Mühlviertler Rache

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Der Gerichtsmediziner kniete neben den menschlichen Überresten, beugte sich über sie und sagte, ohne aufzublicken: »Auch schon da?«

»Was haben wir?«, fragte Stern, ohne auf Webers Neckerei einzugehen.

»Nicht viel, nur den Torso und einen Teil der Gliedmaßen. Kopf, Hände und Füße fehlen«, antwortete Grünbrecht. Stern folgte ihrem Fingerzeig die Gleise entlang. Eine Blutspur zog sich von jener Stelle, an der die kopflose, an Armen und Beinen an den Schienen mit Seilen festgebundene Leiche lag, mehrere Meter weit den Bahndamm entlang. Dann verlor sich das Blut, wurde weniger. Wahrscheinlich hingen die übrigen Leichenteile irgendwo unten am Zug fest, der hundert Meter weiter vorn zum Stillstand gekommen war. Oder sie lagen in den Büschen, die seitwärts des Bahndammes wucherten.

»So wird es schwer, das Opfer zu identifizieren. Und einen Aufruf mit Foto können wir vergessen.« Weber blickte auf und überprüfte, ob alle mitbekommen hatten, was er mit dem Foto hatte ausdrücken wollen, gluckste und redete weiter. »Wir haben keine Fingerabdrücke. Das Opfer hatte ebenso keinen Ausweis eingesteckt. Wenn wir Glück haben, ist seine DNA in unserer Datenbank. Sonst sehe ich schwarz für unseren Kopflosen.«

»Vielleicht hat er ein anderes Merkmal, aufgrund dessen wir ihn identifizieren können«, warf Grünbrecht ein. »Ein auffälliges Muttermal zum Beispiel. Eine Tätowierung oder eine charakteristische Narbe.«

»Das wissen wir erst, wenn ich ihn auf dem Tisch hab. Hier ziehe ich ihn gewiss nicht aus. Sonst glaubt der Stern noch, in meinem Kopf ist ein IC entgleist.« Weber lachte abermals. Dann untersuchte er den Torso auf augenscheinliche andere Wunden, die nicht vom Überrollen des Zuges stammen konnten.

»Wo sind die Passagiere?«, fragte Stern knapp. Neben Webers schrägem Humor würde ihm noch fehlen, dass eine Horde hysterischer Zuggäste über den Tatort herfiel und alle Spuren niedertrampelte.

»Die ÖBB hat sie mit einem Bus abgeholt. Waren eh nicht mehr viele«, erklärte Grünbrecht ihm.

Stern begutachtete die Leiche genauer. Aufgrund des vielen Blutes wusste er auch ohne Webers Analyse, dass das Opfer durch das Überrollen des Zuges ums Leben gekommen war und nicht vorher das Zeitliche gesegnet hatte. Der Täter hatte es demnach psychisch leiden lassen wollen, es wahrscheinlich bis zum Schluss in dem Glauben gelassen, dass es möglicherweise eine Chance gab, nicht an diesem Ort zu sterben. Ob der Täter dabei zugesehen hatte, wie der Zug den Mann schlussendlich in Stücke gerissen hatte, konnte Stern nicht sagen. Die Wahrscheinlichkeit war aber hoch. Jemand, der sein Opfer so leiden ließ, wollte sehen, wie es starb.

»Was kannst du mir bisher sagen, Weber?«, wandte sich Stern an den Gerichtsmediziner.

»Dass ich vor dir am Tatort gewesen bin«, grunzte der.

»Ich meine etwas, das von Bedeutung ist«, antwortete Stern gespielt gelassen, obwohl es ihn natürlich ärgerte, dass Weber vor ihm eingetroffen war.

»Die Leiche ist männlich, wahrscheinlich so zwischen 30 und 50 Jahre alt. Der Tod ist, unmittelbar nachdem ihn der Zug überfahren hat, eingetreten. Kopf, Hände und Füße wurden abgetrennt und fehlen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie von Tieren gefressen oder davongetragen wurden, dafür hat die Zeit nicht gereicht. Außerdem gibt es im Mühlviertel keine so großen Raubtiere.«

»Doch, mittlerweile schon«, warf Grünbrecht ein.

»Ein Rudel Wölfe streift durch die Mühlviertler Wälder oben in Liebenau«, wusste auch Weber. »Aber bis hierher sind sie noch nie gekommen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass die Gliedmaßen irgendwo in der Nähe herumliegen. Durch die Wucht der Durchtrennung könnten sie durch die Luft geschleudert worden und im Gebüsch gelandet sein. Kein schöner Tod, wenn ihr mich fragt, auch wenn er sofort eingetreten ist«, beendetet Weber seine Kurzanalyse.

