem Verhältnis obwaltet, wiederholt sich noch auf vielen anderen Gebieten. Auf jedem einzelnen und auf allen zusammen bleibt ein Rest von Unerklärlichem, von Geheimnisvollem, von Unheimlichem. In einer Antwort an Erich Kahler63 weist Carl Mayer64 mit Recht darauf hin, daß dem modernen Bewußtsein die Erscheinung des Juden völlig unverständlich geworden sei und daß in diesem Nichtverstehen eine der Hauptursachen, wenn nicht die Hauptursache der neuzeitlichen Abneigung gegen die Juden zu sehen sei. Es ist für die jüdische Situation und alle ihre Begleiterscheinungen in der Tat charakteristisch, daß der Außenstehende sie zunehmend schwerer verstehen kann, je mehr Einzelheiten davon ihm bekannt werden.

Wie für das nichtjüdische Schulkind sein jüdischer Klassengenosse ihm gleich und doch ungleich ist, so geht es dem nichtjüdischen Erwachsenen mit seinem jüdischen Mitbürger. Allerdings ist der Widerspruch zwischen gleicher Staatsbürgerschaft und ungleicher nationaler, Volks- oder „Rassen“-Zugehörigkeit in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich, daß wir der Einfachheit halber die frühere Situation in Deutschland zugrundelegen möchten, die unserer Betrachtung am nächsten liegt. Sie ist auch in ihrer Problematik charakteristisch für weitgehend assimilierte jüdische Gemeinschaften in anderen Ländern und schließlich doch nur graduell verschieden von der Situation, die selbst in Osteuropa bestand: dort wurde zwar die Zugehörigkeit von Juden zu einer anderen Kultur- und Sprachgemeinschaft als alltäglich und darum vielleicht „natürlich“ empfunden, aber die Existenz anderer assimilierter Juden und eine immer bestehende, wenn auch noch so stark modifizierte Forderung nach nationaler Homogenität ließen die Fremdartigkeit trotzdem zum Problem werden.65

Um zu Deutschland zurückzukehren: hier war der Jude durch einen mehr als hundertjährigen Assimilationsprozeß dem Nichtjuden sehr ähnlich geworden.* Entgegen dem auch hier vorhandenen Typenunterschied hatte das jüdische Individuum im Durchschnitt viele Züge mit dem nichtjüdischen Individuum seiner Berufs- und Bildungsschicht gemein. Die überwältigende Majorität der deutschen Juden kannte keine andere nationale Zugehörigkeit als die deutsche. Das Gefühl der Solidarität mit den Juden anderer Länder und eine in ihrer Intensität stark abgestufte Anhänglichkeit an Palästina änderten daran nicht das geringste. Trotzdem wurde von Antisemiten ein künstlicher Gegensatz zwischen diesen Gefühlen konstruiert. Man warf den Juden vor, daß ihre bloße Zugehörigkeit zur internationalen jüdischen Gemeinschaft mit wahrhaft „nationalen“ Gefühlen gegenüber Deutschland nicht vereinbar wäre. Um das zu beweisen, begann man den Begriff „national“ so auszulegen, daß er schließlich auf die Juden wirklich nicht zutraf. Man verengte künstlich den Begriff „Volkstum“, machte das Wort „völkisch“ identisch mit „antisemitisch“, zog die Rasse zur Definition der Nation heran und nahm schließlich seine Zuflucht zu dem mißglückten Begriff „arisch“, – nur um in jedem Falle zu solchen Merkmalen der nationalen Zusammengehörigkeit zu gelangen, die auf die Juden nicht zutrafen. Kein Wunder, daß diese Merkmale sich immer mehr ins Unbestimmte und Mystische verloren, denn die Wirklichkeit widersprach einem Ausschluß der deutschen Juden aus dem deutschen Volk durchaus. Trotzdem hat dieser Streit viel dazu beigetragen, die nationale, ja sogar die staatliche Loyalität des Juden selbst in Deutschland als fragwürdig erscheinen zu lassen.

