Die Flucht in den Hass

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3. Die subjektive oder „unechte“ Judenfrage

Die Judenfrage, wie sie sich uns empirisch darstellt, reicht allerdings weit über den Kern dieser objektiven Judenfrage hinaus. Bei aller ihrer schon erwähnten Einseitigkeit ist die Auffassung, der Antisemitismus erkläre sich aus den subjektiven Eigenschaften des Antisemiten, ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der früher herrschenden Gewohnheit, die für den Antisemitismus geltend gemachten Begründungen mehr oder minder mit seinen wahren Ursachen zu identifizieren. Man hatte sich aufgrund dieser Gewohnheit vorher bemüht, zu beweisen, daß die vorgebrachten Gründe in den Tatsachen keine oder nur eine ungenügende Stütze fänden, und meinte damit dem Antisemitismus wirksam begegnet zu sein. Nun ist zwar die Zurückweisung und Widerlegung falscher Behauptungen in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ganz gewiß nicht entbehrlich, aber diese Art der Apologetik allein genügt keineswegs. Die neue psychosoziologische Erklärung des Antisemitismus25 versuchte nun zu beweisen, daß das Wesen und Verhalten der Juden mit dem Antisemitismus überhaupt nichts zu tun hätte, und daß es darum nicht nur gleichgültig sei, was die Antisemiten darüber sagten, sondern auch, wie die Juden darauf reagierten. Der Antisemitismus entspringe einem Haß,- Aggressions- und Selbstbestätigungsbedürfnis der nichtjüdischen Umwelt, das sich nur mehr oder minder zufällig gegen die Juden wende. Er sei daher von den Juden schlechterdings nicht zu beeinflussen, es sei denn durch Beseitigung des Kontaktes, also durch völlige Absonderung.

Was uns von dieser Auffassung trennt, ist ihr Radikalismus. Wäre nicht, wie oben dargestellt, das Gegensatzgefühl zwischen Gruppen der Ausdruck eines echten gesellschaftlichen Problems, so wäre es nicht ein so aufnahmefähiges Gefäß für anderweitige, dem eigentlichen Ursprung fremde Unlustgefühle. Wären anderseits diese anderweitigen Unlustgefühle nicht so stark, so würde das objektive gesellschaftliche Problem kaum jemals zu einem erheblichen Konflikt führen.*

Freud sieht in dem gesamten Zivilisationsprozeß eine Zurückdrängung primärer menschlicher Triebe, die zwar vorübergehend oder dauernd gelingen kann, der Existenz der Triebe selbst jedoch kein Ende macht.26 Der Verdrängungsprozeß wird außerdem nur mit großer Anstrengung zustandegebracht und führt häufig zu nervösen Störungen oder charakterlichen Mißbildungen. Zur Überwindung des Aggressionstriebes mußte etwa ein so ungeheuer machtvoller Apparat wie die in einer völligen Umkehrung menschlicher Instinkte gipfelnde Moral des Christentums in Bewegung gesetzt werden.27 Diese radikale Entfernung von der ursprünglichen menschlichen Natur führt ihrerseits wieder zu einer übermäßigen Belastung des Ich und somit zu neuen Konflikten. „Wie gewaltig muß das Kulturhindernis der Aggression sein“, ruft Freud schließlich aus28, „wenn die Abwehr desselben ebenso unglücklich machen kann wie die Aggression selbst!“

Wie die Fortschritte der menschlichen Gesittung ungünstig auf die menschlichen Triebe wirken und zu ihrer schmerzhaften Zurückdrängung nötigen, so ist auch innerhalb dieses größeren Rahmens im täglichen Leben an Leid, Schmerz und fortgesetzten Enttäuschungen kein Mangel. Diese Unlustgefühle aber setzen sich wiederum in Angriffslust um29, wobei es keine Rolle spielt, ob man wie Freud den Aggressionstrieb als etwas Primäres oder ihn wie Suttie30 als durch unerfüllte Liebe entstanden ansieht. Für unsere Zwecke genügt die Erkenntnis, daß er in erheblichem Maß vorhanden ist, daß die Gesellschaft ihn jedoch mißbilligt, und daß er aus diesem Grunde nach Auswegen sucht, die nach den herkömmlichen Moralauffassungen zulässig sind. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, daß zwischen der Ursache der Unlust und dem Objekt der Angriffslust kein Zusammenhang zu bestehen braucht und in der Tat nur selten besteht; im Wege der von der Psychologie erforschten psychischen Mechanismen wie Verschiebung und Rationalisierung richtet sich vielmehr die Angriffslust mit dem gleichen Entspannungseffekt gegen an der Erregung der Unlust völlig unbeteiligte Objekte (Verschiebung), gegen die nachträglich Angriffsgründe konstruiert werden, die den Angriff vor dem eigenen Selbstgefühl moralisch vertretbar erscheinen lassen (Rationalisierung).