»Ja, grauenvoll, wenn man darauf wartet, dass ein Zug kommt und einen erledigt«, resümierte Stern und blickte die Gleise entlang, die nach hundert Metern in einer Kurve zwischen Sträuchern und Bäumen verschwanden. In der anderen Richtung sah er ein gutes Stück entfernt die Brücke, von der er und Tobias zuvor hinabgesehen hatten. Der Tatort war klug gewählt. Durch den Wald war man entlang des Bahndammes vor neugierigen Blicken geschützt, und die Brücke war zu weit weg, als dass man von dort etwas hätte genau erkennen können. »Wann ist er gestorben?«

»Der Todeszeitpunkt ist der Zugfahrplan«, meinte Weber und streifte seine Handschuhe ab. »Genauer kann ich es dir nicht sagen.«

»In welchen Abständen fahren hier Züge?«, wollte Stern wissen.

»Bin ich die Fahrplanauskunft?«, witzelte Weber und stand auf. Er packte seine Sachen in die Tasche, ließ sie zuschnappen und machte sich zum Gehen bereit. »Wenn du mit ihm fertig bist, schick ihn mir bitte in die Gerichtsmedizin – aber mit der Bahn!« Weber grunzte wieder.

Stern, der Webers Humor nur selten teilte, erwiderte: »Einen Fahrschein wird der ja wohl nicht mehr brauchen.« Dass der Gerichtsmediziner jedes Mal an einem Tatort so gute Laune versprühte, nervte ihn.

Doch Weber lachte aufgrund Sterns vermeintlichen Scherzes nur noch lauter und verließ pfeifend den Tatort. Stern sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Danach wandte er sich wieder der Leiche zu. Die Kollegen der Spurensicherung durchkämmten indessen Zug und Bahndamm auf der Suche nach den fehlenden Körperteilen.

»Vielleicht hat der Täter Kopf und Hände mitgenommen, damit wir das Opfer nicht identifizieren können«, spekulierte er laut.

»Kein Kopf, keine Identifizierung durch Angehörige. Keine Hände, keine Fingerabdrücke und keine Identifizierung durch unsere Datenbank«, fasste Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht zusammen.

»Wer packt denn einen blutigen Kopf ein?«, fragte indessen Gruppeninspektor Hermann Kolanski angewidert. »Und schleppt ihn, vielleicht sogar in einem Plastiksackerl vom Supermarkt um die Ecke, durch die Gegend?«

»Jeder könnte das tun«, brummte Stern.

»Die Züge fahren auf dieser Strecke in Abständen von etwa 30 Minuten. So lange hatte der Täter Zeit, das Opfer an den Gleisen festzubinden. Wahrscheinlich hat er es vorher betäubt oder bewusstlos geschlagen.« Grünbrecht deutete mit den Armen einen Hieb gegen den Kopf ihres Kollegen an.

»Sonst hätte sich das Opfer gewehrt, und es hätte wohl länger gedauert, es hier festzubinden«, ergänzte Kolanski Grünbrechts Ausführungen zum Tathergang.

»Als das geschafft war, hat der Täter nur noch darauf warten müssen, bis der Zug den Rest erledigt.« Grünbrecht stützte die Hände in die Hüften und betrachtete das Blutbad zu ihren Füßen.

»Zum Denken blieb dem Täter genügend Zeit. Er hat nicht im Affekt gehandelt, sondern wohlüberlegt und geplant. Schließlich hat er auch das Seil mit hierherbringen müssen«, schlussfolgerte Stern.

»Ein Täter, der einem Menschen so etwas antut, scheut nicht davor zurück, den Kopf als Trophäe mitzunehmen. Vielleicht montiert er ihn zu Hause auf eine Holzplatte, wie das die Jäger mit den Schädeln von Rehen so machen«, sagte Kolanski und erntete dafür sowohl von Grünbrecht als auch von Stern einen entsetzten Blick. »Ihr werdet schon sehen. Es gibt nichts, was es nicht gibt!«

»Welche Botschaft will der Täter uns damit vermitteln?«, überlegte Stern laut.

»Dass er gestört ist«, antwortete Gruppeninspektor Edwin Mirscher, der mit einer Plastiktüte in der Hand aus der Richtung des abgestellten Zuges kam und diese hochhielt.

