Mühlviertler Rache

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»Ich muss aufs Klo … Schon wieder«, flüsterte Tobias. Melanie sog neben ihm genervt die Luft ein.

»Wieso bist du nicht im Café gegangen?«, fragte Stern.

»Da hab ich nicht gemusst.«

»Hältst du es noch bis zur Dienststelle aus?«

»Wenn du weiterhin wie eine Schnecke fährst, wahrscheinlich nicht«, warf Melanie ungerührt ein und blickte seitwärts aus dem Fenster, wo die noblen Wohnsiedlungen des Pöstlingberges langsam an ihnen vorüberzogen.

Stern brummte. Dass er nicht gerade als Raser bekannt war, wusste er. Aber wenn seine Enkelin ihn mit einer Schnecke verglich, schmerzte das schon ein wenig. Er stieg aufs Gaspedal und beschleunigte das Tempo auf die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Gleichzeitig hoffte er, dass der Stadtverkehr zu dieser Zeit nicht so dicht war und sich kein Stau gebildet hatte, damit sie es rechtzeitig aufs Landeskriminalamt schafften, bevor Tobias’ Blase platzte.

Nach 15 Minuten stieß Stern die Eingangstür zur Dienststelle auf und zeigte Tobias den Weg zur Toilette. Der Chefinspektor und Melanie warteten davor, bis Tobias sein Geschäft verrichtet hatte, was mindestens genauso lang dauerte wie die Fahrt hierher, dachte Stern und blickte wiederholt auf seine Armbanduhr. Die Kollegen warteten seit geraumer Zeit auf ihn. Gemeinsam wollten sie in einer Dienstbesprechung die weiteren Schritte durchgehen und die Aufgaben unter den Kollegen verteilen. Melanie und Tobias sollten sich derweilen in seinem Büro beschäftigen.

Endlich ging die Tür der Herrentoilette auf.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Stern. Er hatte noch immer Angst, dass sich Spätfolgen des heutigen Tages bei seinem Enkel einstellen könnten.

»Ja, Opa, alles bestens.« Tobias lächelte seinen Großvater an. »Und? Was machen wir jetzt?« Er schien das alles viel zu aufregend zu finden, als dass er die Füße still halten konnte. Den verschobenen Besuch der Grottenbahn hatte er anscheinend vergessen.

»Ich rede mal mit den Kollegen, und ihr beide bleibt so lange in meinem Büro.«

»Darf ich denn nicht mitkommen? Mama hat gesagt, ich soll dir nicht von der Seite weichen«, offenbarte Tobias eine weitere geheime Anweisung der Mutter.

»Damit hat sie nicht gemeint, dass du mir Schritt auf Tritt folgen sollst. Ich muss schließlich mal aufs Klo. Willst du da etwa auch mit?«

»Nein!«, antwortete Tobias entschieden. »Aber …«

»Kein Aber! Ihr beide wartet in meinem Büro auf mich, und damit basta!«

»Dürfen wir wenigstens mit dem Handy spielen?«, fragte Melanie. Gleichzeitig schob Stern sie und ihren Bruder in sein Büro, deutete auf zwei Stühle und räumte ein paar Akten vom Tisch.

»Nur wenn ihr eurer Mutter nichts von dem verratet, was heute passiert ist.« Stern sah darin seine Chance, sich aus seinem Dilemma freizukaufen. Wenn die Kinder dichthielten, brauchte er Barbara gegenüber nicht die geringste Silbe zu erwähnen. Mahnend hob er den Zeigefinger. »Ansonsten konfisziere ich eure Handys.«

»Konfi… was?«, fragte Tobias.

»Beschlagnahmen«, erklärte Melanie ihrem Bruder.

»Und was sollen wir die ganze Zeit in deinem Büro tun? Das wird bestimmt stinklangweilig.« Tobias setzte sich schmollend auf einen Besprechungsstuhl, während Stern seine Hand nach den Mobiltelefonen ausstreckte.

»Schon gut. Wir verraten Mama nichts«, lenkte Melanie ein, die ohne Handy nicht auszukommen schien. In diesem Fall war das für Stern gut und er lächelte.

»Aber …« Tobias wollte aufbegehren, doch seine Schwester brachte ihn mit einem finsteren Blick zum Schweigen.

»Wir müssen sowieso hier warten. Dann tun wir das doch lieber mit unseren Handys, oder?«, erklärte sie Tobias.