Geht man aber einmal von dem im Individuum gleichsam freischwebenden und nach Entladung strebenden Aggressionstrieb und von einem akuten Gruppengegensatz aus, so wird es alsbald begreiflich, daß jener in diesem ein bevorzugtes Ventil findet. Muß, wie wir oben dargestellt haben, selbst ein nach allgemeinen Maßstäben normaler Mensch die Existenz einer anderen Gruppe als eine Herausforderung seines auf Erhaltung der eigenen Lebens- und Denkform gerichteten Wesens empfinden, so stellt diese Herausforderung für das überdurchschnittlich aggressive Individuum geradezu eine Aufreizung zum Angriff dar. Zu der normalen Verneinung der „Anderen“ tritt die Versuchung, im offenen Kampf gegen die „Anderen“ nicht nur seine Aggressivität abzureagieren, sondern sich selbst als Wahrer hoher Ideale zu fühlen. Das Verlockende am Gruppenhaß ist nämlich die Leichtigkeit, mit der er „rationalisiert“ werden kann. Die Gruppenexistenz, die Gruppenhomogenität, die angebliche oder tatsächliche Bedrohung durch eine Nachbargruppe, der in der Gruppenbehauptung liegende Dienst an einer begrenzten Allgemeinheit, – alle diese Faktoren lassen sich überaus leicht idealisieren. Wenn man erlebt hat, wie aus der technischen Zweckmäßigkeit eines stenographischen Systems eine „Weltanschauung“ gemacht werden kann, ja mehr als das: ein moralisches Kriterium, an dem sich nicht nur „Dummköpfe“ von „Intelligenzen“, sondern auch „Bösewichter“ von ethischen Kapazitäten scheiden, dann ist man von der Brauchbarkeit schlechthin jedes Gruppenunterschiedes für die Abreaktion jedes Selbstbehauptungs- und Aggressionsbedürfnisses überzeugt. Gruppenliebe ist gesellschaftlich zulässige Selbstliebe, Gruppenhaß gesellschaftlich zulässige Aggressivität. Ja: beides wird nicht nur eben geduldet, sondern es kann unter Umständen geradezu verherrlicht werden als Aufopferung, Hingabebereitschaft und Todesmut.

4. Die Merkmale der jüdischen Bevölkerungsgruppe

Die Juden sind zwar nur eine Untergruppe unter den vielen Untergruppen der modernen Gesellschaft, aber sie weisen bestimmte Merkmale auf, die sie zum Ziel kollektiver Aggressivität geradezu prädestinieren. Die Juden sind nicht nur „anders“, sie können leicht als „Fremde“ hingestellt werden. Sie sind nirgends autochthon, und vor der Gründung des Staates Israel waren sie selbst im Lande ihrer nationalen Geschichte dem Vorwurf ausgesetzt, Eindringlinge zu sein. In der Diaspora jedenfalls sind sie überall „Eingewanderte“. Überall wird ihnen das Recht auf das Land von einer eingesessenen Mehrheit streitig gemacht; mag deren Anspruch auf Priorität auch mancherorts noch so umstritten sein, es genügt, daß er für die Gesamtheit den Schein des Rechts für sich hat.

Die Juden sind überall eine schwache Minderheit. Die Schwäche besteht nicht nur in dem Minderheitscharakter als solchem, sondern in ihrem Mangel an einem machtvollen Zentrum, durch das sie sich geschützt fühlen könnten, und das auch tatsächlich ihre Interessen wahrzunehmen imstande wäre. Schwäche aber kommt in dem psychischen Mechanismus der „Verschiebung“ geradezu einer Einladung zur Aggression gleich. Die Juden leben nahezu überall. Sie leben nicht nur in fast allen Ländern, sondern – im Stande der Emanzipation – auch in allen Landesteilen und – wenn auch ungleich verteilt – in fast sämtlichen Wohnorten. Die Ubiquität führt zu ständiger Berührung, lädt zu Vergleichen ein und erzeugt ein gefährliches Moment der Internationalität und Unbegrenztheit des Phänomens.