»Was hast du da drinnen?«, wollte Stern wissen, obwohl er sich denken konnte, was das rötliche Fleischige in dem Beutel war.

»Zwei Füße und eine Hand«, antwortete Mirscher. Er legte den Plastiksack neben die enthauptete Leiche. »Jetzt fehlen nur noch der Kopf und die zweite Hand.«

Stern sah zu, wie die Männer der Spurensicherung das Seil durchschnitten, mit dem das Opfer an den Schienen festgebunden war und das bis jetzt den Körper an Ort und Stelle gehalten hatte. Der Leichnam entspannte sich daraufhin, als entwiche aus ihm Luft wie aus einer löchrigen Luftmatratze. Zwei Männer hievten den Toten in einen Sarg. Der Anblick erinnerte Stern an eine Puppe aus seiner Kindheit, der er den Kopf abgerissen hatte. Die Puppe hatte seiner Schwester gehört. Stern hatte den Kopf später mit einem Knödel aus Plastilin ersetzt – mit mehr oder weniger gutem Erfolg. Doch Plastilin würde hier nicht helfen. Die Männer verschlossen den Sarg und brachten ihn weg.

Stern schritt hinter ihnen her wie ein Trauergast bei einem Leichenzug, fehlte nur, dass er die Hände faltete und einen Rosenkranz betete. Und natürlich gab es keine örtliche Musikkapelle, die den Trauermarsch blies, wie es im Mühlviertel üblich war. An der Stelle, wo die Einsatzkräfte ihre Fahrzeuge abgestellt hatten, verließ er den Trauerzug und bog in Richtung Rettungswagen ab. Dort maß man dem Lockführer gerade den Blutdruck und versorgte ihn mit Kaffee. Nur zu gern tränke Stern jetzt auch Kaffee. Im Gegensatz zu dem unglücklich dreinblickenden Lockführer würde ihm das schwarze Gebräu sogar schmecken. Er unterließ es jedoch, danach zu fragen, und zückte seinen Dienstausweis. Sofort versteifte sich die Haltung des Mannes, der noch immer weiß im Gesicht war, als hätte er sich für einen Clownauftritt geschminkt. Bestimmt hatte er einen Schock erlitten. Stern lehnte sich neben ihm an die Trage.

»Ich bin Chefinspektor Oskar Stern vom Landeskriminalamt Oberösterreich. Können Sie schon darüber reden, was geschehen ist?«

Der Mann nickte. »Es ist kein Unfall gewesen«, stieß er heiser aus. »Das war Mord!« Der Mann sah Stern mit geweiteten Augen an, als sähe er einen Geist.

»Ich weiß. Erzählen Sie mir, was passiert ist.«

»Ich bin in Freistadt losgefahren. Durch die lang gezogene Kurve verliert man nicht viel an Geschwindigkeit, obwohl die Strecke nur bedingt einsehbar ist. Aber das ist im Normalfall kein Problem, wissen Sie, ist ja nicht wie im Straßenverkehr. Hätte ich gewusst, dass da einer liegt, wäre ich natürlich nicht so schnell gefahren.«

 

»Schon gut, es macht Ihnen keiner einen Vorwurf, Herr …«

»Meier. Manuel Meier.«

»Gut, Herr Meier. Was ist dann passiert?«

»Ich komme also dort um die Kurve und sehe ihn da liegen. Sie können sich nicht vorstellen, wie der mich angestarrt hat. Ich hab sofort eine Notbremsung eingeleitet, aber mit 70 Sachen ist das nicht einfach. Sie sehen ja selber, wo der Zug stehen geblieben ist.«

»Er hat also noch gelebt, bevor …«

»Ganz sicher! Diesen Blick werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen!«, rief Manuel Meier und richtete seine Augen gen Himmel, als könnte der Allmächtige seine Erinnerungen löschen.

Stern hingegen registrierte, dass der Mann demnach nicht bewusstlos gewesen war, wie sie zuvor spekuliert hatten, damit der Mörder ihn bequem an den Schienen hatte festbinden können. Er hatte dem heranrasenden Tod regelrecht ins Auge geblickt.

»Haben Sie an der Bahntrasse, am Rand der Strecke oder im Wald jemanden gesehen?«, hakte Stern nach.

»Sie meinen, außer den Toten?«

Stern nickte.

