Mühlviertler Rache

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»Daran habe ich auch schon gedacht«, antwortete Stern genauso leise und sah, dass seine Enkel wieder mit ihren Handys beschäftigt waren. Dieses Mal wollte er sie deswegen nicht rügen. Er war froh, weil Grünbrecht und er dadurch den Fall diskutieren konnten. »Vielleicht ist der Täter noch einmal zurückgekehrt und wollte sehen, wie der Zug die Angelegenheit für ihn erledigt hat. Vielleicht hat er aber auch bloß seine Meinung geändert und zusehen wollen. Oder er hat etwas am Tatort vergessen und musste deshalb zurück.«

»Dafür gibt es viele Möglichkeiten.« Grünbrecht nippte nachdenklich an ihrem Mineralwasser.

Der Kellner kam und fragte nach Sterns Wünschen. »Eine Salamipizza für den jungen Sheriff und für mich bitte eine, auf der von allem etwas drauf ist. Außer Gemüse. Und ein Bier, bitte. Tobias, was magst du trinken?«

Der Junge sah nicht einmal von seinem Handy auf. »Eine Cola.«

»Und eine Cola, bitte«, wiederholte Stern.

»Mama erlaubt nicht, dass wir Cola trinken«, mischte sich Melanie ein. Stern blickte auf das Glas seiner Enkelin, in dem eine einsame Zitronenscheibe am Boden austrocknete, und sagte: »Heute schon!«

»Dann will ich auch eine Cola haben!« Melanie lächelte ihren Großvater erwartungsvoll an. Der hob die Hand und deutete mit zwei ausgestreckten Fingern in Richtung des Kellners: »Zwei Cola, bitte.«

Die Kinder grinsten einander an. So schlecht war es beim Opa gar nicht, schienen sie zu denken, und dasselbe dachte auch Stern. Mit sich und der Welt zufrieden wandte er sich wieder Grünbrecht zu.

»Nehmen wir mal an, dass der Koffer unserem Toten gehört hat, einem gewissen Dr. Jonas Belfuss, Rechtsanwalt in Freistadt, dann sollten wir zuerst seine aktuellen Fälle durchgehen, ob jemand Grund zur Rache gehabt hat.«

»Und natürlich sehen wir uns das familiäre Umfeld an. Bei der Mehrzahl aller Verbrechen handelt es sich um Beziehungstaten«, ergänzte Grünbrecht.

»Also, die Ehefrau möchte ich sehen, die ihren Mann auf diese Weise tötet. Frauen greifen doch eher zu ›sauberen‹ Methoden wie Gift zum Beispiel, als dass sie so ein Blutbad anrichten.«

»Frauen töten vielleicht anders …« Das Erscheinen des Kellners ließ Grünbrecht mitten im Satz innehalten. Der Kellner servierte die Pizzen für Stern und Tobias und verschwand wieder. Stern, der erst jetzt bemerkte, wie hungrig er war, schnitt ein großes Stück ab und steckte es sich in den Mund. Grünbrecht nutzte die Gelegenheit, um ihre Gedanken loszuwerden. »Auf alle Fälle ist es ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen. Oder Rache. Der Täter wollte, dass das Opfer leidet, bevor es stirbt. Zwar sollte es keine körperlichen Qualen erleiden, aber seelische.«

»Da haben Sie recht«, schmatzte Stern.

»Opa hat gesagt, ich bekomme einen Sheriffstern«, unterbrach Tobias das Gespräch der Erwachsenen und sah freudestrahlend von einem zum anderen.

»Toll«, meinte Grünbrecht und nahm einen Schluck Mineralwasser aus ihrem Glas. »Also bist du unser Hilfssheriff, verstehe ich das richtig?«

Tobias lachte. »Na klar!«

»Und du? Was machst du?«, fragte Grünbrecht Melanie.

»Ich interessiere mich nicht für die Toten«, antwortete die Zwölfjährige und legte ihr Handy beiseite. »Ich möchte mal in der Werbung oder in einem Zoo arbeiten. Ich weiß es noch nicht so genau.«

»Melanie liebt Meerschweinchen, aber Mama kauft ihr keines«, platzte Tobias mit vollem Mund heraus. »Sie sagt, das Meerschweinchen würde bei Melanie elendig verhungern.«

»Würde es nicht!«, fauchte Melanie.

»Würde es doch.« Tobias steckte sich ein weiteres Stück Pizza in den Mund und freute sich, dass es ihm gelungen war, seine Schwester zu necken.

»Du bist gemein«, zischte die ihm zu, bevor Grünbrecht eingriff, was eigentlich Sterns Sache gewesen wäre. Doch der hatte den Mund voll.