Zufrieden über den Deal verließ Stern sein Büro und ging hinüber zu den Gruppeninspektoren. Dort surrte der Drucker und walzte ein Foto nach dem anderen vom Tatort und vom Opfer auf die Druckerablage. Grünbrecht befestigte sie der Reihe nach an der fahrbaren Magnettafel, die Mirscher zwischen ihrem und Kolanskis Schreibtisch gerollt und dort fixiert hatte. Es kam Stern vor, als deutete Mirscher einen Kuss in Richtung Grünbrecht an. Er seufzte. Seit die beiden auch offiziell ein Paar waren, quälten sie ihre Umgebung mit diesen heimlichen Liebesbotschaften. Er hoffte, dass die erste Verliebtheit bald abflaute und sich so dieses Küsschen hier und Küsschen da von selbst reduzierte, ohne dass er etwas sagen musste.

»Okay, was haben wir?«, eröffnete er die Dienstbesprechung.

»Einen toten Mann um die 40, laut Weber«, begann Grünbrecht mit dem Aufzählen der Fakten. »Er wurde von einem Zug überrollt und enthauptet.«

»Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, wenn man so mit den Händen und Füßen an den Gleisen festgebunden ist, ob es da nicht möglich wäre, den Kopf einzuziehen und sich so zu krümmen, dass der Kopf dann zwischen den Gleisen steckt. Auf die Hände und Füße kann man ja irgendwie verzichten.« Mirscher verdeutlichte seine Überlegung, indem er körperlich nachzustellen versuchte, was er meinte. Das Ganze sah aus, als übte er für einen Tanz aus Fernost oder für eine japanische Kampfsportart.

»Du meinst, du würdest, anstatt gleich zu sterben, lieber elendig verbluten wollen?«, fragte Kolanski seinen Kollegen, der daraufhin die seltsamen Verrenkungen bleiben ließ.

»Wenn dir beide Hände und Füße gleichzeitig abgetrennt werden, verblutest du innerhalb weniger Minuten«, schloss sich Stern Kolanski an.

»War ja nur eine Idee, ob das überhaupt funktionieren würde«, verteidigte sich Mirscher.

»Die Spurweite der Schienen liegt laut den Österreichischen Bundesbahnen bei 1,4 Metern. Das müsste sich demnach ausgehen«, kam Grünbrecht ihm zu Hilfe.

»Danke, Mara«, bedankte sich Mirscher für ihre Unterstützung, und Stern befürchtete, dass gleich der nächste Kuss durch die Luft geflogen kam. Also redete er rasch weiter.

»Haben wir ihn schon identifiziert?«

»Nein, das könnte schwierig werden. Wir haben nur die linke Hand gefunden, und mit diesem Gesicht«, Mara Grünbrecht heftete ein Foto des Kopfes an die Magnetwand, und alle wussten, was sie meinte, »können wir schlecht von Tür zu Tür gehen und fragen, ob ihn wer kennt.« Aufgrund der Wucht, durch die der Kopf vom Torso abgetrennt und davongeschleudert worden war, war er mehrmals auf den Boden aufgeschlagen. Unzählige Platzwunden und Schrammen machten eine Erkennung unmöglich. Außer dass das Opfer rötliche Haare und grüne Augen hatte, war nicht viel von ihm zu erkennen, was bei einer Identifizierung hilfreich sein könnte.

»Wir müssen also darauf warten, ob die Spurensicherung etwas findet, was uns weiterbringt«, fasste Stern wenig begeistert zusammen.

»Oder die DNA-Analyse liefert ein Ergebnis«, ergänzte Grünbrecht.

Stern nickte. »Durchforstet die Vermisstenanzeigen. Vielleicht ist jemand dabei, der unserem Opfer ähnlich sieht. Ich meine nicht so, sondern … Ach, ihr wisst schon. Hat sich Weber bereits gemeldet?«

»Der hat ja noch nicht einmal die Leiche auf dem Tisch«, warf Mirscher ein. Sterns Ungeduld musste mal wieder gebremst werden.

»Ja, richtig«, brummte der Chefinspektor und beendete die Dienstbesprechung. Er stand auf und ging in sein Büro zurück. Als er dort eintrat, fand er Melanie wie gewohnt mit dem Handy spielend vor, und Tobias saß an dem kleinen Besprechungstisch und malte. Fein, wenigstens etwas schien so zu klappen, wie er sich das vorstellte.

»Was zeichnest du denn Schönes?«, fragte er seinen Enkel im Vorbeigehen.

»Den Waldgeist«, antwortete Tobias. »Damit ich ihn Mama zeigen kann und …« Tobias brach mitten im Satz ab, da ihm offenbar das Versprechen einfiel, das er seinem Großvater gegeben hatte. Demnach durfte er das Bild seiner Mutter gar nicht zeigen.

