Die Flucht in den Hass

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Die Flucht in den Hass
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„Die Flucht in den Hass“ – von der damaligen akademischen Kritik als eine der besten wissenschaftlichen Analysen des Nationalsozialismus bezeichnet – stammt aus der Feder von Eva Gabriele Reichmann, einer in Oberschlesien 1897 geborenen, in Heidelberg promovierten Soziologin, die von 1924 bis 1938 kulturpolitische Referentin des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens war. Zusammen mit ihrem Mann, dem Rechtsanwalt Hans Reichmann, der seit 1933 das „Büro Wilhelmstraße“ leitete, eine antinazistische Zentrale, die die demokratischen Parteien mit Material versorgte, bekämpfte sie den Antisemitismus und den Nationalsozialismus in Deutschland in Wort und Schrift.

Hans Reichmann wurde im November 1938 in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Freilassung emigrierten Eva und Hans Reichmann 1939 nach London. Dort schrieb Eva Reichmann ihr Buch Hostages of Civilisation, welches 1956 unter dem Titel Die Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe erstmals in der Europäischen Verlagsanstalt erschien.

Eva Reichmann befasst sich mit einer historischen, soziologischen und psychologischen Einordnung der Frage, wie der Aufstieg des Nationalsozialismus zu erklären sei. Sie fragt zudem, ob – angesichts der von ihr attestierten tiefen „Unsicherheit im deutschen Nationalbewusstsein“ – das Projekt der Judenemanzipation nicht von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Ihre Antwort dazu fällt deutlich aus: Nein, der Nationalsozialismus und sein antisemitisches Programm sind kein Beweis für das Scheitern der Emanzipation der Juden. Vielmehr waren es wirtschaftliche, soziale und psychologische Krisenreaktionen, die zum Erfolg antidemokratischer und auch antisemitischer Bewegungen in Deutschland geführt haben. Eva Reichmann verteidigte das liberale und das demokratische Projekt der Emanzipation Zeit ihres Lebens. Oft war sie als Zeitzeugin und Gesprächspartnerin im christlich-jüdischen Dialog gefragt. 1982 erhielt sie für ihr Wirken den Moses-Mendelssohn-Preis und ein Jahr darauf das Große Bundesverdienstkreuz, 1970 bereits die Buber-Rosenzweig-Medaille. Sie starb 1998 in London im Alter von 101 Jahren.

In ihrem Nachwort zu der von ihr herausgegebenen Neuausgabe vertieft Kirsten Heinsohn die lebenslange Position von Eva Reichmann als Verteidigerin des demokratischen Projekts der Emanzipation.

Prof. Dr. Kirsten Heinsohn ist stellvertretende Direktorin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professorin an der Universität Hamburg. Sie hat zu Eva Reichmann geforscht und Artikel zu Werk und Person veröffentlicht, zudem zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zur Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie zu Jüdischer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert.

Eva G. Reichmann

DIE FLUCHT IN DEN HASS
Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Kirsten Heinsohn


Die englische Ausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel: »Hostages of Civilisation« im Verlag Victor Gollancz Ltd., London.

E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Foto: Eva Reichmann in der Wiener Library, Juli 1952

Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign, Berlin

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ePub:

ISBN 978-3-86393-563-4

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

Neuausgabe © CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Deutsche Rechte: Europäische Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 1956