Die Juden stellen einen von den Mehrheitsvölkern mehr oder minder verschiedenen physiologischen Typ dar. Wenn sie auch nach dem Stande der zeitgenössischen Forschung keine Rasse sind, so bilden doch mindestens die aschkenasischen Juden eine durch Binnenheirat konservierte ethnische Gemeinschaft mit einer gewissen Ähnlichkeit des Typs. So wenig alle Juden diesen Typ repräsentieren, so gewiß ist er doch häufig genug, um zur Prägung eines Judentypus die äußeren Züge beizutragen. Daß der Typ dunkelhaarig ist, macht ihn nach Peter Nathan31 in einer vorwiegend hellhaarigen Umgebung für unangenehme Assoziationen besonders geeignet. Daß er noch teilweise die Züge einer jahrhundertelangen ungesunden Ghettoexistenz an sich trägt, hat zweifellos gleichfalls dazu beigetragen, ihn als hinter dem vorwiegend nordisch bestimmten Schönheitsideal zurückbleibend zu empfinden.

Die Juden weichen anderseits trotz ihrer Typdifferenz nicht in entscheidenden körperlichen Zügen, wie etwa dem der Hautfarbe, von ihrer Umgebung ab. Diese Tatsache gibt ihnen gerade den Grad der Ähnlichkeit und Nähe, der den Rest an Verschiedenheit – zumal, wenn er nur das körperliche Symbol anderweitiger Unterschiede ist – als besonders irritierend empfinden läßt. „Die Intoleranz der Massen“, sagt Freud32, „äußert sich merkwürdigerweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen.“33 Das gleiche Moment der Ähnlichkeit und Nähe bei gleichzeitiger Differenz ist in der religiösen Sphäre vorhanden. Judentum und Christentum haben einen wesentlichen Teil ihrer heiligen Schriften und ihres Ideengehalts gemeinsam. Aber sie trennt die für das Christentum zentrale Figur, die nicht nur von den Juden nicht anerkannt, sondern die – unendlich viel schlimmer – nach dem Zeugnis der christlichen Überlieferung von ihnen verschmäht und gekreuzigt worden ist. Der zum Gruppenhaß prädestinierende Charakter dieser religiösen Beziehung ist so stark, daß er lange Zeit hindurch den Judenhaß entscheidend begründete. Aber auch in den neueren Zeiten, in denen die soziale Bedeutung der Religion erheblich geschwächt ist, bewahrt ihre besondere Rolle in der Jugenderziehung ihr und damit den aus ihr abgeleiteten Gegensatzgefühlen einen hervorragenden Einfluß auf das unbewußte Seelenleben.

 

Das Moment der religiösen Geringschätzung auf der Seite der Christen wird wesentlich verschärft dadurch, daß die jüdische Selbsteinschätzung ihre vornehmste Rechtfertigung gleichfalls auf religiöser Ebene findet, nämlich in der jüdischen Überzeugung, das von Gott auserwählte Volk zu sein. Diese Überzeugung ist zwar keineswegs auf die Juden beschränkt. Sie kehrt in säkularisierter Form in jedem modernen Nationalismus wieder. Aber während man die nationale Selbsterhöhung eines Staates innerhalb seiner ihn unzweideutig bestimmenden Grnezen als die unvermeidliche Folge seiner normalen Existenz hinnimmt, wird der gleiche Vorgang als peinlich, ja unerträglich empfunden, wenn wir ihn in einer schwachen, kleinen, verachteten, sich um Anerkennung bemühenden Minderheitengruppe antreffen. Wenn alle Umstände demütige Unterwürfigkeit als die adäquate Haltung erwarten lassen, muß der Auserwähltheitsglaube als eine unziemliche Arroganz erscheinen. Es ist darum nicht zu verwundern, daß die Idee des „auserwählten Volkes“ in Spott und Zorn von Antisemiten aller Zeiten und Länder immer wieder den Juden entgegengeschleudert worden ist.34 Es ist eine der in unserm Zusammenhang so häufigen Paradoxien, daß die ursprünglich rein religiös determinierte jüdische Gruppe, deren Jahrtausende hindurch eigenwillig festgehaltene religiöse Eigenart auch heute noch das sichtbarste Unterscheidungsmerkmal bildet, sich nach der Emanzipation vielfach durch einen Mangel an Religion als Angriffsobjekt auszeichnet. In dem Phänomen der jüdischen Irreligiosität, wo immer es auftritt, liegt freilich nur eine scheinbare Paradoxie. In Wirklichkeit ist es durchaus verständlich, daß für einige Mitglieder einer Gruppe, die viele Jahrhunderte lang vorwiegend unter religiösen Vorwänden unterdrückt worden waren, auch nach der Emanzipation ihre religiöse Gruppenbesonderheit einen negativen Akzent behält, den sie in ihrem Streben, von der Mehrheit aufgenommen zu werden, loszuwerden versuchen. Wichtiger ist jedoch, daß die jüdischen Individuen in ihrer langsamen Lösung von den Bindungen ihrer Gruppe ganz allgemein mit den jüdischen Bindungen auch die allgemeinen Bindungen zu zersetzen tendieren. So wird mit der Befreiung aus den Fesseln der jüdischen Tradition leicht Tradition als solche abgelehnt; mit der Verleugnung jüdischer Werte fällt oft die Anerkennung jedes eindeutigen Wertsystems; mit dem Abfall von der jüdischen Religion kann die Ablehnung jeglicher Religiosität Hand in Hand gehen. Es ist dies ein Prozeß, der für den kulturellen Kontakt jedes „Fremden“ mit der Kultur des Landes seiner Niederlassung charakteristisch ist. Simmel35 wertet ihn durchaus positiv als Voraussetzung größerer Freiheit, Objektivität, Vorurteilslosigkeit, wenn er auch die darin liegenden Gefahren nicht übersieht.*