»Streitet euch nicht! So ein Haustier ist eine coole Sache. Ich hab einen Kanarienvogel gehabt, als ich in eurem Alter gewesen bin.«

»Echt?« Melanies Augen leuchteten und Grünbrecht nickte.

Indessen hatte Stern seinen Teller leer gegessen und machte sich über die Reste von Tobias’ Pizza her, was ihm einen prüfenden Blick von Grünbrecht im Hinblick auf seine Leibesfülle einbrachte, die zugegeben ein bisschen zu ausladend war. Doch davon ließ sich Stern nicht beirren. Während die Gruppeninspektorin die Vorzüge der Haltung eines Kanarienvogels gegenüber der eines Meerschweinchens erläuterte, aß er zu Ende und spülte mit dem letzten Schluck Bier den Mund aus. Dann warf er einen Blick auf die Armbanduhr. Es war bereits nach acht. »Es ist ein langer Tag gewesen. Die Kinder müssen ins Bett.«

Grünbrecht kramte in ihrer Tasche nach der Geldbörse.

»Lassen Sie mal, ich übernehme das«, sagte Stern. »Das ist das Mindeste, wo Sie sich doch um Melanie gekümmert und sie vor dem sicheren Hungertod gerettet haben.«

»Danke.« Grünbrechts Blick war nun freundlicher. Sie war auch nicht mehr so schlecht gelaunt wie vorhin, als Stern und sein Enkel die Pizzeria betreten hatten.

»Nein, ich habe zu danken.« Stern war tatsächlich froh, dass er sich auf seine junge Kollegin verlassen konnte, selbst bei Angelegenheiten, die nichts mit einem Fall zu tun hatten, wie die Situation mit Melanie bewies. Der Chefinspektor zahlte die Zeche. Gemeinsam verließen sie das Monte Verde, nicht ahnend, dass der nächste Tag, also der Sonntag, im wahrsten Sinne des Wortes ein Tag werden würde, an dem man Gott gut gebrauchen konnte.

4. Kapitel

»Opa! Es kommt schon in den Nachrichten!«, rief Tobias im Wohnzimmer auf der Couch vor dem Fernseher sitzend.

»Wa…?« Stern blinzelte. Es war Sonntag, das wusste er. Und sie hatten einen neuen Fall, auch diese Erkenntnis drängte sich schleichend in sein nur langsam erwachendes Bewusstsein.

»Oooopaaaa!«

Es dauerte eine Weile, bis Stern gänzlich wach war und den Rufer als seinen Enkel identifizierte. Natürlich, die Kinder waren übers Wochenende bei ihm, weil Barbara zu ihrer Mutter nach Graz gefahren und sein Schwiegersohn Stefan in Schweden auf Dienstreise war. Ein Blick auf den Wecker am Nachttisch ließ ihn wissen, dass es 9 Uhr morgens war. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund. In seinem Alter sollte man abends halt keine mit Fett und Kalorien überladene Pizza mehr essen. Sein Magen schien heute noch dagegen rebellieren zu wollen.

»Ich komm ja«, brummte er, schlug die Decke zur Seite und schlüpfte in seine Hose, die er gestern Abend über eine Stuhllehne gehängt hatte. Zuvor hatte er lange kindgerecht mit Tobias über den Fall geredet, in der Hoffnung, dass er den Anblick des Toten daraufhin besser verarbeiten konnte. Und natürlich auch, dass er dann seiner Mutter nichts von alldem erzählte.

»Ich bin im Fernsehen!«, quiekte Tobias im Wohnzimmer.

Sofort war Stern hellwach. Was hatte sein Enkel eben gesagt? Dass er im Fernsehen sei? Wie zum Henker …? Stern stürzte aus dem Schlafzimmer, um den Bericht im Fernsehen mitverfolgen zu können. Und tatsächlich! In einer Großaufnahme, die bestimmt mit einem Teleobjektiv von der Brücke aus aufgenommen worden war, waren er und Tobias zu sehen, wie sie vom Tatort weggingen, im Hintergrund der Leichenwagen, das Rettungsfahrzeug und unzählige Polizisten. Barbara würde ihn umbringen, wenn sie …

Sterns Handy klingelte. Er fuhr herum und starrte auf das am Küchentisch liegende Gerät, das ihn vibrierend und eine Melodie abspielend anklagte, gegen sämtliche Regeln seiner Familie verstoßen zu haben.