Print: ISBN 978-3-86393-104-9

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Kirsten Heinsohn

Zur Neuausgabe von Eva Gabriele Reichmann: Flucht in den Hass

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Einleitung

ERSTER TEIL ANTISEMITISMUS – EIN SONDERFALL DER GRUPPENSPANNUNG

1. Emanzipation als soziales Problem

2. Die objektive oder „echte“ Judenfrage

3. Die subjektive oder „unechte“ Judenfrage

4. Die Merkmale der jüdischen Bevölkerungsgruppe

5. Widersprüche in der Erscheinung des modernen Juden

6. Psychische Wirkungen der Krise

7. Das Zusammenwirken objektiver und subjektiver Ursachen in der Geschichte des deutschen Antisemitismus

ZWEITER TEIL DIE ZEIT

1. Die Konkurrenzwirtschaft als Brutstätte kollektiver Unzufriedenheit

2. Die Erschütterung religiöser und ethischer Werte

3. Nationalismus, Romantik, Interessenpolitik: Etappen einer Rückentwicklung

4. Exkurs über die Erziehungsarbeit der sozialistischen Bewegung in Deutschland

5. Bevölkerungsvermehrung – Anwachsen des Kleinbürgertums

6. Wandlung der staatlichen Repräsentation: Von den „Dichtern und Denkern“ zur Massendemokratie

7. „Leichte“ und „schwere“ politische Ideologien – Die Demokratie – eine „schwere“ Ideologie

8. Die Märzwahlen 1933, – ein Phänomen der Triebentfesselung

DRITTER TEIL DER SCHAUPLATZ

1. Der Einfluß der geographischen Lage Deutschlands auf seine geistige und soziale Entwicklung

2. Deutschland und die Ideen des Westens

3. Die Wirkung der verspäteten Industrialisierung auf die Meinungsbildung der Mittelklasse – Die Wege des nichtjüdischen und jüdischen Bürgertums trennen sich

4. Das Problem Preußen

5. Unsicherheit des deutschen Nationalbewußtseins – Alldeutschtum und intellektueller Antisemitismus

VIERTER TEIL DIE KATASTROPHE

1. Verstärkung der Verfallserscheinungen als Folge des ersten Weltkrieges

2. Exkurs: Die Haltung der sozialistischen Parteien in der Zwischenkriegskrise

3. Die Krise der Demokratie

4. Ist eine geistesgeschichtliche Ableitung des Nationalsozialismus zulässig?

5. Das Geheimnis des nationalsozialistischen Erfolges: Die Befreiung der Triebe – Die Funktion des jüdischen Antisymbols

6. Der Militarismus als Mittel der Triebbefreiung

7. Weitere Funktionen des Antisemitismus in der nationalsozialistischen Propaganda

8. Die Flucht in den Haß

Schlußfolgerungen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Kirsten Heinsohn

Verteidiger des Liberalismus

Zur Neuausgabe von Eva Gabriele Reichmann: Flucht in den Hass

Als Eva Reichmann 1981 für die ZDF-Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ interviewt wurde, sprach sie ausführlich über ihr zentrales Werk, das Buch „Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe“. Schon während der Kriegszeit hatten Eva Reichmann und ihr Mann Hans, beide arbeiteten zuvor im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), in ihrem Londoner Exil begonnen, sich wissenschaftlich mit den Ursachen für die Vertreibung und Verfolgung der Juden in Deutschland zu beschäftigen.

 

„Ich wollte mir Rechenschaft ablegen, wie das in dem Lande, das ich als meine Heimat gekannt und geliebt hatte und geschätzt und verehrt hatte, wie das in meinem Lande zustande kommen konnte. Darüber wollte ich mir Rechenschaft ablegen und daraus ist das Buch entstanden, und so mußte ich also vollkommen objektiv zu sein versuchen und ich glaube, das ist mir gelungen.“1

Persönliche und berufliche Erfahrungen gaben den Anstoß, nach den Ursachen für den mörderischen Antisemitismus in Deutschland zu fragen.2 Eva Reichmann antwortete jedoch nicht als Betroffene, sondern als Wissenschaftlerin, als studierte Soziologin, die 1921 ihre Promotion zum Thema „Spontaneität und Ideologie als Faktoren der modernen sozialen Bewegung“ erfolgreich in Heidelberg verteidigt hatte. „Aus dem nüchternen Gebrauch des wissenschaftlichen Geräts auf einen Mangel an persönlicher Erschütterung zu schließen, wäre irrig“, stellte sie gleich am Anfang ihres Vorwortes für die deutsche Ausgabe klar. Im Gegensatz zur englischen Originalausgabe, die 1950 unter dem Titel „Hostages of Civilisation. A Study of the Social Causes of Anti-Semitism“ im Verlag von Victor Gollancz erschienen war, meinte sie zudem, hier den deutschen Leser*innen erklären zu müssen, dass „alles verstehen“ nicht bedeute, „alles verzeihen“ zu können. Eva Reichmann hatte mit ihrem Buch eine klare Ursachenbeschreibung für den hasserfüllten Antisemitismus und seine Funktion für den Aufstieg des Nationalsozialismus vorgelegt und erwartete nun, im Jahre 1956, dass die Zeitgenoss*innen in Deutschland sich ebenfalls mit der unmittelbaren Vergangenheit auseinandersetzen würden. Ihr Buch stelle daher auch die Frage,