»Lass mal sehen«, forderte Stern den Neunjährigen auf. Sein Interesse galt weniger dem kindlichen Gemälde, welches Tobias ihm entgegenstreckte, sondern dem Kugelschreiber, den der Junge in der Hand hielt. Von Sterns Schreibtisch stammte dieser nämlich nicht. Zuvor betrachtete er aber den vermeintlichen Waldgeist. Aus einem ovalen Gesicht quollen Augen, die nach oben starrten. Der Mund war aufgerissen und hohl, die Zähne nicht zu sehen, als hätte der einstige Besitzer sie bei dem Unglück verschluckt. Vom Hals her verliefen Blutspritzer bis zum Haaransatz. Er sah wirklich gruselig aus, dieser Waldgeist. Stern seufzte und machte sich erneut Gedanken, ob der Junge wegen dieses Vorfalls nicht vielleicht doch mit einem Psychiater sprechen sollte. Andererseits kannte er Therapien, in denen man Kindern genau solche Zeichnungen anfertigen ließ, um in Erfahrung zu bringen, wie es um ihr Seelenheil bestellt war, ob sie traumatisiert waren oder etwas zu verdrängen versuchten.

»Was sagst du dazu?«, fragte Tobias, kniete sich auf den Stuhl und sah seinem Opa neugierig ins Gesicht.

»Mhhh …«, brummte Stern.

Aus Melanies Kopfhörer drang Musik, die die Szene im Büro des Chefs der Mordgruppe des Landeskriminalamtes Oberösterreich zusätzlich bizarr wirken ließ.

»Sag schon! Wie findest du es?«, blieb Tobias hartnäckig.

»Nicht schlecht, würde ich meinen«, antwortete Stern und deutete auf den Kugelschreiber in Tobias’ rechter Hand. »Von woher hast du den?«

»Ach, gefunden«, winkte der Neunjährige ab.

»Wo hast du ihn gefunden?«

»Irgendwo.«

»Darf ich ihn mir mal ansehen?« Stern hielt Tobias die offene Hand hin, in die der Junge besagten Kugelschreiber legen sollte.

»Er ist gar nichts Besonderes«, sagte Tobias und überreichte das Schreibwerkzeug seinem Großvater. Es war ein edler Schriftzug aufgedruckt: Rechtsanwalt Dr. Jonas Belfuss.

»Denk nach! Wo hast du ihn gefunden?«

Tobias sank in den Stuhl zurück. »Dort, wo ich mal gemusst hab«, sagte er mit eingezogenem Kopf. Anscheinend war es ihm peinlich, an die Szene neben der Schnellstraße kurz vor Freistadt erinnert zu werden.

 

»Und der hat dort einfach so gelegen?« Stern besah sich den Kugelschreiber genauer. Das Schreibgerät befand sich in tadellosem Zustand. Der Chefinspektor war sich sicher, dass es sich nicht lange dort befunden haben konnte, wo Tobias es gefunden hatte.

»Ja. Neben ein paar anderen Sachen.«

Stern horchte auf. »Anderen Sachen? Welche anderen Sachen?«

Tobias kramte in seiner Hosentasche und fischte ein Feuerzeug heraus. »Das hier«, sagte er und hielt es Stern hin.

»Rechtsanwalt Dr. Jonas Belfuss«, las Stern laut. »Sonst noch etwas?«

»Ein Aktenkoffer, ein Taschenrechner, Papierkram und ein Handy.«

Stern schnappte seinen Enkel an beiden Ellbogen und zog ihn hoch. »Ein Handy?«

Tobias nickte.

»Wieso hast du nichts gesagt?«

»Hab ich doch. Doch du hast gemeint, dass für den Müll jemand anderer zuständig ist. Außerdem hab ich gedacht, dass du eh schon sauer genug bist, weil du anhalten musstest und wir so spät zum Tatort kommen«, antwortete Tobias ängstlich. Er wollte keinen Ärger haben.

Auch dass sie spät dran gewesen waren, hatte der Junge mitbekommen, dachte Stern und ärgerte sich über sich selbst. Er nahm sich vor, in Zukunft achtsamer zu sein mit dem, was er in Gegenwart der Kinder äußerte. Vor allem der Neunjährige schnappte gierig alles auf. Melanie hingegen steckte ihre Nase nur in die Angelegenheiten fremder Menschen in den sozialen Netzwerken und ließ sich von Musik berieseln, wie in diesem Augenblick. Von ihr ging keinerlei Gefahr aus. Neben ihr konnte er sagen, was er wollte. Sie bekäme es erst mit, wenn der Akku ihres Smartphones leer war. Deshalb fuhr sie erschrocken hoch, als er sie an der Schulter antippte und zur Tür deutete.