Wo der Jude weniger assimiliert ist als in Deutschland, liegt die Fragwürdigkeit mehr an der Oberfläche. Der Jude ist Neuankömmling oder der Nachkomme von Neuankömmlingen, er spricht oft die Landessprache gar nicht, schlecht oder mit Akzent, er hat ein anderes Aussehen, andere Sitten und Gewohnheiten als die Mehrzahl der Landesbewohner und zählt sich doch zu ihnen. Er ist Staatsbürger, Stadtbürger, erhebt die ihm daraus zustehenden Ansprüche, entwickelt auch nach und nach seine eigene Abart des landesüblichen Patriotismus. Aber das sind nicht die einzigen Rätsel, die die jüdische Existenz dem nichtjüdischen Betrachter aufgibt. Fast alle der früher erwähnten Tatsachen, die die jüdische Gruppe als besonders exponiert erscheinen lassen, enthalten auch scheinbare Paradoxien: Der Jude war in der mittelalterlichen Ständeordnung, deren Klassifizierung noch im Unterbewußtsein fortwirkt, der Niedrigste; aber er ist aufgestiegen und hat manche sichtbare Machtposition inne. Der Jude ist überall; aber er ist nirgends zu Haus, – so jedenfalls will es die ihm feindliche Propaganda, die ja ganz allgemein die Voraussetzung für das Bewußtwerden der erwähnten Widersprüche bildet. Der Jude glaubt an den gleichen Gott wie der Christ, aber er ist doch gerade auf diesem religiösen Gebiet durch Abgründe vom Christen geschieden. Christus war ein Jude, lebte und lehrte unter Juden; aber Juden haben ihn gekreuzigt. Jude sein heißt vornehmlich einer anderen religiösen Überzeugung anhängen; aber es gibt viele Juden, die gerade dadurch auffallen, daß sie keine wie immer geartete religiöse Überzeugung hegen, sondern die Reihen der Aufklärer, der Atheisten füllen. Die Juden werden als zweitrangig angesehen, man läßt sie zu intimen Freundeskreisen nicht zu; aber sie selbst halten sich für das von Gott erwählte Volk. Sie streben gegen Widerstände nach gesellschaftlicher Anerkennung durch die Nichtjuden; aber sie halten sich gleichzeitig zurück und beharren in selbstgewählter Abgeschlossenheit. Die Juden sind reich und hängen am Gelde; aber sie stellen sozialistische Führer, deren Programm es ist, den Kapitalismus zu stürzen. Die Juden sind radikal, sie sind prominent in allen fortschrittlichen Bewegungen; aber sie selbst halten im jüdischen Bereich an vielen offensichtlich längst überholten Tabus fest und bewahren merkwürdige jahrtausendealte Sitten.

Alle diese Widersprüche bestehen. Aber sie bestehen nur für die Juden als Gemeinschaft, kaum je für das jüdische Individuum. Die Widersprüche erklären sich dadurch, daß die emanzipierten Juden nur noch in einem sehr beschränkten Sinne eine Gemeinschaft bilden, daß sich an ihnen ein Auflösungsprozeß vollzieht, der zu höchst verschiedenartigen Ergebnissen führt. In Wirklichkeit gehen alle Widersprüche auf den einen zurück, daß die jüdische Gruppe sich lockert und wandelt, daß sie aber von außen immer noch als eine einheitliche Gemeinschaft angesehen wird. Diese irrtümliche Annahme kommt vom Verlangen der Menschen her, in der verwirrenden Fülle der sie umgebenden Tatsachen durch das Einführen verallgemeinernder Kategorien auch dort Ordnung zu schaffen, wo eine Ordnung in Wirklichkeit nicht besteht. Derartigen unzulässigen Verallgemeinerungen sind die Juden nicht nur insofern ausgesetzt, als Fehler Einzelner der Allgemeinheit zur Last gelegt werden, sondern auch noch auf die Art, daß offenbare Gegensätze als solche zwar zur Kenntnis genommen werden, aber aus ihnen nicht der natürliche Schluß gezogen wird, daß der Gruppencharakter nur noch in einzelnen, sich vermindernden Sphären vorhanden ist. Im Gegenteil, aus den offen zutage tretenden Gegensätzen wird geradezu geschlossen, daß unter der Oberfläche noch eine geheime Gruppeneinheit fortbestehe, und daß von einer einheitlichen Leitung her ein Spiel mit verteilten Rollen zu umstürzlerischen Zwecken veranstaltet werde.

Aus einer solchen irrigen Denkgewohnheit des Verallgemeinerns, die von der Propaganda noch zweckvoll unterstützt wird, wächst ein dauerndes Nichtverstehen der jüdischen Handlungsweise; aus diesem Nichtverstehen erwächst ein Unbehagen, und aus dem Unbehagen gegenüber einem Geheimnisvoll-Unverständlichen folgt schließlich die Bereitwilligkeit, auch eine noch so unwahrscheinliche „Erklärung“ als wahr zu unterstellen. Wir werden diesem Unbehagen als Vorbereitung zur Übernahme aller möglichen Irrlehren noch häufig begegnen.