„ob Haß und Haßbereitschaft in Deutschland tatsächlich überwunden sind, nachdem ihre nach allen Seiten wütenden, zerstörerischen Folgen offenbar wurden. Seelische Erkrankung kann nicht durch Stillschweigen überwunden werden. Sie ins Bewußtsein zu heben, und so ihre Ursachen bannen zu helfen, ist dieses Buch geschrieben worden.“3

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die Frage, ob die Emanzipation der Juden in Deutschland als ein gescheitertes Experiment anzusehen sei. Ihr Buch gibt darauf eine klare, nämlich ablehnende Antwort: Es handele sich gar nicht um eine Auseinandersetzung mit Inhalten und Folgen der jüdischen Emanzipation, sondern es gehe ausschließlich um die Funktion der antisemitischen Propaganda für die nationalsozialistische Bewegung. Aus einem historisch-soziologischen Blickwinkel rekonstruierte Reichmann, dass es im 19. Jahrhundert noch eine „objektive“ und eine „subjektive Judenfrage“ in den europäischen Ländern gegeben habe. Objektiv waren vor der Gleichstellung soziale und kulturelle Unterschiede zwischen Juden und NichtJuden vorhanden. Nach der Emanzipation habe jedoch in einigen europäischen Ländern die „objektive Frage“ keinen Anlass mehr für gesellschaftliche Auseinandersetzungen gegeben, so unter anderem in Deutschland oder auch in Großbritannien, in anderen dagegen schon, etwa in Polen oder Russland. In Deutschland sei im 20. Jahrhundert ausschließlich die „subjektive Judenfrage“ ausschlaggebend für den Aufstieg des Nationalsozialismus gewesen. Diese „unechte Frage“ bzw. ihre politische Funktionalisierung bilden den zentralen Punkt in Eva Reichmanns Analyse. Sie bezeichnet mit diesem Begriff gesellschaftliche Diskussionen, in denen vor allem in Krisenzeiten individuelle „Unlustgefühle“ formuliert werden. Diese Gefühle entstehen nach Freud aus der zivilisatorischen Erziehung, die den Aggressionstrieb unterdrückt. Je heftiger Unlustgefühle auftreten, desto stärker fühlt sich das Individuum in seiner eigenen Existenz und Identität bedroht. Juden als Gruppe bildeten dabei unabhängig von konkreten Personen ein besonderes Angriffsobjekt, weil ihnen sowohl Ähnlichkeit als auch Andersartigkeit zugesprochen wurde, wobei Juden von Nicht-Juden als sicher in ihrer Identität wahrgenommen werden – auch wenn diese selbst sich nicht so sehen. Eva Reichmann bezieht sich in ihrer Analyse auf Freuds Überlegungen zum Unheimlichen, bleibt jedoch nicht auf der Ebene des Individuums stehen, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Ursachen für „Unlustgefühle“ gegen Juden. Neben ökonomischen Ungleichheiten, die in der noch vorhandenen besonderen Berufsstruktur der jüdischen Minderheit liegen, der zunehmenden Erschütterung religiöser Wertsysteme (Säkularisierung) sowie einem aggressiven Nationalismus (insbesondere in Deutschland) benennt Reichmann auch die daraus entstandene „Schwächung des Gewissens“ als eine kollektive gesellschaftliche Erscheinung in Zeiten der Krise. Der Nationalsozialismus habe schließlich erfolgreich die Möglichkeiten der Demokratie nutzen können, um für eine antirationale, aggressive und antidemokratische Politik zu werben.