»Willst du nicht rangehen?«, fragte Tobias. »Vielleicht gibt es etwas Neues in unserem Fall.«

Hatte sein Enkel eben tatsächlich »in unserem Fall« gesagt? Wann hatte er, Stern, die Kontrolle über die Großvater-Enkelkinder-Situation verloren? Gestern Abend hatten sie noch gemeinsam einen Sheriffstern gebastelt, aus Karton, ihn ausgeschnitten und mit Silberfarbe angemalt. Sogar Melanie war begeistert gewesen und hatte gelacht wie schon lange nicht mehr. In jüngster Zeit starrte sie ja pausenlos auf ihr Smartphone. Und wenn nicht, hing sie gelangweilt herum und glotzte Löcher in die Luft. Danach, so zwischen 21 und 23 Uhr, musste es wohl passiert sein.

Stern nahm das Handy und blickte auf das Display. Grünbrecht. Er wischte und hielt sich das Gerät an sein Ohr. Erleichtert, wie er feststellte, weil Barbara nicht dran war.

»Stern«, meldete er sich.

»Guten Morgen, Chef. Es gibt Neuigkeiten. Wir wissen, wer das Opfer ist. Die Fingerabdrücke auf dem Aktenkoffer stimmen mit denen von der linken Hand, die wir gefunden haben, überein, genauso wie jene auf dem Handy. Außerdem haben wir auf dem Smartphone Fotos von unserem Toten entdeckt. Es ist Dr. Jonas Belfuss.«

»War er verheiratet?«

»Ja. Und er hatte zwei Kinder.«

»Wie alt?«

»Zehn und zwölf. Zwei Mädchen.«

Scheiße, fluchte Stern innerlich.

»Waren noch andere Fingerabdrücke auf dem Koffer?«, fragte er.

»Nein. Der Täter hat wahrscheinlich Handschuhe getragen.«

»Gut, ich komme in einer halben Stunde … oder so. Dann fahren wir zur Witwe. Kolanski und Mirscher sollen einstweilen das Umfeld des Opfers checken.« Stern fiel auf, dass es in der Leitung klopfte. Ein weiterer Anruf. »Warten Sie, Grünbrecht. Da ruft einer an.« Stern nahm das Handy vom Ohr und warf einen Blick auf das Display. Barbara! »Es tut mir leid, ich muss auflegen. Ich melde mich wieder.« Stern beendete das Telefonat mit der Gruppeninspektorin und stellte die Verbindung zu seiner Tochter her. »Barbara …«

»Papa!«, fiel Barbara ihrem Vater ins Wort. »Wie konntest du die Kinder zu einem Tatort mitnehmen? Und streite es nicht ab, ich hab’s gerade im Fernsehen gesehen!«

 

»Es tut mir leid, aber es ging nicht anders, weil …«

»Es geht immer anders, Papa! Man muss nur Prioritäten setzen, und die wären dieses Wochenende Tobias und Melanie gewesen.« Es war nicht zu überhören, dass Barbara stinksauer war. Ihrer Stimme nach zu urteilen, würde sie ihn glatt erschießen oder vierteilen. Oder beides zusammen. Sie war wütend, weil sie sich wieder einmal nicht auf ihren Vater hatte verlassen können.

»Barbara …«

»Wo sind die Kinder momentan?« Barbara ließ Stern nicht ausreden. Das Temperament hatte sie von ihrer Mutter, dachte er, wie auch die Zuversicht, dass es irgendwann doch mal klappen könnte, dass die Dinge sich entwickelten, wie sie sich das vorstellte. Doch an ihrem Vater biss sie sich oftmals die Zähne aus. Der war, wie er war, und würde sich nicht ändern. Nicht mehr, oder nicht jetzt, wo er nur noch ein paar Jahre zur Pensionierung hatte.

»Die Kinder sind bei mir …«

»Und wo seid ihr?«, hakte Barbara nach. Es konnte ja durchaus sein, dass Stern sie erneut an einen Tatort geschleppt hatte.

»Bei mir in der Wohnung …«

»Gut! Dort bleibt ihr und rührt euch nicht von der Stelle. Ich bin in drei Stunden bei euch.«

»Aber …«

»Papa!«

»Schon gut«, gab Stern klein bei. Die Zeit, um sich zu streiten, hatte er nicht. »Wir sehen uns dann.«

»Bis später.«

Stern legte das Handy auf den Tisch und verschwand im Badezimmer. Von dort rief er den Kindern mit Zahnpasta im Mund zu, dass sie sich ebenfalls fertig machen sollten.

»Mama hat doch sicher gesagt, dass wir hier auf sie warten müssen«, rief Melanie zurück, und Stern dachte, dass die kleinen Bälger wieder alles mitbekommen hatten.