Der jüdischen Irreligiosität eng benachbart ist ein weiterer Faktor, der die jüdische Gruppe in den Vordergrund möglicher Gruppenantagonismen stellt, der jüdische Radikalismus. Ebensowenig wie die jüdische Irreligiosität ist er eine Eigenschaft der gesamten Judenheit oder auch nur eines erheblichen Teiles der Juden. Aber der Vorwurf der Radikalität ist eines der antisemitischen Standardthemen geworden; dieser Vorwurf blieb deshalb nicht ohne Resonanz, weil einige sehr sichtbare Repräsentanten auf verschiedenen Gebieten des politischen und kulturellen Radikalismus Juden waren. So sicher der Grund dafür in den oben angedeuteten Schwierigkeiten der kulturellen Angleichung liegt, also in einer Anpassungsetappe, die in sich selbst das Mittel zu ihrer Überwindung trägt, so gewiß muß eine so komplizierte Erklärung vor den Augen der Vielen verborgen bleiben. Sie sehen nur die Tatsachen selbst, sehen sie in der von der Propaganda herbeigeführten Verfälschung und Einseitigkeit; und es ist daher nicht verwunderlich, daß in Menschen, die jeder Störung der ruhigen Entwicklung abgeneigt sind, eine scharfe Abwehr gegen die radikalen Ruhestörer einsetzt.36

Wir sind in der vorstehenden Aufzählung der Faktoren, die die jüdische Gruppe zu einem besonders geeigneten Angriffsobjekt machen, absichtlich von außerwirtschaftlichen Faktoren ausgegangen, obgleich oder weil die wirtschaftlichen Faktoren Erklärungen von besonderer Durchschlagskraft liefern. Es ist die Absicht der gewählten Reihenfolge, zu zeigen, wie stark die Entstehung des Antisemitismus durch die besondere Stellung der jüdischen Gruppe begründet ist, schon bevor wir wirtschaftliche Momente zu seiner Erklärung heranziehen. Berücksichtigen wir schließlich diese und machen wir uns gleichzeitig klar, welche beherrschende Rolle sie in der modernen, auf Erwerb und Macht gerichteten Gesellschaft spielen, so wird an dem Phänomen des latenten Antisemitismus kaum noch ein unerklärlicher Rest zurückbleiben. Er wird vielmehr in der Tat, wie J. F. Brown37 ausführt, als im psychologischen Sinn „überbestimmt“ gelten müssen.