Eva Reichmann benennt also zwei Verantwortliche für den Aufstieg des Nationalsozialismus: die politischen Führer der NS-Bewegung und die „Massen“, die lieber einer gefühlsorientierten Ideologie folgten, als sich vernunftgeleitet mit Krisenprozessen auseinanderzusetzen. Es ist offensichtlich, dass sich Eva Reichmann mit dem letzten Argument im Nachkriegsdeutschland nur wenige Freunde machte, denn sie ließ die einseitige These von der Verführung der Massen durch diabolische Verführer nicht gelten, sondern betonte im Gegenteil die Verantwortlichkeit der Menschen, die zur Masse wurden. Es war Zweck ihrer Tätigkeiten, auch ihres Buches, einen gesellschaftlichen Prozess des Nachdenkens anzuregen, um aus dieser Reflexion zur Verantwortung gegenüber der Vergangenheit zu gelangen. Den Erfolg des Nationalsozialismus führte sie auf die eigenartige politische, soziale und ökonomische Umbruchsituation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zurück, deren destruktive Potentiale aber erst durch die „Befreiung der Triebe“, also eine Flucht der sich sozial und politisch deklassiert Fühlenden in den Hass auf „den Juden“, virulent wurden. Ihr Buch ist daher viel mehr als nur ein Beitrag zur Antisemitismusforschung – es behandelt eigentlich die deutsche Gesellschaftsgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts aus soziologischer und gruppenpsychologischer Perspektive.

Ihre Analyse deckt sich in manchen Teilen mit den Untersuchungen der exilierten Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, vor allem mit deren Untersuchungen zur autoritären Persönlichkeit. Auch die Arbeiten von Leo Löwenthal zur Funktion von Propaganda standen im Hintergrund.4 Die Auswertungen dieser Experimente erschienen nach der englischen Version von Reichmanns Buch, sie verwies aber explizit auf diese in der deutschen Ausgabe. Wie die Vertreter der kritischen Theorie befasste sich auch Reichmann letztlich mit den Schwierigkeiten von Individuen, in modernen und sich schnell verändernden, demokratischen Gesellschaften Orientierung zu finden. Gerade deshalb sei die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit auch so wichtig, denn erst die aktive Anerkennung, einen Irrweg eingeschlagen zu haben, ermögliche Umkehr und einen Bewusstseinswandel.5

In akademischen Kreisen fand das Buch von Eva Reichmann überwiegend Anklang und Zustimmung, ebenso in Gruppen des deutschjüdischen Exils, sofern diese weiterhin dem Programm des CV folgten. Der Soziologe Kurt Sontheimer rezensierte es für die FAZ und drückte seine Hoffnung aus, es könne zur Neubelebung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beitragen.6 Das hat es wohl auch getan, allerdings eher indirekt und nicht auf die Art und Weise, die Eva Reichmann selbst intendierte. Die öffentliche Auseinandersetzung in der Bundesrepublik wurde in den sechziger Jahren von Gerichtsverfahren und der Berichterstattung dazu mehr beeinflusst als von wissenschaftlichen Büchern und Debatten. Die 68er-Studierendenbewegung befasst sich eher mit Adorno als mit Reichmann. Die öffentliche Debatte änderte sich dann bekanntlich erst mit der Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“, die 1979 ausgestrahlt wurde, und den Historikerdebatten in den 1980er Jahren. Bis dahin waren Eva Reichmann und ihr Buch vor allem in den Kontexten von Akademien, christlich-jüdischen Vereinen und den Einrichtungen zur politischen Bildung bekannt. In den sechziger und siebziger Jahren wurde ihr Buch in Seminaren zum Antisemitismus und zur jüdischen Geschichte gelesen und fand auf diese Weise Eingang in sozial und politisch distinkte Diskussionsgruppen. Es ist auf diese Weise vielen Menschen bekannt geworden und sicherlich als ein Klassiker einzuordnen, wenn auch eher als ein heimlicher Klassiker.