»Wir haben noch rasch etwas zu erledigen. Eure Mutter kommt erst in drei Stunden …«

»Also um 12 Uhr«, rechnete Tobias aus.

Stern stand mit der Zahnbürste in der Hand im Türrahmen und erteilte Befehle. »Genau, um zwölf. Tobias, du behältst die Uhr im Auge und passt auf, dass wir die Zeit nicht übersehen. Melanie, du behältst Tobias im Auge und passt auf, dass er … die Uhr nicht aus den Augen verliert. Wir müssen um 12 Uhr wieder hier sein.«

»Ach, Opa!«, begehrte Tobias sofort auf. »Das kann ich doch allein! Ich bin ja kein Baby mehr.«

Melanie kicherte und stupste ihren Bruder an.

»Ich weiß, dass du kein Baby mehr bist«, nuschelte Stern mit dem Mund voll Zahnpasta. »Melanie ist nicht dein Babysitter, sie ist dein Hilfssheriff.«

Nun strahlte Tobias, und Melanie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Doch anstatt zu protestieren, äußerte sie sich wohlbedacht: »Du, Opa, was bekommen wir dafür, wenn wir dich wieder einmal nicht bei Mama verpetzen?« Kumpelhaft hieb sie Tobias in die Seite, der anerkennend nickte und seine große Schwester anlächelte.

Stern brauchte eine Weile, um auf die Forderung zu reagieren. »Eine Pizza?«, fragte er.

»Die hatten wir doch gestern schon«, sagte Tobias in einem Tonfall, der erstens verriet, dass er mit seiner Schwester ausnahmsweise einer Meinung war, und zweitens anklingen ließ, was er von diesem Vorschlag hielt – nämlich schlichtweg gar nichts.

»Cola?« Stern kam aus dem Badezimmer und sah seine Enkelkinder an, die brav nebeneinander auf der Couch saßen, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Dass ihre Vorgangsweise im strafrechtlichen Sinn schlicht und einfach Erpressung war, kam ihnen offensichtlich nicht in den Sinn.

Melanie rollte bei dem mickrigen Angebot einer Cola mit den Augen. »Und mit der Grottenbahn brauchst du uns auch nicht zu kommen. Die ist sowieso noch immer ausständig.«

»Kino! Wir wollen ins Kino!«, platzte Tobias heraus.

»Das ist eine gute Idee, Tobi!«, sagte Melanie zu ihrem Bruder. Und an Stern gewandt verkündete sie: »Wenn wir das nächste Mal bei dir sind, gehen wir nicht auf einen doofen Spielplatz, sondern ins Kino und schauen uns irgendeinen coolen Film an.«

»Mit Popcorn und Cola!«, jubelte Tobias, obwohl Stern seine Zusage bislang nicht erteilt hatte. Doch was blieb ihm anderes übrig? Wenn er heute ins Büro wollte – und ja, verdammt, das wollte er, und zwar so schnell wie möglich –, hatte er gar keine andere Wahl, als sich der kindlichen Erpressung hinzugeben. Er, der leitende Chefinspektor der Mordgruppe des Landeskriminalamtes Oberösterreich.

»Also gut.«

»Yeah!«, rief Melanie und hielt ihrem Bruder die Hand hin. Der schlug ein und grinste Stern unschuldig an.

»Macht euch fertig!« Stern verschwand im Schlafzimmer und kleidete sich an. Dabei ließ er die Szene, die eben in seinem Wohnzimmer abgelaufen war, Revue passieren. Er lächelte. Seine Enkelkinder hatten es faustdick hinter den Ohren. Aus ihnen würde mal etwas werden, dachte er zufrieden, keine Jammerlappen, die alles mit sich machen ließen, sondern echte Kämpfer.

Fünf Minuten später saßen sie in Sterns Wagen und fuhren zur Dienststelle in der Nietzschestraße. Als Stern die Büroräumlichkeiten mit seinen Enkelkindern betrat, war die Überraschung der Kollegen groß. Es würde schwer werden, mit ihnen als Anhängsel einen Mordfall zu lösen, schienen sie einhellig zu denken. Stern bemerkte es und sagte: »Keine Bange, ihre Mutter holt sie zu Mittag ab.«

In diesem Augenblick tauchte Bormann, der Leiter des LKA, in der Tür auf und redete sogleich los: »Sie hatten recht, Stern, was die Identität des Opfers angeht. Gut, dass Sie den Aktenkoffer gefunden haben. Das erspart uns langwierige DNA-Analysen und somit Kosten. Die Dienststelle wird ohnedies stets angehalten, Geld einzusparen. Gibt es sonst etwas Neues?« Bormann stellte sich breitbeinig vor die Kollegen und blickte in die Runde. Erst jetzt fielen ihm die Kinder auf, die halb verdeckt hinter Stern hervorlugten. Sofort veränderte sich seine Haltung. »Was ist das denn?«, fragte er mit dem Kinn in ihre Richtung deutend.