Der englische Historiker und Geschichtsphilosoph Professor Arnold J. Toynbee38 untersucht in seinem Kapitel „Herausforderung und Antwort“ die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Herausforderungen physischer oder menschlicher Art in positive Antriebe umsetzen. Nachdem er das von ihm formulierte Gesetz „je stärker die Herausforderung, desto stärker der Antrieb“ durch ein „Gesetz des Ausgleichs“ abgewandelt hat, derart, daß auf dem gleichen Gebiet, auf dem die Herausforderung erfolge, auch ein Ausgleich Platz greife, sagt er39: „ … wir fanden unser ‚Gesetz des Ausgleichs‘ wieder am Werk bei dem ausgeprägtesten Beispiel von ‚Herausforderung und Antwort‘ auf menschlichem Gebiete, das man sich vorstellen kann: dem Beispiel der jüdischen Diaspora“. Er sieht den Ausgleich in folgendem40: „Die Notwendigkeit, sich in einer feindlichen Umwelt zu behaupten, hat die Juden der Diaspora nicht nur zur Rührigkeit angetrieben. Sie hat sie auch in verschiedenartigen nichtjüdischen Ländern und in vielen aufeinanderfolgenden Zeitaltern fähig gemacht, ihren Platz im Waren- und Geldhandel zu finden und sich ihren Anteil am goldenen Strom des Wirtschafts- und Finanzverkehrs zu sichern …“ Toynbee sieht demzufolge in der Placierung der Juden in Handel und Geldwirtschaft das direkte und folgerichtige Ergebnis der Zurücksetzung (discrimination), der die Juden in so besonderem Maße ausgesetzt waren. In ähnlicher Weise nennt der deutsche Soziologe Georg Simmel41 die Geschichte der europäischen Juden das klassische Beispiel dafür, daß der Handel „das indizierte Gebiet für den Fremden“ ist, weil er immer noch mehr Menschen aufnehmen könne als die primäre Produktion. Wir haben die Tatsache der disproportionalen jüdischen Berufsschichtung bereits erwähnt und auch kurz angedeutet, wie sie aus ihrer wirtschaftlichen Ausgangssituation im Geldgeschäft und Kleinhandel folgerichtig hervorging. Es kommt uns hier darauf an, zu zeigen, daß in dieser Schichtung ein weiteres Moment enthalten ist, das die jüdische Gruppe in eine besondere Gefahrenzone rückte.

Ob eine ursprüngliche Neigung, ob die Lage Palästinas an einem Schnittpunkt wichtiger Karawanenstraßen, ob die Zerstreuung unter Beibehaltung einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen Rechtes den frühesten Hinweis der Juden auf eine Betätigung im Handel enthielt, braucht hier nicht untersucht zu werden. Es ist anzunehmen, daß verschiedenartige Bedingungen nach der gleichen Richtung wirkten, so daß schließlich der Zwang der mittelalterlichen Machthaber, die die Juden aus religiösen und wirtschaftlichen Gründen auf Geldgeschäft und Kleinhandel beschränkten, nur eine schon bestehende Tendenz verstärkte. Es kommt hier auch nicht darauf an, daß Juden vorübergehend in einzelnen Ländern, so in Spanien und Südfrankreich42 eine prominente Stellung in vielen Zweigen des Handwerks behaupteten, und daß hier und dort Juden auch in der Landwirtschaft zu finden waren; derartige Berufszweige waren im Verhältnis zu der allgemeinen jüdischen Erwerbstätigkeit vom Beginn der Diaspora bis zur neuesten Zeit immer nur zusätzlich, immer nur die Ausnahmen43. Grundsätzlich etwas anders lagen die Verhältnisse nur in Osteuropa und vor allem in Polen, wo es eine beträchtlichere Zahl von jüdischen Handwerkern gab. Aber obgleich dort sogar jüdische Zünfte existierten, die mit den christlichen Zünften in Konkurrenz traten oder sich mit ihnen über ihren Kundenkreis einigten44, waren die Juden doch auch da überwiegend Händler; sie stellten außerdem einen übergroßen Anteil zu Berufen wie denen der Schankwirte und Zwischenpächter45. Teilweise war hier die Not so groß, daß die Juden keinen festen Beruf ausübten, sondern bald Lehrer, bald Händler, bald Arbeiter waren, – nach einem Wort von Max Nordau: Luftmenschen. Auf diese Gebiete also treffen die Folgerungen, die aus der Massierung der Juden im Handel und vor allem die, die aus der sichtlichen Rentabilität ihrer Gewerbe weiter unten gezogen werden, nur mit Einschränkung zu. Trotzdem fallen auch sie unter das allgemeine Charakteristikum, daß die Juden von der Urproduktion des Ackerbaues so gut wie ausgeschlossen waren, und daß solche Individuen, denen es gelang, sozial aufzusteigen, wiederum in Handel, Geldwirtschaft und gewissen noch zu erörternden Industrien eine disproportionale Prominenz erlangten.