Wer heute nach zentralen Werken zur Analyse des Aufstiegs des Nationalsozialismus fragt, wird nicht den Namen von Eva Reichmann hören – und doch lohnt es sich nach wie vor, das Buch zu lesen, gerade auch vor dem Hintergrund aktueller Debatten über populistische Bewegungen, dem Erstarken des Rechtsextremismus in ganz Europa und der polarisierten Diskussion über den Umgang mit Minderheiten. Am Beispiel der „Judenfrage“ zeigt das Buch, was passieren kann, wenn soziale und wirtschaftliche Krisen von Populist*innen genutzt werden, um antirationale, antiliberale und antidemokratische Politik zu legitimieren – und eine große Zahl Menschen bereit ist, ihnen zu folgen. Sicher, Geschichte wiederholt sich nicht, doch die aktuellen gesellschaftlichen Spaltungen und individuellen Krisenerfahrungen gleichen doch in mancher Hinsicht den unruhigen zwanziger Jahren in Deutschland. Kein Zufall also, dass wieder verstärkt über Gruppenspannungen, emotionalisierte Politik und die Funktionalisierung von Ressentiments gegen Minderheiten in der politischen Debatte diskutiert und geforscht wird.7 Eva Reichmanns Buch hat damit eine neue Aktualität gewonnen – leider, so muss man sagen.

Kirsten Heinsohn

1Transkript des Gespräches zwischen Hans Lamm und Eva Reichmann 4.- 6.2.1981 in London, ZDF Produktion Nr. 6351/0827, Archivnr. 0012521501, S. 41.

2Kirsten Heinsohn: Erfahrung und Zeitdeutung. Biographie und Werk der Soziologin Eva G. Reichmann, in: Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Festgabe für Barbara Vogel, hrsg. v. Henning Albrecht, Gabriele Boukrif, Claudia Bruns, Kirsten Heinsohn, Hamburg 2006, S. 295-308.

3Eva Gabriele Reichmann: Vorwort zur deutschen Ausgabe, S. 11/12.

4Siehe dazu die Neuausgabe von Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation, unter Mitarbeit von Norbert Guterman. Aus dem Englischen von Susanne Hoppmann-Löwenthal. Mit einem Nachwort von Carolin Emcke, Berlin 2021. Das Buch erschien 1949 zuerst in den USA.

5Eva Reichmann führte diesen Zusammenhang noch deutlicher in ihrem Beitrag: Zeitgeschichte als politische und moralische Aufgabe, hrsg. v. Kuratorium für staatsbürgerliche Bildung, Hamburg 1962, aus. Gekürzt wiederabgedruckt in: Eva G. Reichmann: Größe und Verhängnis deutsch-jüdischer Existenz. Zeugnisse einer tragischen Begegnung, Heidelberg 1974, S. 90-104.

6Kurt Sontheimer, FAZ 30.11.1956, S. 21.

7Vgl. etwa Marcia Pally: Kampf der Traumatisierten. Nicht der Effekt ihres Handelns, sondern die emotionale Genugtuung treibt die Anhänger Trumps an, in: taz am wochenende 23./24.1.2021, S. 11.

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Am Beginn eines Buches, das eigenes Erleben auf die Ebene akademischer Objektivität zu heben bestimmt ist, mag ein persönliches Wort erlaubt, ja sogar gefordert sein.

Möge keiner meiner Leser glauben, daß mir diese Objektivität leicht geworden wäre. Nicht weil ich den behandelten Fragen mit kühlem Abstand gegenüberstehe, habe ich das Buch schreiben und so schreiben können, sondern weil sie den Mittelpunkt meines Lebens bilden, weil ich mich der Gewalt, mit der sie eine Antwort forderten, nicht entziehen konnte. Sollte aber die Antwort durch die Art, in der sie gesucht und gegeben wurde, ihre Gültigkeit nicht selbst verneinen, so mußte sie notwendig eine wissenschaftliche Antwort sein. Die deutende Schau des schaffenden Künstlers ist mir versagt. Einer prüfenden Forschung und bedachtsam abwägenden Erklärung fühlte ich mich gewachsen. In ihnen bleibt kein Raum für den Ausdruck der Qual, der Leidenschaft und der Anklage. Aus dem nüchternen Gebrauch des wissenschaftlichen Geräts auf einen Mangel an persönlicher Erschütterung zu schließen, wäre irrig.