»Was ist?«, fragte sie und zog an dem Kabel, an dessen Enden die Kopfhörer montiert waren, die dadurch aus den Ohren flutschten.

»Dein Bruder hat uns bei den Ermittlungen geholfen …«

»Das weiß ich doch längst«, maulte Melanie über die Störung ungehalten und wollte die Kopfhörer erneut in die Ohren stöpseln, als Stern sie an der Hand festhielt.

»Nein, schon wieder«, sagte er und wandte sich Tobias zu, der umgehend zu strahlen anfing. »Vielleicht hast du die Sachen des Toten gefunden. Wir müssen das überprüfen. Wenn wir an irgendetwas von dem, was dort im Gebüsch liegt, seine DNA finden, oder einen Fingerabdruck, dann können wir das mit der Leiche vergleichen und wissen, wer er ist. Möglicherweise dieser Dr. Jonas Belfuss.« Stern klopfte Tobias anerkennend auf die Schulter. »Kommt, Kinder, wir müssen noch mal nach Freistadt fahren. Den Kugelschreiber und das Feuerzeug behalte ich.« Stern steckte beides in eine Plastiktüte. Natürlich waren darauf nun auch Tobias’ und seine Fingerabdrücke zu finden, doch er versprach sich viel von dem Handy, das sein Enkel erwähnt hatte, und das wollte er jetzt holen.

»Was?«, rief Melanie entsetzt. »Kann ich nicht hier bleiben?«

Stern überlegte, was schon passieren konnte, wenn seine zwölfjährige Enkelin im Landeskriminalamt auf ihn wartete. Eigentlich nichts, denn sicherer war sie wahrscheinlich nirgendwo, nicht einmal in seiner Obhut.

»Okay, aber mach keinen Unsinn!« Stern drohte ihr mit erhobenem Zeigefinger, der unterstreichen sollte, dass es ihm wirklich ernst war. Melanie nickte und stöpselte die Kopfhörer wieder in die Ohren. Damit war das Gespräch beendet.

»Mädchen«, meinte Tobias achselzuckend, was Stern ein Schmunzeln entlockte. Er hielt seinem Enkel die Tür auf und bugsierte ihn in das Büro der Gruppeninspektoren Grünbrecht, Mirscher und Kolanski nebenan.

»Tobias und ich fahren noch mal nach Freistadt. Möglicherweise finden wir dort etwas, das uns bei der Identifizierung des Opfers weiterhilft.«

»Wir haben zwischenzeitlich ein rekonstruiertes Foto von ihm, wie er vor dem Mord ausgesehen haben könnte, an die Presse gegeben. Vielleicht erkennt ihn ja doch jemand«, meinte Mara Grünbrecht.

»Das passt schon. Irgendetwas führt uns zum Ziel, und doppelt hält bekanntlich besser.« Mit diesen Worten schob Stern seinen Enkel in den Flur, nahm ihn an der Hand und ging mit ihm nach draußen auf den Parkplatz, wo der Audi parkte.

»Wenn wir im Wilden Westen wären, bei den Cowboys und Indianern, bekäme ich bestimmt einen Hilfssheriff-Stern von dir, stimmt’s, Opa?« Tobias deutete auf seine Brust, wo in den Filmen der Blechstern angeheftet wurde.

»Ja, den bekämst du. Und wenn wir tatsächlich das finden, was ich vermute, dann verspreche ich dir, bekommst du wirklich so einen Stern.«

»Yeah!« Tobias hüpfte wie ein Gummiball neben Stern auf und ab. Der Chefinspektor hatte Mühe, den kleinen Rabauken nicht loszulassen. Der Junge sprang auf die Rücksitzbank von Sterns Wagen, setzte sich auf die Sitzerhöhung und legte den Gurt an. »Dieses Mal musst du aber schneller fahren«, verlangte er von seinem Großvater.

»Musst du noch auf die Toilette?«, fragte Stern, bevor er den Motor startete.

»Nein!«, rief Tobias mit vor Aufregung geröteten Wangen. »Los! Sattle die Pferde!«

Stern blickte in den Rückspiegel und lachte. Sein Enkel hielt sich am Beifahrersitz fest, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt und die Füße gespreizt, als würde er auf dem Rücken eines Pferdes sitzen und Zügel in der Hand halten.

»Pass auf! Du hast gleich 190 Pferde unterm Hintern.« Stern startete den Motor und ließ den Audi vom Parkplatz des Landeskriminalamtes rollen.