Nun gehört aber der Handel und in noch viel stärkerem Maße das Geldgeschäft im Bereich der wirtschaftlichen Funktionen einer relativ späten Stufe an. Zuerst waren Landwirtschaft und Handwerk da, und erst mit zunehmender Ausweitung, Arbeitsteilung und Unübersichtlichkeit der wirtschaftlichen Tätigkeit wurde die Vermittlungstätigkeit zu einem selbständigen Erwerbszweig. Sie hat den Makel dieses sekundären und im Verhältnis zur Güterproduktion abstrakten Charakters niemals überwinden können, lief eingewurzelt im menschlichen Bewußtsein ist die Idee, daß man einmal in früheren Zeiten auch ohne den Handel ausgekommen sei, und daß – anderseits – der Handel unproduktiv sei, die Waren unnötig verteuere, ihren Wert aber nicht erhöhe46. Uns geht der volkswirtschaftliche Fehler in dieser Auffassung nichts an, und wir haben hier nicht mit ihr zu rechten. Wichtig für uns ist ihre weite Verbreitung und ihre Volkstümlichkeit. Zwar schwankt die Bewertung des Handels in den verschiedenen Ländern; sie ist in England zweifellos erheblich höher als in Deutschland. Hier jedenfalls, wo selbst in Zeiten der Kommerzialisierung das Heer und die Bürokratie den Handelsberuf in seiner sozialen Schätzung niederhielten, ist seine Minderbewertung bis in unsere Tage hinein allgemein. Deshalb konnte die nationalsozialistische Unterscheidung zwischen „raffendem“, nämlich Handels- und Finanz-, und „schaffendem“, nämlich industriellem Kapital und Grundbesitz eine politische Parole von sicherer Wirkung werden.

In noch größerem Maße aber besteht eine Geringschätzigkeit, ja eine Abneigung gegen alles, was mit dem reinen Geldgeschäft zusammenhängt, handle es sich um Geldverleihen gegen Pfänder und Zinsen oder um komplizierte bank- und börsenmäßige Transaktionen. Hier ist der Zusammenhang mit der Produktion von Konsumgütern noch weniger sichtbar, da es sich nicht einmal mehr um ihre Verteilung, sondern um die Vermittlung des abstrakten Ausdrucks der Kaufkraft, des Geldes, handelt. Der auf diese Weise erzielte Verdienst erscheint noch ungerechtfertigter, ja geradezu unmoralisch. Buchführung und Geldzählen werden noch nicht einmal in dem Sinne als Arbeit gewertet, in dem man Lagerhaltung, Einkauf und Verkauf von konkreten Waren allenfalls noch dafür gelten läßt. Es ist kein Zufall, daß nicht nur die jüdische Lehre und die katholische Kirche das Zinsennehmen einschränkten oder verboten, sondern daß kaum eine andere wirtschaftliche Funktion sich im Laufe ihrer Entwicklung eine so fortwährende Reglementierung gefallen lassen mußte wie diese. Dazu kommt, daß gerade in diesem moralisch stigmatisierten, ebenso verhaßten wie unentbehrlichen Erwerbszweig wie nirgends sonst die Entscheidung über Rettung oder Vernichtung des wirtschaftlichen Kontrahenten in der Willkür dessen zu liegen scheint, der ihn ausübt. Gerade in diesem Erwerbszweig war es den Juden bestimmt, eine so wichtige Rolle zu spielen, daß sie ihrer Identifizierung mit dem Geldgeschäft gleichkam. Aber die verhängnisvolle Rolle des Geldgeschäfts beschränkt sich nicht auf seine Unbeliebtheit. Es gibt auch andere Berufe, die verschmäht und verdächtig sind, und deren Ausübung trotzdem eher Mitleid als moralische Entrüstung auslöst. Was im Gegensatz zu diesen das Geldgeschäft vollends verhaßt macht, ist seine relativ hohe Rentabilität. Diese Rentabilität allerdings entspricht zu einem entscheidenden Teile einer Art optischer Täuschung: man sah in den Zeiten, als etwa die Juden durch Geldausleihen Reichtümer ansammelten, nur diese verhältnismäßig schnell Reichgewordenen und war geneigt, die vielen anderen, die zu allen Zeiten auf Grund ihrer angehäuften Reichtümer ausgeraubt und des Landes verwiesen wurden, zu übersehen. Tatsächlich nämlich stellten die relativ hohen Gewinne der erfolgreichen Geldausleiher im wesentlichen Risikoprämien dar, nicht nur für das wirtschaftliche, in jenen Zeiten sehr hohe Risiko der Nichteintreibbarkeit einer Schuld, sondern auch für eben jenes politische Risiko gewaltsamer Eingriffe in Lebens- und Geschäftsführung, wie sie soeben erwähnt wurden. Die Unsicherheit nicht nur des Erwerbs, sondern des gesamten Lebens drückt sich in den Gewinnen aus, die sich bei der Berechnung ausgedehnter zeitlicher und räumlicher Durchschnitte erheblich senken würden. Um derartige Zusammenhänge zu berücksichtigen, hätte es jedoch eines Maßes an wirtschaftlicher Einsicht und Objektivität bedurft, das bei der Masse der Zeitgenossen nicht erwartet werden konnte. Bestehen blieb deshalb nur der Augenschein, daß ein angeblich unredliches Gewerbe nahezu ohne eigene Arbeitsleistung Gewinne erzielte, auf die der Bauer oder Handwerker auch bei schwerster Arbeit niemals rechnen konnte.