 

Noch einem anderen Mißverständnis möchte ich vorzubeugen versuchen. Wenn irgendwo „alles verstehen“ nicht bedeuten kann „alles verzeihen“, so im Zusammenhang dieses Buches. Ich habe mich bis in vielfältige Einzelheiten hinein bemüht, Ursachenketten am Werk zu zeigen, die scheinbar diese und nur diese Wirkungen hervorbringen konnten. Geschichtsschreibung, so ist gesagt worden – und man darf das Wort wohl auch auf die soziologische Betrachtung anwenden –, ist rückwärtsgerichtete Prophetie. Aber so sehr dieser Begriff einen Widerspruch in sich selbst darstellt, so wenig haben Politiker, Historiker und wer wohl sonst noch die Pflicht hatte, Warner zu sein, etwa im Jahre 1930 einen Ausgang vorauszusehen vermocht, wie er schließlich im Jahre 1945 eingetreten ist. War das nur menschlicher Beschränktheit zuzuschreiben? Auch diese Warner sahen manche drohende Zeichen, die auf eine kommende Katastrophe hindeuteten. Aber indem sie sich sträubten, als unabwendbares Schicksal hinzunehmen, was wenige Jahre später zur schreckenvollen Wirklichkeit wurde, offenbarten sie ein besseres Gefühl für die Freiheit der Menschen, andrängende Gefahren abzuwehren, als die Systeme eines philosophischen oder ökonomischen Determinismus ihnen einzuräumen bereit sind.

Daß auf dem deutschen Volk Schwierigkeiten lasteten, daß örtliche und zeitliche, politische und wirtschaftliche Faktoren zusammenwirkten, um die Katastrophe heraufzuführen, die – wohlgemerkt – nicht im verlorenen Krieg, sondern im Rückfall in die als Nationalsozialismus getarnte Barbarei bestand, wird in diesem Buche ausführlich dargelegt. Aber an etlichen Wendepunkten stand trotz aller Ungunst der äußeren Verhältnisse die Möglichkeit zu anderer Entscheidung offen. Der soziale Determinismus, selbst in dem Umfange, in dem man ihn für die Vielen anerkennen mag, findet seine natürliche Grenze an der inneren Freiheit der Wenigen. Die sichtbare, Symbole schaffende Entschlossenheit der Träger geistiger und sittlicher Verantwortung hätte genügt, um dem Geschehen eine andere Richtung zu geben. Aber die Wenigen versagten. Nur Einzelne, Vereinzelte wagten es, Widerstand zu leisten; sie konnten aus der Öffentlichkeit entfernt und zum Schweigen gebracht werden, ohne daß ihr Fehlen das Leben der Gemeinschaft so aus den Fugen geraten ließ, wie es bei dem Ausfall einer ganzen Gruppe unvermeidlich hätte geschehen müssen. Die Vielen schließlich verfielen im Widerstreit der Gefühle fast ohne Ausnahme dem Hang zum Bequemen, das das Böse nach sich zog, statt sich zum Schwierigen und Guten aufzuraffen. Wurden sie übertölpelt? Oder haben sie sich schuldig gemacht? Wie immer die Antwort ausfällt: sie wird einen erheblichen Teil des deutschen Volkes von der Verantwortung nicht freisprechen können.