»Hüüü!«, rief Tobias übermütig. Doch sein Eifer legte sich bereits nach wenigen Kilometern. Trotz der 190 Pferdestärken unter der Motorhaube des Audis lag die Geschwindigkeit, mit der sie aus Linz hinausfuhren, stets mindestens 20 Stundenkilometer unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. Als sie an der fraglichen Stelle auf der S10 kurz vor Freistadt ankamen, war Tobias längst eingeschlafen.

3. Kapitel

Chefinspektor Oskar Stern kletterte an jener Stelle über die Leitplanke der S10, wo am Vormittag Tobias ein stilles Örtchen gesucht und auch gefunden hatte – aber anscheinend nicht nur das. Die Aktentasche samt Inhalt, auf die der Neunjährige gestoßen war, könnte nach Sterns sechstem Sinn dem kopflosen Opfer gehören. Wie sie allerdings in das Gebüsch gekommen war, war Stern ein Rätsel. Vor allem, wer sie dort abgelegt hatte und weshalb, wollte ihm nicht richtig in den Sinn.

Stern folgte dem Weg, wie er ihn im Gedächtnis hatte, dass Tobias ihn genommen hatte, und achtete auf den Boden. Schließlich wollte er nicht in die Hinterlassenschaft seines Enkels treten. Bei den Büschen knapp 20 Meter hinter der Leitplanke wurde er fündig. Dort lag tatsächlich ein schwarzer Aktenkoffer. Er war aufgeklappt, deshalb hatte Tobias den Kugelschreiber und das Feuerzeug an sich nehmen können. Daneben befanden sich ein Handy und ein Notizblock, die wohl beim Aufprall des Koffers auf dem Boden herausgeschleudert worden waren. Stern trat näher, bückte sich und suchte in seiner Jacke nach einem Taschentuch. Damit legte er die herausgefallenen Gegenstände zurück in den Koffer, verschloss ihn und wickelte das Papiertuch um den Bügel, damit er ihn anfassen konnte. Abschließend ließ er den Blick umherschweifen, ob noch etwas am Boden lag, was von Interesse sein könnte. Aber zwischen Plastikflaschen und Fast-Food-Verpackungen fiel ihm nichts mehr ins Auge, was mit dem Fall zu tun haben könnte. Er trat einen Schritt zur Seite und wollte zum Wagen gehen, als ihn ein matschiges Geräusch erstarren ließ. Er richtete die Augen zu Boden, hin zu seinen sündhaft teuren Kalbslederschuhen.

»Scheiße!«, fluchte Stern, was in diesem Fall buchstäblich zutraf. Mit seinem rechten Fuß war er in eine Wurst aus Exkrementen getreten, die nur zum Teil mit braungefärbten Taschentüchern bedeckt gewesen war. Er hob das Bein und betrachtete die Misere. Die Taschentücher klebten samt Kotrückständen an seiner Sohle. Stern versuchte, alles im Gras abzuwischen, wurde aber trotzdem das Gefühl nicht los, dass zumindest ein Rest davon haften blieb, sosehr er sich auch bemühte. Er schlurfte wie jemand, der ein verletztes Bein hinter sich her schleifte, zum Pannenstreifen, überstieg die Leitplanke und öffnete den Kofferraum. Leise, wie er hoffte, um Tobias nicht zu wecken. Aus einem Karton entnahm er zwei Handschuhe, streifte sie über und untersuchte den Aktenkoffer, den er bereits nach einer Minute als Eigentum des Mannes identifizierte, dem ebenso der Kugelschreiber und das Feuerzeug gehörten: Dr. Jonas Belfuss. Mehrere Briefe und Gerichtsakten steckten in der Aktentasche, das Handy, von dem Tobias erzählt hatte, Kopfhörer, mehrere Plastikkugelschreiber, die der Anwalt anscheinend als Werbegeschenke verteilt hatte, und Visitenkarten. Auf denen stand, dass der Besitzer Dr. Jonas Belfuss hieß, Rechtsanwalt für Strafrecht, insbesondere für Scheidungen, war und in der Sonnbergstraße in Freistadt eine Kanzlei hatte. Wenn jetzt noch die DNA, die entweder am Handy durch Hautschuppen oder auf den Kopfhörern durch Ohrenschmalz zu finden war, mit jener der kopflosen Leiche übereinstimmte, kannten sie die Identität des Opfers.

Zufrieden legte Stern die Aktentasche in den Kofferraum, zog die Handschuhe aus, warf sie hinterher und knallte den Kofferraumdeckel zu. Erst dann fiel ihm wieder ein, dass Tobias noch immer auf der Rücksitzbank schlief … oder geschlafen hatte.