 

Nachdem die rechtlichen Beschränkungen der wirtschaftlichen Betätigung der Juden gemildert oder aufgehoben worden waren, wäre es theoretisch möglich gewesen, daß schon die erste befreite Generation sich wirtschaftlich „normalisiert“ und sich im ungefähren Prozentsatz ihres Bevölkerungsanteils auf sämtliche nun offenstehende Erwerbszweige verteilt hätte. Bei den Emanzipatoren war eine solche Erwartung zweifellos auch vorhanden. Sie war eines der Hauptargumente jenes Teiles ihrer Befürworter, die in der gesetzlichen Gleichberechtigung die notwendige Vorstufe der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Normalisierung sahen, während die Gegner der Emanzipation die gesetzliche Gleichberechtigung mit Rücksicht auf die gesellschaftlich-wirtschaftliche Anomalie den Juden ganz vorenthalten wollten, und die Vertreter einer mittleren Linie sie erst als Lohn der vorher zu vollziehenden Normalisierung zu verleihen geneigt waren. Die Erwartung einer schnellen Normalisierung hat sich nicht erfüllt. Sie konnte sich nicht erfüllen, weil in der wirtschaftlichen Ausgangsposition der Juden gewisse Entwicklungstendenzen bereits angelegt waren, die dazu führten, daß sie ihren besonderen Gruppencharakter selbst unter veränderten Verhältnissen beibehielten.