Diesem umfassend grundsätzlichen Sachverhalt sei ein engerer untergeordnet. Es wird in diesem Buche festgestellt werden, daß unter den im Nationalsozialismus wirkenden Massenreizen der Antisemitismus nicht die entscheidende Rolle spielte. Im besonderen habe nur ein verschwindend kleiner Kreis derer, die dem Nationalsozialismus zum Erfolge verhalfen, ihm damit ein Mandat zur Vollstreckung der Judenvernichtung zu geben beabsichtigt. Auch für diese Auffassung, die das Ergebnis eingehender Prüfung ist, gilt die Warnung, sie nicht als Entschuldigung aufzufassen. Es ist gewiß kein Anlaß, sich entlastet zu fühlen oder gar stolz darauf zu sein, daß die 17 277 200 Deutschen, die am 5. März 1933 ihre Stimmen der Nationalsozialistischen Partei gegegeben haben, damit keineswegs ausgezogen sind, die Juden zu ermorden. Viel eher haben diese 17 Millionen und ihre Gesinnungsfreunde ausreichend Grund, sich der Blindheit und schlimmeren Versagens anzuklagen; denn durch ihre Wahl hatten sie sich mit Demagogen eingelassen, die aus ihrer Neigung zu Gewalttaten nie ein Hehl gemacht hatten, und deren Hemmungslosigkeit auf der abschüssigen Bahn des Verbrechens längst hätte erkannt sein müssen. Es sollte für niemanden ein Anlaß zur Selbstzufriedenheit sein, daß ihm zwar nicht Mordlust, wohl aber moralische Trägheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen nachgewiesen wird. Als ob man „nationale Ideale“, wo immer diese unter der Wählerschaft ernstgenommen wurden, Händen hätte anvertrauen dürfen, die von wilder Angriffslust getrieben wurden und nicht von liebender Zucht gelenkt!

Man wollte nicht morden – damals. Man war nur träge, gleichgültig, fahrlässig. Aber dann wurde gemordet. Trägheit, Gleichgültigkeit, Fahrlässigkeit hatten das Beil in die Hand des Henkers gleiten lassen. Schmachvolle Unterdrückung war das Los derer geworden, die in der Wahl ihrer „Befreier“ so schuldhaft geirrt hatten.

1945 erfuhr die Welt mit Entsetzen, was in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten geschehen war. Jetzt standen vor allen Deutschen die Zeugnisse eines Grauens, das viele vorher nur dumpf geahnt hatten. 1945 herrschten Hunger, Obdachlosigkeit und Massenelend; aber eines gab es wieder, das den Deutschen zwölf Jahre versagt gewesen war: das freie Wort.

Da ich mir eingangs die Freiheit ausdrücklich erbeten habe, in diesem Vorwort meine persönliche Meinung aussprechen zu dürfen, will ich ohne Rückhalt sagen: mir scheint, die Deutschen hätten die Freiheit des Wortes nicht genügend genutzt, um von dem Verbrechen an den Juden zu sprechen. Bruchstückhafte Kunde, die während des Krieges aus Deutschland zu dem angsterfüllten Beobachter im Ausland gedrungen war, hatte Besseres erhoffen lassen. Nun horchten wir erwartungsvoll. Aber der Aufschrei des Entsetzens über das grauenhafteste Verbrechen, das je das Antlitz des Menschen entstellt hat, – der Aufschrei blieb aus. Stimmen ertönten, ergreifende Stimmen der Klage und der Anklage. Keine von ihnen ist ungehört verhallt, keine wird vergessen werden.* Das Volk aber blieb stumm. Zu viele Menschen, deren Ruf auch die Lauen hätte mitreißen können, verharrten in Schweigen. Worte wären damals Taten gewesen. Trotz Wirrnis und Verlorenheit im Äußeren galt es damals, Grundsteine für ein neues Deutschland zu legen, auf denen verläßliche Mauern hätten errichtet werden können, sobald das Chaos gebannt war.

Später wurde manches Versäumte nachgeholt. Es blieb nicht nur bei Worten, von denen einige besonders starke und aufrichtende vom Staatsoberhaupt, Professor Theodor Heuss, gesprochen wurden; es wurde ein Wiedergutmachungswerk ins Leben gerufen, das den Überlebenden der Katastrophe einen Teil des materiellen Schadens ersetzen soll, der ihnen zugefügt worden ist. Die deutsche Bundesrepublik besaß jetzt eine gewählte Vertretung, die für das Volk sprechen konnte. Wirklich für das Volk? Der Zweifel daran will nicht zur Ruhe kommen.