»Opa?«, hörte er die Stimme seines Enkels auch schon.

»Ich bin hier.« Stern öffnete die Fahrertür.

»Du hast mich gar nicht geweckt«, sagte Tobias beleidigt, als er mitbekam, dass alles längst vorüber war.

»Ich dachte … du würdest …« Stern brach ab. Dass sein Enkel bei der Suche gern dabei gewesen wäre, war ihm natürlich klar. Aber da hätte er möglicherweise Spuren vernichtet, deshalb war es Stern gelegen gekommen, dass Tobias geschlafen hatte. »Weißt du was? Du bekommst trotzdem einen Sheriffstern, schließlich hast du mich auf diese Spur gebracht. Ich hab den Aktenkoffer schon geholt, und er scheint wertvolle Hinweis zu enthalten«, sagte er stattdessen.

»In echt?« Tobias schien das Ablenkungsmanöver nicht zu durchschauen, und wenn doch, war ein Sheriffstern als Entschädigung für ihn wahrscheinlich mehr als genug.

»Echt.« Stern ließ sich auf den Fahrersitz fallen.

»Versprichst du mir das mit dem Stern?« Tobias hatte sich abgeschnallt, quetschte sich durch den Spalt zwischen den Vordersitzen und streckte seinem Großvater die Hand entgegen.

»Ich verspreche es.« Stern schlug ein und staunte wieder einmal darüber, wie er sich von einem Kind zu derartigen Aussagen überreden ließ. Wo sollte er in Österreich einen echten Sheriffstern auftreiben? Österreich war nun wirklich alles andere als der Wilde Westen. Wenngleich ihn jetzt, wo er darüber nachdachte, auch die Tötungsmethode – Anseilen auf Schienen, Enthaupten und Gliedmaßen entfernen – ein wenig an diese Epoche im 19. Jahrhundert westlich des Mississippis erinnerte.

»Was ist in dem Aktenkoffer?«, wollte Tobias wissen.

»Ach, lauter so Anwaltskram. Den sollen sich meine Kollegen genauer ansehen.«

»Was ist ein Anwalt?«

»Ein Anwalt ist einer, der dich vor Gericht vertritt und dafür sorgt, dass du zu deinem Recht kommst«, antwortete Stern, betätigte den Blinker und reihte sich in den Verkehr ein, wohl wissend, dass diese Erklärung nur zum Teil zutraf. Manche Anwälte waren weitaus mehr damit beschäftigt, die Wahrheit unter den Teppich zu kehren und ihre Mandanten so schadfrei wie möglich zu halten, wenn diese gegen das Gesetz verstoßen hatten. Darüber konnte er aufgrund seines Jobs genügend Zeugnis ablegen.

*

Als Stern und Tobias wieder im Landeskriminalamt ankamen, fand der Chefinspektor sein Büro verwaist vor. Melanie? Wohin war die Zwölfjährige verschwunden? Panik keimte in ihm auf.

»Du wartest hier«, sagte er zu Tobias und eilte über den Flur zum Büro seiner Kollegen. Auf halbem Weg machte er kehrt, kam zurück, packte Tobias an der Hand und schleifte ihn hinter sich her. Nicht, dass der Junge ihm auch noch verloren ging. Im Büro der Kollegen saßen nur Mirscher und Kolanski und starrten auf ihre Bildschirme. »Habt ihr Melanie gesehen?«

Die Beamten verneinten.

»Wo ist Grünbrecht? Vielleicht weiß sie, wo …« Stern machte ein paar unbeholfene Gesten, die ausdrücken sollten, was er nicht aussprechen wollte. Nämlich, dass er nicht wusste, wo sich die Schutzbefohlene befand, die unter seine Obhut gestellt worden war.

»Keine Ahnung, wo Grünbrecht steckt. Vor einer halben Stunde war sie noch da«, antwortete Kolanski, der die Vermisstenanzeigen durchackerte.

 

»Hier!« Stern stellte den Aktenkoffer auf Mirschers Schreibtisch. »Den haben Tobias und ich gefunden. Wenn wir Glück haben, gehört er unserem Opfer und wir wissen endlich, wer er ist. Lasst ihn und den Inhalt von der Spurensicherung auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren untersuchen.«

»Ja, Chef«, sagte Mirscher, stand auf und schickte sich an, mit dem Koffer das Büro zu verlassen.