Einer der Hauptgründe dafür, daß die Normalisierung nicht erreicht wurde, war die Tatsache, daß die Juden vorwiegend in Städten wohnten. Ob dabei, wie Max Weber47 annimmt, eine subjektive Abneigung der Juden gegen die Landwirtschaft mitgesprochen hat, die dem Wunsche entsprang, den Besitz beweglich und sich selbst auf diese Weise für das Kommen des Messias bereitzuhalten, oder ob der weitgehende Ausschluß vom ländlichen Grundbesitz ursprünglich den Ausschlag gegeben hat, kann dahingestellt bleiben. Sicher ist, daß die Ausübung händlerischer Berufe selbst in ländlicher Umgebung den Juden einen so hohen Grad von Beweglichkeit gab, daß sie in ganz besonderem Maße von den anwachsenden städtischen Zentren angezogen wurden, auch wenn sie sich nicht von vornherein in ihnen angesiedelt hatten. Ein Übergewicht der Stadt über das Land innerhalb der Wohnverteilung der Juden war so von vornherein gegeben und hat im Laufe der Entwicklung noch stärker zugenommen als bei den Nichtjuden. Einige weitere Faktoren wirkten in der gleichen Richtung: Die Juden bedürfen zu ihrem religiösen Leben sowohl zum Gottesdienst, als auch zum Leben nach gesetzlicher Vorschrift der Gemeinde. Sie waren aber nicht nur positiv aufeinander angewiesen. Ein enges Zusammenleben mit Bauern, in deren dörflicher Lebensgemeinschaft die Kirche und die mit ihr eng verbundenen Sitten noch eine hervorragende Rolle spielten, wäre schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen. Die Stadt dagegen ist ein Platz, an dem die verhängnisvolle „Fremdheit“ des Juden, diese Grundursache so vieler seiner Leiden, eine Art Kompensation, ja fast eine Art Vorzug bedeutet. So wenigstens sieht sie Louis Wirth48 in seiner Studie über die Stadt als Lebensform: „Die Stadt duldet nicht nur individuelle Verschiedenheiten, sondern sie belohnt sie sogar. Sie führt Menschen von allen Enden der Erde zusammen, gerade weil sie verschieden und deshalb einander nützlich sind, – und nicht weil sie gleicher Art und gleichen Sinnes sind.“ Aber selbst wenn man die Meinung, daß die Stadt geradezu eine Prämie auf die Andersartigkeit aussetze, nicht zu teilen vermag, wird es doch ohne weiteres einleuchten, daß die von der Andersartigkeit ausgehenden Nachteile, wenn überhaupt, so nur in der Stadt eine gewisse Milderung erfahren können. Ganz im Gegensatz zu der Kontrolle, die die tägliche nachbarliche Berührung einer ländlichen Gemeinschaft über jeden ihrer Einwohner ausübt, ist der gegenseitige Kontakt in der Stadt nur flüchtig und oberflächlich. Er erfaßt jeweils nur geringe Teilbetätigungen der in Kontakt tretenden Individuen. Diese Anonymität der Stadt muß auf den Fremden, den „horizontalen“ wie den „vertikalen“ Einwanderer, eine starke Anziehungskraft ausüben, weil sie die Bürde der Fremdheit erleichtert. Es ist darum nicht zu verwundern, daß Einwanderer ganz allgemein, selbst wenn sie einer ursprünglich ländlichen Bevölkerung entstammen, im Einwanderungsland vorzugsweise in Städten zusammenströmen49. Viele Zusammenhänge des städtischen Lebens kommen außerdem dem Einwanderer im allgemeinen und dem Juden im besonderen entgegen. Während das Dorf einen Fremden oder allenfalls eine engbegrenzte Zahl Fremder nur aufnimmt unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß diese Fremden sich zu vollwertigen Dorfbewohnern entwickeln und im Laufe der Zeit alle wesentlichen Eigenarten aufgeben, ist es in der Stadt durchaus möglich, Eigenarten zu bewahren, ohne daß die spärlichen Kontakte mit den übrigen Stadtbewohnern dadurch beeinträchtigt würden. Ja es ist sogar möglich, sich auf Grund seiner Eigenarten in besonderen Stadtbezirken zusammenzufinden. Die Ansprüche der Stadt an den Einordnungswillen ihrer Bewohner sind geringer; dafür ist auch der Grad, in dem eine Stadt ihre Bürger anerkennt und als zugehörig betrachtet, bedeutend niedriger als der, in dem man zu einer Dorfgemeinschaft gehört, wenn man einmal dort aufgenommen worden ist. Aber dieser lose Zusammenhang ist es gerade, der den Neuankömmlingen die Niederlassung erleichtert. Sie sind ohnehin durch ihre Einwanderung und die Emanzipation in einem Lösungsprozeß aus hergebrachten Bindungen begriffen; die verminderte Kontrolle in der Stadt kommt dieser Entwicklung durchaus entgegen. Das Fehlen einer neuen Gemeinschaftsordnung, welche die Stadt im Gegensatz zum Dorfe nicht geben kann, fällt dabei nicht ins Gewicht. Vollends aber erscheint die Möglichkeit, mit seinesgleichen zusammen wohnen zu können, die Hilfe Frühergekommener zu erfahren und zugleich auch mit der weiteren Umwelt in wirtschaftlichen Kontakt zu kommen, als eine geradezu ideale Lösung. Daß in dem gleichzeitigen Bestreben, allzu strenger Kontrolle zu entgehen und doch die Vorzüge der alten Gemeinschaft zu genießen, kein Widerspruch steckt, wird jedem Kenner derartiger Übergangsstadien klar sein50. Bedenkt man schließlich noch, daß die städtische Existenz das enge Zusammenwohnen von Individuen, die durch gefühlsmäßige Bande nicht zusammengehalten werden, einen Geist des Wettbewerbs, der Vergrößerung und der auf Nutzen gerichteten Zusammenarbeit begünstigt, also gerade jene Charakteristika erfordert und entwickelt, die der Jude von Haus aus mitbringt, so muß man den Zug der Juden in die Stadt eigentlich als im psychologischen Sinne wiederum „überbestimmt“ ansehen.