»Wer ist das denn, wenn schon«, korrigierte Grünbrecht den Dienststellenleiter. »Das sind schließlich Kinder und keine Ware.«

Bormann, der seine Frage nicht zu wiederholen gedachte und Grünbrechts Einwand ignorierte, wartete auf eine Antwort.

»Das sind meine Enkelkinder«, erklärte Stern. »Sie bleiben nicht lange, ihre Mutter holt sie bald ab. Und nein, es gibt nichts Neues.«

»Aha«, gab Bormann zögerlich von sich. Offensichtlich brachte ihn die Anwesenheit der Kinder aus dem Konzept. Er konnte ja schlecht in ihrer Gegenwart über Mord und Totschlag sprechen, schon gar nicht über einen derart brutal ausgeführten Mord wie jenen im Mühlviertel. Wippend stand er in der Tür. Da keiner mehr etwas sagte, wandte er sich ab und verschwand.

»Also, was wissen wir über unser Opfer?«, fragte Stern. Als er die zögernden Blicke der Kollegen bemerkte, schickte er Tobias und Melanie in sein Büro. Tobias murrte, folgte aber seiner Schwester hinaus in den Flur und ließ die Tür hinter sich laut ins Schloss fallen.

»Dr. Jonas Belfuss, verheiratet, 42 Jahre alt, Rechtsanwalt für Strafrecht in Freistadt. Seine Frau hat ihn heute als vermisst gemeldet.« Grünbrecht blätterte in einer Akte auf ihrem Schreibtisch.

»Wieso erst heute?«, fragte Mirscher.

»Dafür kann es vielerlei Gründe geben. Vielleicht eine Dienstreise ihres Mannes, eine Ehekrise … Was wissen wir über sie?«, hakte Stern nach.

»Alexandra Belfuss, 41 Jahre, ist zu Hause bei den Kindern«, las Mirscher von seinem Monitor ab.

»Hat ihr schon jemand die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht?«

Die Kollegen schüttelten die Köpfe. »Das darfst du machen«, sagte Kolanski und klopfte mit einem Kugelschreiber auf die Tischplatte.

»Na gut. Grünbrecht, wir beide statten der Witwe einen Besuch ab. Mirscher, Kolanski, ihr holt euch einen Durchsuchungsbefehl und fahrt in die Kanzlei von diesem Dr. Belfuss. Seht nach, an welchen Fällen er aktuell gearbeitet hat«, wies Stern die Kollegen an, stand auf und machte sich zum Gehen bereit.

»Wo sollen wir am Sonntag einen Durchsuchungsbefehl herbekommen?«, warf Mirscher ein.

»Mir egal. Klingelt einen Richter aus dem Bett. Wenn wir arbeiten müssen, kann so einer ja wohl zumindest einen Durchsuchungsbefehl unterzeichnen.«

»Und was ist mit den Kindern?«, fragte Grünbrecht.

Stern blieb augenblicklich stehen. »Scheiße!« Die hatte er in der Eile völlig vergessen. Hastig sah er auf die Uhr: 9:45. Um zwölf musste er mit den Kindern wieder in seiner Wohnung sein. Das wurde knapp, ging sich aber aus.

»Die nehmen wir mit. Grünbrecht, Sie fahren!« Stern warf ihr über die Tische hinweg seinen Autoschlüssel zu. Würde er den Audi nach Freistadt lenken, wären sie selbst zum Abendessen nicht zurück. Doch wenn Grünbrecht hinterm Steuer saß, würden sie die Strecke in kürzester Zeit schaffen.

»Ja, Chef!« Die Gruppeninspektorin fing den Schlüssel, stand auf und spazierte Po wackelnd an den Kollegen Mirscher und Kolanski vorbei, die ihr mit offenem Mund hinterherstarrten. Jedoch nicht wegen ihres aufreizenden Ganges, sondern weil Stern bislang noch nie jemanden mit seinem Audi A6 hatte fahren lassen.

*

Augenblicke später brauste der Audi auf der A7 mit zwei vergnügten Kindern auf der Rücksitzbank aus Linz hinaus Richtung Freistadt. Vor dem Anwesen der Witwe Belfuss in der Lindenstraße hielten sie mit quietschenden Reifen.