»Und du weißt sicher nicht, wo Grünbrecht ist?« Stern hielt seinen Kollegen am Arm zurück und sah ihn eindringlich an. Schließlich waren die beiden miteinander verlobt, da könnte man doch meinen, dass er wüsste …

»Nein, Chef. Ich spioniere ihr nicht hinterher. Aber ich kann sie für dich anrufen, wenn du möchtest.«

»Danke, das mach ich schon selber.« Stern zog sein Handy aus der Jackentasche und wählte Grünbrechts Nummer. Nach nur zweimaligem Läuten hob die Gruppeninspektorin ab.

»Grünbrecht, wo stecken Sie?«, fragte Stern ohne Begrüßungsfloskel.

»Die Frage sollte wohl eher lauten, wo Sie stecken«, parierte Grünbrecht eine Spur zu scharf.

»Ich? Wieso?« Stern verfiel sofort in Verteidigungshaltung, obwohl er Grünbrechts Vorgesetzter war. Aber er spürte, dass er gut daran tat, seine Kollegin nicht zu reizen.

»Weil Sie ein Kind in Ihrem Büro über mehrere Stunden alleine gelassen haben«, klärte Grünbrecht ihn über den Grund ihrer Verstimmung auf.

»Melanie ist bei Ihnen?«, kombinierte Stern das Fehlen seiner Enkelin mit dem angriffslustigen Gehabe der Kollegin.

»Ja, wir essen gerade Pizza. Verhungern hätten Sie sie nämlich auch noch lassen. Stimmt es, dass die Kids heute lediglich ein Eis zum …«

»Danke, Grünbrecht. Wo seid ihr? Ich und Tobias kommen zu euch«, unterbrach Stern die Kollegin, bevor ihr noch mehr einfiel, was sie ihm vorwerfen konnte. Trotzdem war Stern erleichtert. Er hatte schon gedacht, dass Melanie aus Zorn oder Verdruss abgehauen sein könnte. Wäre ja nicht das erste Mal, dass Kindern in diesem Alter so etwas einfiel und sie es für eine gute Idee hielten, um den Erwachsenen zu zeigen, was sie alles draufhatten. Und der heutige Tag war wirklich nicht sehr angenehm für seine Enkelin verlaufen.

»In der Monte Verde in Urfahr, Hauptstraße. Wir warten«, kam es knapp aus dem Hörer, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.

Stern sog die Luft ein. Mara Grünbrecht war anscheinend stinksauer auf ihn.

»Alles okay, Opa?«, fragte Tobias.

»Alles okay. Wir gehen jetzt Pizza essen«, antwortete Stern und drückte die Hand seines Enkels.

Etwa eine halbe Stunde später, nachdem sich Stern und Tobias durch den Abendverkehr auf der Unteren Donaulände und der Nibelungenbrücke gequält hatten, parkte Stern den Wagen in der Hauptstraße in Urfahr nahe der Pizzeria Monte Verde. Tobias sprang von der Rücksitzbank, knallte die Autotür zu und lief in Richtung des Lokaleingangs davon. Er liebte Pizza, das wusste der Chefinspektor. Alle Kinder mochten Pizza. Stern hingegen wäre ein saftiger Schweinsbraten mit Semmelknödel lieber. Dabei dachte er an die Brücklwirtin in Liebenau. Ihr Schweinsbraten war der beste, den er jemals gegessen hatte. Er hatte Maria Brückl bei einem Mordfall kennen und schätzen gelernt, vor allem ihre gutbürgerliche Küche. Vielleicht sollte er mit den Kindern mal einen Ausflug dorthin machen.

Stern und Tobias betraten das Monte Verde. Das Lokal war nicht besonders groß und seit dem letzten Umbau mehr als gut besucht. Der Chefinspektor hielt in dem länglichen Gastraum Ausschau nach Mara Grünbrecht und seiner Enkelin. Weiter hinten entdeckte er die beiden und steuerte auf sie zu.

»Grüß euch.« Stern blieb neben dem Tisch stehen und versuchte, die Stimmungslage zu erkunden.

»Hallo, Opa«, grüßte Melanie gutgelaunt. Sie war schon mal nicht das Problem. Es schien ihr gutzugehen, und ihr dürfte auch die Gesellschaft von Grünbrecht gefallen. Sterns Blick wanderte hinüber zu seiner Kollegin. Die nickte ihm zwar zu, sagte jedoch nichts.

»Habt ihr bereits gegessen?«, fragte er und zog für Tobias einen Stuhl zurecht. Der setzte sich und lächelte Mara Grünbrecht an. Tobias mochte die Gruppeninspektorin. Sie hatte ihn vor nicht allzu langer Zeit mit Blaulicht und Sirene zur Schule gefahren, wo ihm die Aufmerksamkeit der anderen Kinder gewiss gewesen war – ein Highlight im Leben des Neunjährigen, von dem er gerne erzählte.