Die zunehmende Unauffälligkeit der Juden hat im allgemeinen die Bereitwilligkeit der Nichtjuden, sie als ihresgleichen anzusehen, entscheidend gefördert. An dieser Feststellung wird nichts geändert, wenn darauf hingewiesen werden muß, daß gerade die offenbare Ähnlichkeit des jüdischen Nachbarn, die in ruhigen Zeiten die genannten Widersprüche nicht ins Bewußtsein treten läßt, unter bestimmten Voraussetzungen zu einem Problem werden konnte. Diese Voraussetzung freilich muß gewissermaßen von außen in das jüdisch-nichtjüdische Verhältnis hineingetragen werden, denn nur so kann die fortgeschrittene nachbarliche Normalität künstlich zu einer scheinbaren Anomalie werden. Wenn das aber wirksam geschieht, wenn eine aus anderen Quellen sich nährende systematische Judenhetze sich aufnahmewilliger, labiler Gemüter bemächtigt, dann kann die bis dahin obwaltende menschliche Nähe zum jüdischen Nachbarn dem neu erweckten Mißtrauen gegen ihn noch eine besondere Note hinzufügen.

 

In einer Studie erklärt Freud die Entstehung eines Gefühls des „Unheimlichen“66 so: Es gebe gewisse übernatürliche Dinge wie Allmacht von Gedanken, eine geheime Macht, Böses zu tun, Wiederkehr von Toten und so weiter, woran früher einmal wir selbst oder unsere primitiven Ahnen geglaubt haben. Später haben wir denn diesen Glauben aufgrund überlegener Einsichten als Aberglauben abgetan. Aber ganz sicher haben wir uns imgrunde bei unserer neuen Überzeugung nie gefühlt; und sobald etwas geschieht, was unsern alten Glauben zu bestätigen scheint, empfinden wir das als „unheimlich“. Um eine ähnliche Erscheinung handelt es sich auch in unserem Falle; und genau an dieser Stelle dürften die Ergebnisse einer anderen Untersuchung67 ihre adäquate Einordnung finden. In diesem Buch wird reichhaltiges Material beigebracht über den im Mittelalter weit verbreiteten Glauben, daß der Jude der eingefleischte Teufel sei. Im Zuge der Aufklärung und dem alltäglichen Augenschein der Gegenwart ist diese Meinung weithin verschwunden, aber ähnlich, wenn auch nicht im gleichen Grade68 wie beim psychischen Mechanismus der Verdrängung, haben solche überwundene Stadien die Tendenz, wieder zum Vorschein zu kommen. Werden sie nun, wie es durch intensive judenfeindliche Propaganda geschehen ist, künstlich wieder zum Leben erweckt, so entsteht das Gefühl des Unheimlichen, ganz wie wenn eine Zigeunerin ein Kind durch den „bösen Blick“ „krankmacht“ oder etwa eine vermeintliche Begegnung mit einem Toten stattfindet. Der „überwundene“, ins Unterbewußtsein verdrängte Aberglauben scheint sich zu bestätigen; und gerade weil wir doch so genau wußten, daß es ein Aberglauben ist, weil der jüdische Nachbar Cohn genauso spricht, sich kleidet und sich benimmt wie wir, gerade deshalb besitzt diese plötzliche Bestätigung alle Züge des Unheimlichen. Wir können nicht umhin, vor der List, vor der Verstellungskunst des Teufels zu erschauern, wenn wir erfahren, daß der harmlose Nachbar Cohn eben doch ein unheimliches Wesen ist. Für diesen Effekt spielt es keine Rolle, ob sich eine Teufelsnatur in Raffgier oder in der Teilnahme an politischen Umsturzplänen, Welteroberungswünschen und ähnlichen zerstörerischen Machenschaften offenbart. Allerdings wird der gesamte Ablauf einer solchen Reaktion nur in Ausnahmefällen eintreten. Nur wo das seelische Gleichgewicht schwer gestört ist, wird sich tatsächlich der harmlose Nachbar in einen leibhaftigen Teufel verwandeln. Wir halten daran fest, daß die Gewohnheit des täglichen Augenscheins sich viel häufiger dahin auswirkt, daß die antisemitischen Märchen nicht geglaubt werden. Immerhin ist die menschliche Psyche zu kompliziert, als daß nicht zwischen radikaler Abwehr gegen die Teufelslegende und ihrer Annahme zahlreiche Übergangsstadien möglich wären. Sie werden besonders dann eintreten, wenn in Massenversammlungen und sogenannten Schulungskursen das seelische Gleichgewicht unmittelbar angegriffen worden ist. In solchen Fällen kann ein plötzliches Irrewerden an dem bisher für wahr gehaltenen Bild des Juden leicht dazu führen, daß einige Etappen des Weges, den Freud beschreibt, zurückgelegt werden, sei es nun, daß sie nur bis zu einem leichten Mißverständnis oder zu einem konkreten Aberglauben reichen.*