»Ihr bleibt im Wagen sitzen«, sagte Stern zu seinen Enkelkindern, die dieses Mal, ohne zu widersprechen, seiner Anweisung nachkamen. Anscheinend spürten sie, dass das nun Folgende für keinen sehr angenehm wurde.

Stern drückte die Klingel neben der Haustür. Grünbrecht sah sich die Villa von außen genauer an, die in moderner Architektur errichtet worden war. Nüchterne Bauweise, jede Menge Metall und Glas. »Nicht schlecht. So möchte ich auch mal wohnen.«

Im Haus waren Geräusche zu hören. Stern machte sich bereit, der Witwe gegenüberzutreten. Selbst nach vielen Jahren als Chefinspektor im LKA fiel es ihm nicht leicht, Todesnachrichten zu überbringen. Das Leid der Hinterbliebenen fing im Gegensatz zu jenem der Toten erst zu diesem Zeitpunkt an. Nicht selten schlug das augenblickliche Entsetzen wegen des gewaltsamen Todes des geliebten Menschen in Wut um, die sich gegen den Überbringer der Nachricht richtete. Jemand näherte sich der Tür. Sie schwang auf und Stern starrte auf ein Mädchen etwa in Melanies Alter.

»Ist deine Mutter zu Hause?«

»Ich hol sie.« Das Mädchen verschwand, eine Minute später stand eine gut gekleidete Frau um die 40 vor den Kriminalbeamten.

»Ja?«

»Frau Belfuss?«, fragte Stern.

Sein Gegenüber nickte.

»Ich bin Chefinspektor Oskar Stern vom Landeskriminalamt Oberösterreich. Das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Dürfen wir reinkommen?«

»Geht es um meinen Mann?«, fragte die Witwe, die selbst noch gar nicht wusste, dass sie verwitwet war.

»Ja. Sie haben ihn heute als vermisst gemeldet.«

»Das habe ich. Kommen Sie.« Die Frau trat zur Seite und ließ die Kriminalbeamten ein. Aus dem ersten Stockwerk drang laute Musik zu ihnen herab. Wahrscheinlich hatten die Mädchen oben ihre Zimmer, die hoffentlich farbenfroher gestaltet waren als das Erdgeschoss, dachte Stern. Der Flur war weiß getüncht und kaum ein Möbelstück befand sich darin. Schwarz-Weiß-Fotos von irgendwelchen Landschaften mit dünnen schwarzen Rahmen hingen an den Wänden. Der Boden war mit großformatigen grauen Fliesen ausgelegt. Der Flur wirkte edel, aber kühl. Zu kühl für Stern, der es lieber rustikal mochte, auch wenn er ein Stadtmensch war.

Alexandra Belfuss führte ihn und Grünbrecht in das Wohnzimmer, das ebenso nüchtern wie elegant eingerichtet war. Über einer hellbeigen Ledercouch hing der einzige Farbklecks in diesem Raum: ein abstraktes Kunstwerk. Ein wenig Rot mit Grün und Gelb vermengt. Dazwischen schwarze und weiße Linien. Stern hatte nicht den blassesten Schimmer, was es darstellen sollte, zerbrach sich aber nicht weiter den Kopf darüber.

»Also, was ist nun mit meinem Mann?«, fragte die Frau, als erwartete sie, dass er etwas angestellt hatte.

»Frau Belfuss, wir müssen Ihnen eine schreckliche Mitteilung machen. Wir haben Ihren Mann tot aufgefunden«, überbrachte Stern die traurige Nachricht.

Die Frau starrte den Chefinspektor an und sagte nichts, weinte auch nicht. Wahrscheinlich erlitt sie gerade einen Schock, dachte Stern.

»Wollen Sie sich nicht setzen und einen Kaffee trinken?«, fragte sie stattdessen.

Stern war verblüfft. Er hatte schon viele Menschen unterschiedlich auf Todesnachrichten reagieren sehen. Tränen. Wutausbrüche. Weigerungen, das Offensichtliche zur Kenntnis zu nehmen. Gespielte Trauer und Krokodilstränen. Doch eine derartige Kühle, wie sie Frau Belfuss an den Tag legte, war ihm selten untergekommen. Genauso kühl wie das Haus, schoss es ihm durch den Kopf.

 

»Gerne«, nahm er das Angebot an, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. Grünbrecht zuckte mit den Schultern, ihr war die reservierte Reaktion natürlich ebenfalls aufgefallen. Stern folgte der Witwe in die Küche, die sich dort an der Espressomaschine zu schaffen machte.