»Ja, haben wir«, antwortete Melanie. »Wo seid ihr denn so lange gewesen? Wenn Mara mich nicht gerettet hätte, läge ich jetzt tot in deinem Büro, Opa. Ich wäre nämlich beinahe verhungert.« Melanie lachte trotz der ernsten Beschuldigung.

Zu gern wüsste Stern, über was die beiden in seiner Abwesenheit gesprochen hatten. Er hoffte, dass Melanie keine Familiengeheimnisse ausgeplaudert hatte, die Grünbrecht später brühwarm den Kollegen weitererzählte und die er dann bei passender Gelegenheit von ihnen serviert bekäme. Geburtstags- und Weihnachtsfeiern im Kollegenkreis waren dafür berüchtigt, damit auf Lacher-Jagd zu gehen.

»Wir haben neben der S10 einen Aktenkoffer gefunden. Wenn er dem Toten gehört, können wir ihn damit identifizieren«, sagte Stern wie beiläufig, um wieder auf sicheres Terrain zu gelangen.

»Wie, gefunden?« Anscheinend hatte Stern nun Grünbrechts Interesse geweckt, da sie ihr Schweigen brach. Ein Schweigen, das ihn hätte bestrafen sollen, weil sie sich um Melanie hatte kümmern müssen. Oder weil sie ihn als Raben-Opa betrachtete, da er die Kleine allein im Büro gelassen hatte. Doch nach Sterns Meinung war eine Zwölfjährige mit einem Handy alles andere als allein. Sie hätte ihn ja anrufen können, wenn sie das Bedürfnis danach gehabt hätte. Oder wenn sie wirklich in Not geraten wäre, hätte sie bloß laut zu rufen brauchen. Das ganze Landeskriminalamt war voller Polizisten.

»Ich hab ihn gefunden, weil ich mal gemusst hab«, platzte Tobias heraus.

»Tobias!«, rügte Melanie ihren Bruder. Sie empfand es in Gegenwart einer Außenstehenden als peinlich, über die Bedürfnisse des Körpers zu sprechen.

»Du hast was gemusst?«, hakte Grünbrecht nach. Da sie noch keine Kinder hatte, verzieh ihr Stern die lange Leitung, auf der sie anscheinend stand.

»Pipi und …«

»Tobias!«, riefen Stern und Melanie im Chor. Schließlich befanden sie sich in einer Pizzeria, und die anderen Gäste am Nachbartisch schauten schon, da der Neunjährige nicht gerade leise redete.

»Oh! Klar.« Grünbrecht überging die Peinlichkeit und sah Tobias an. Stern hingegen würdigte sie keines Blickes. Sie redete nur mit dem Jungen. »Echt toll, dass du den Aktenkoffer gefunden hast! Und wo war das?«

»Neben der Schnellstraße«, erzählte Tobias bereitwillig. »Opa hat mich über die Leitplanke klettern lassen, und da bin ich dann hinter das Gebüsch, und dort ist er dann gelegen. Ich hab nur einen Kugelschreiber und das Feuerzeug mitgenommen, und weil wir schon so spät dran gewesen sind, hab ich dann vergessen, Opa davon zu erzählen, was sonst noch so alles dort rumgelegen hat. Außerdem ist Opa nicht für den Müll anderer Leute zuständig. Erst in seinem Büro hat Opa den Kugelschreiber gesehen und von mir wissen wollen, wo ich den herhab, und ich hab es ihm dann erzählt.« Tobias streckte die Hände von sich, als läge der Rest klar auf der Hand. Das tat er auch, trotzdem ergänzte Stern: »Wir sind noch mal hingefahren und haben den Koffer geholt. Die Kollegen untersuchen ihn gerade auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren.«

»Aber wieso liegt der Koffer des Toten – wir nehmen jetzt mal an, dass er tatsächlich unserem Opfer gehört –, also warum liegt der Koffer in Fahrtrichtung Freistadt und nicht in der entgegengesetzten Richtung?«, flüsterte Mara Grünbrecht Stern zu, weil es ihr unangenehm war, neben den Kindern offen über den Fall zu sprechen. Außerdem schien sie vergessen zu haben, dass sie sauer auf ihn war und nicht mit ihm reden wollte. »Wenn der Täter ihn mitgenommen hat, um die Identität des Opfers zu verschleiern, und er ihn aus dem Wagen geworfen hat, müsste er dann nicht in Fahrtrichtung Linz liegen?«