Ich weiß um alle Gründe, die dem spontanen Aufschrei des Entsetzens entgegenstanden. (Er hätte nicht in ein Bekenntnis der „Kollektivschuld“ überzugehen brauchen, die in einem primitiven Sinne nicht vorlag, und der in einem tieferen Sinne nachzuspüren, nicht jedermanns Sache sein kann.) Ich weiß um die Zerrüttung der äußeren Lebensbedingungen jener Nachkriegsjahre, weiß auch um die psychologischen Mechanismen des Selbstschutzes, die sich hemmend einzustellen pflegen, wo bei strenger Selbstprüfung die Gefahr der Zerknirschung unabwendbar wäre. Aber wieder bleibt trotz allem Verstehen ein schmerzendes Gefühl der Enttäuschung. Sollten wirklich Gleichgültigkeit und Trägheit des Herzens – die Laster, durch die die Deutschen in Schuldverstrickung geraten sind, – auch das neue Deutschland wieder heimsuchen?

Stimmen, meist lautstark und unentwegt vorgetragen, die heute schon wieder die „Endlösung der Judenfrage“ aus „nationalen“ Gründen zu verteidigen suchen oder versichern, daß „nur“ eineinhalb Millionen Juden ermordet worden seien, sprechen keine menschliche Sprache, die sie uns verständlich machen könnte. Deutlicher schon dringen jene verhaltener vorgebrachten Worte zu uns, die das Schreckliche „aufzurechnen“ sich unterfangen gegen die Leiden des eigenen Volkes. Am mißtönendsten aber gellen uns die Untertöne der Verlegenheit ins Ohr, die dort hörbar werden, wo man sich erst über das geschehene Unrecht entrüstet, um dann etwa fortzufahren: „Aber Sie müssen doch zugeben …“ Was in einem Gespräch, das diesen Verlauf nimmt, „zugegeben werden muß“, ist in der Regel der unbewältigte und unbereinigte Bodensatz der Unlustgefühle gegenüber den jüdischen Mitbürgern von einst, die damals der Nationalsozialismus so meisterhaft zusammenzuballen verstand, bis sie die Bausteine lieferten für seine Todesfabriken. Wer mit einem säuberlich auseinandergesetzten „Zwar – Aber“ mit sich selbst ins reine zu kommen versucht, billigt gewiß nicht den Mord; aber er billigt – in individueller Abstufung – die Voraussetzungen, die zum Morde geführt haben: Entrechtung, Berufsentziehung, Austreibung. Manchmal will es scheinen, als dröhne durch Deutschland heute noch – oder wieder – ein Chor gebrochener Stimmen, die sich zu rechtfertigen suchen, wo ein erschüttertes Schweigen oft lauter spräche als alle Argumente erklügelter Scheinlogik. Und doch gibt es auch das, das erschütterte Schweigen. Und es gibt die leisen Worte der Klage, die der Mensch zu sich selbst spricht und die nicht dazu bestimmt sind, Eindruck zu machen auf eine weite Öffentlichkeit. In ihnen bedarf es nicht der Verdammung der Gewalttaten; das schaudervolle Entsetzen, das sie erregten, zeigte sie doch niemals als eine mögliche Verirrung der eigenen Seele. Viel schwerer als die selbstherrliche Abwehr kapitaler Verbrechen ist die Prüfung der eigenen Schwäche, die etwa zu solchem Ergebnis führt: „Wir waren bequem und gleichgültig. Der Wille zur Freiheit lebte nicht in uns, und wir wußten nicht mehr, was Recht ist. Wir fühlten, daß unser Leben verarmt ist, weil wir unsere jüdischen Mitbürger entbehren: wir vermissen sie als Anreger im Geistigen und Wirtschaftlichen, als Menschen, die schon dadurch, daß sie wie wir und doch andersartig waren, uns eine ständige Mahnung hätten bedeuten sollen zum Fortschritt in der Gestaltung menschlicher Beziehungen, zu Rechtlichkeit und Menschlichkeit. Wir haben die Mahnung damals nicht gehört zu unserer Schande und zu unserem Schaden. Daß wir sie nicht mehr in unserer Mitte hören dürfen, beklagen wir als schmerzlichen Verlust.“