»Milch? Zucker?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen, als gäbe es nichts Wichtigeres, als den gewünschten Kaffee zubereiten zu können.

»Schwarz, bitte.«

»Für mich mit Milch, bitte«, rief Grünbrecht aus dem Wohnzimmer.

Die Espressomaschine gab surrend eine braune Brühe frei, die in zwei blütenweiße Porzellantassen floss. Wenig später stellte Alexandra Belfuss diese auf dem Wohnzimmertisch ab und schob Grünbrecht ein Milchkännchen zu. Bislang war kein weiteres Wort über den Tod des Hausherrn gesprochen worden, was Stern nach einem Schluck aus der edlen Tasse nachhaken ließ.

»Sie wirken sehr gefasst, Frau Belfuss«, sagte er an die ihm gegenübersitzende Witwe gewandt.

Die Frau seufzte, stellte ihre Kaffeetasse ab und sah zuerst Stern, dann Grünbrecht an. »Ich könnte Ihnen jetzt die trauernde Witwe vorspielen, wenn Sie möchten. Das brächte aber weder Sie noch mich ein Stück weiter.« Erneut griff sie zur Tasse, nippte daran und stellte sie zurück auf den Tisch. Die kurzen Abstände zwischen dem Kaffeetrinken waren ein Zeichen für Stern, dass sie der Tod ihres Mannes nicht so kaltließ, wie sie vorgab. Stern schwieg, weil er wollte, dass die Frau weiterredete. »Mein Mann ist ein richtiges Arschloch gewesen«, sagte sie und schaffte es damit, Stern erneut zu überraschen. Die derbe Ausdrucksweise passte so gar nicht zu ihrem vornehmen Gehabe, den langen, in glänzenden Nylonstrümpfen steckenden Beinen und dem hellblauen Kostüm, welches man zu Hause wohl nur selten trug. Anscheinend hatte ihr Auftauchen sie vom Ausgehen abgehalten. »Wir leben seit Jahren nur noch im gemeinsamen Haus, weil wir auf dem Papier verheiratet sind. Uns verbinden lediglich das Geld und die Kinder.«

Stern fiel sofort die Reihenfolge der genannten Gründe ein. Das Geld kam vor den Kindern. Aber es schien, als spie die Frau etwas Giftiges aus, was ihre Seele seit Langem verseuchte. Ihr Gesicht verzerrte sich schmerzvoll. Jedoch nicht wegen des Todes ihres Mannes, sondern wegen der Erinnerung an ihn, als er noch gelebt hatte.

»Das tut mir leid«, fühlte sich Stern bemüßigt zu sagen.

»Das braucht es nicht. Mein Mann und ich haben uns vor langer Zeit auseinandergelebt … Wie ist er denn gestorben?«

»Er wurde ermordet.«

»Himmel!« Die Bestürzung der Frau wirkte echt. Für einen Augenblick starrte sie Stern an, als hätte er sie gefragt, wann der nächste Bus zum Mond fuhr.

»Ich glaube nicht, dass der Himmel damit etwas zu tun hat«, schaltete sich Grünbrecht ein, der die Vernehmung zu langsam voranschritt. Da die Witwe nicht zu trauern schien, bedurfte es ihrer Meinung nach keiner Samthandschuhe.

»Ich dachte, er hätte einen Unfall gehabt«, sagte Belfuss sichtlich erschrocken.

»Keinen Unfall. Er wurde an Händen und Beinen an den Gleisen der Summerauer Strecke festgebunden und der nächste Zug hat ihn getötet.«

»Mein Gott!« Die Gesichtsfarbe der Frau wechselte trotz des dezent aufgelegten Make-ups in ein ungesundes Weiß.

Stern warf Grünbrecht einen rügenden Blick wegen ihrer harschen Vorgehensweise zu, der ausdrückte, dass sie sich ein wenig zurückhalten sollte. An Frau Belfuss gewandt fragte er: »Haben Sie eine Ahnung, wer Ihrem Mann das angetan haben könnte?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Gibt es jemanden, der ihm Böses wollte?«

»Ich«, flüsterte die Witwe.

»Soll das ein Geständnis sein?«, fragte Grünbrecht verblüfft. Damit hatten die Inspektoren nicht gerechnet.

»Nein, aber ich habe ein Motiv, wie ich Ihnen gerade erklärt habe. Wir haben uns nicht mehr geliebt. Mehr noch, ich habe meinen Mann verabscheut.« Die Witwe schien sich nach dem ersten Schrecken wieder gefasst zu haben.

»Fällt Ihnen außer Ihnen selbst noch jemand ein?«

»Sehen Sie seine Akten durch. Es gibt bestimmt Dutzende, die nicht gut auf ihn zu sprechen waren, wegen verlorener Prozesse und dergleichen. Mein Mann hat zu Hause selten über seine Arbeit gesprochen, und ich muss gestehen, es hat mich zuletzt nicht mehr interessiert, was er so getrieben hat. Im Gerichtssaal gehörte er nicht zu den Netten, wenn Sie wissen, was ich meine. Auch nicht im privaten Leben. Er hat alles vertreten, was einen Rock angehabt hat, hat alle Aufträge angenommen, die ihm lukrativ erschienen sind. Vielleicht ist einer unter den Ehemännern, der ihn …« Sie brach ab und redete nicht weiter. Es war ohnehin klar, was sie meinte.

»Warum war Ihr Mann, Ihrer Meinung nach, ein so unguter Zeitgenosse, wie Sie behaupten«, hakte Stern nach. Jetzt wollte er es genau wissen.

Die Frau lachte auf, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und faltete sie dann wie zum Gebet. »Wo soll ich anfangen?« Sie machte eine Pause, um die richtigen Worte zu finden. »Er hat mich betrogen. Seit Jahren. Ich hab ihn mehrmals zur Rede gestellt. Er hat mich nur ausgelacht und gemeint, dass sein Beruf das mit sich bringe. Sie müssen wissen, dass er Scheidungsanwalt gewesen ist und die armen vernachlässigten Ehefrauen oftmals Trost bei ihm gesucht haben. Denen war es egal, ob sie sich einem verheirateten Mann an den Hals werfen. Hauptsache sie hatten wieder einmal so richtig guten Sex. Mich hingegen hat er seit Jahren nicht angerührt.« Die Witwe sah aus dem Fenster, ihr Blick schweifte in die Ferne. Weit weg von dem modernen Haus und weit weg von ihrem wunderschönen, gepflegten Garten. Wahrscheinlich hingen ihre Gedanken in längst vergangenen Zeiten fest, wo sie noch glücklich gewesen war. »Eigentlich war ich froh, dass er mich nicht mehr angefasst hat. Nach seinen unzähligen Affären und seinen teilweise abartigen Wünschen habe ich mich vor ihm geekelt.« Die Frau verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse. »Seltsamerweise hat es trotzdem wehgetan, als er fremdgegangen ist. Immer wieder.« Sie legte den Kopf schief, als würde diese Haltung es ihr leichter machen, die Dinge zu ertragen.

»Was meinen Sie mit ›abartige Wünsche‹?«, fragte Grünbrecht. »Welche abartigen Wünsche?«

»Was die Zusammenkunft zwischen Mann und Frau anbelangt«, erklärte die Frau in vornehmen Worten.

»Sadomaso?«, brachte es Stern etwas unsensibel auf den Punkt.

Die Witwe nickte.

»Dann erweitert sich der Kreis der möglichen Verdächtigen«, sagte Stern an Grünbrecht gewandt. Die machte sich umgehend einen Vermerk in ihrem Notizbuch.

»Kennen Sie die Namen der Frauen, mit denen Ihr Mann Sie betrogen hat?«, fragte die Gruppeninspektorin.

»Nein«, rief die Frau beinahe hysterisch. »Für wen halten Sie mich? Damit wollte ich nichts zu tun haben! Das will ich auch jetzt nicht! Es ist schwer genug, das alles ertragen zu müssen, da brauche ich nicht auch noch zu wissen, mit wem er es treibt. Mein Gott, was denken Sie?«

»Getrieben hat«, korrigierte Stern sie. Er wusste, dass er seine Kollegin zuvor wegen ihrer harschen Vorgangsweise angehalten hatte, die Befragung etwas feinfühliger anzugehen, doch die Stimmung hatte sich verändert, und er fragte sich, ob die Witwe nicht vielleicht doch in der Lage war, einen Mord zu begehen. »Wissen Sie, wo Ihr Mann vor der Tat gewesen ist?«

»Ich bin mir sicher, dass er sich auf der Mühlviertler Wiesn herumgetrieben hat, dem Volksfest hier in Freistadt, das kennen Sie bestimmt. Um Frauen hinterherzujagen«, sagte die Witwe verächtlich. »Und hernach hätte er sie bei der Scheidung vertreten, dieses Arschloch!«

Sterns Blick fiel auf die Uhr, die im Wohnzimmer neben der Tür an der Wand hing. 11:15 Uhr. Sie mussten sich sputen, wenn er rechtzeitig vor Barbaras Eintreffen in Linz in seiner Wohnung in der Herrenstraße sein wollte.

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