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

Manuel Meier überlegte kurz, bevor er antwortete: »Ich denke schon.«

In diesem Augenblick hörte Stern seinen Enkel rufen. »Opa!«

Nicht jetzt, dachte er und blickte sich nach Melanie und Tobias um. Während die Zwölfjährige vor Sterns Audi am Boden hockte und mit eingestöpselten Kopfhörern auf ihrem Smartphone herumwischte, war von Tobias nichts zu sehen.

»Opa!«, drang es erneut an Sterns Ohr, dieses Mal lauter.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte der Chefinspektor zu Manuel Meier und stieß sich eine Spur zu heftig von der Rettungstrage ab, sodass diese ins Wanken geriet. Meier hielt sich mit einer Hand fest, damit er nicht herunterfiel, und verschüttete dabei den Kaffee, den er mit der anderen umklammerte.

»Entschuldigung«, brummte Stern, während sein Blick bereits die Umgebung nach seinem Enkel absuchte. Um das Kaffeemalheur mussten sich andere kümmern, denn von Tobias war nichts zu sehen. Weder entdeckte Stern ihn in der Nähe seiner Schwester noch am Waldrand oder in der Zufahrt zu dem kleinen Wäldchen. Wo steckte der Bengel bloß?, schoss es ihm durch den Kopf und auch, dass er für diesen Kinderkram eigentlich zu alt war. Er war der Großvater und nicht der Vater, der ganz andere Fürsorgepflichten hatte! Nur noch wenige Jahre trennten ihn von seinem wohlverdienten Ruhestand und einem Leben ohne Stress, Mord und Totschlag. Obwohl so ein Fall wie dieser seine hin und wieder aufkommenden Pensionierungsängste zu verdrängen vermochte, musste er zugeben: Auf eine ganz bestimmte Weise fühlte er sich dann wieder jung und fit. Und gebraucht.

»Opa!«

Stern folgte den Rufen seines Enkels. Sie führten ihn zur Bahntrasse hinunter. Als Stern klar wurde, was das bedeutete, beschleunigte er den Schritt.

»Tobias?«, rief er.

»Ich bin hier«, kam es zwischen Unmengen an Brennnesseln und Gestrüpp hervor. Stern blinzelte und trat noch ein paar Schritte näher. Dann entdeckte er das blaue T-Shirt seines Enkels inmitten des meterhohen Grüns.

»Tobias, was machst du da?«, fragte er erleichtert, als er den Jungen am Boden hocken sah. Gott sei Dank ein gutes Stück vom Tatort entfernt.

»Er sieht mich an«, sagte Tobias, die Augen starr nach vorn gerichtet.

»Wer sieht dich an?«, wollte Stern wissen und blickte auf seine Armbanduhr. Er musste schnell zurück und die Befragung des Lockführers fortsetzen.

»Der Waldgeist.«

»Es gibt keine Geister, Tobias. Du bist für diesen Schei… äh … für diese Märchen zu alt. Komm jetzt! Ich muss noch …«

»Warum macht er die Augen nicht zu?«, fragte Tobias weiter, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Dann könnte er dich ja nicht ansehen«, antwortete Stern gereizt, wandte sich ab und machte sich ohne seinen Enkel auf den Weg zurück zum Rettungswagen. Wenn Tobias Geisterjäger spielen wollte, dann sollte er das seinetwegen tun. Dort bei den Brennnesseln konnte ihm nichts passieren, außer er fiel in sie hinein. Das wäre zwar unangenehm und zöge bestimmt viele Fragen von Barbara nach sich, doch die wären schnell beantwortet. Irgendwie. Vielleicht sollte er den Sanitäter doch um einen Becher Kaffee bitten …

»Aber er ist doch tot.«

Abrupt blieb Stern stehen. »Wie? Tot?«

»Der Waldgeist. Er ist tot, oder etwa nicht?« Tobias starrte in die Brennnesseln, die hier eindeutig über all das andere Grünzeug die Oberhand gewonnen hatten und die ganze Gegend mit einem unangenehm juckenden Teppich überzogen. Stern machte kehrt und kam zu seinem Enkel zurück. Wegen der Brennnesseln blieb er mehrere Meter hinter ihm stehen und spähte von dort über dessen Schulter. Außer einem Dickicht aus Urticapflanzen sah er nichts weiter.

»Wo ist er?«, fragte er Böses ahnend.

»Dort!« Tobias wies mit dem ausgestreckten Arm in das Unterholz. Stern, der sich schon gefragt hatte, wie der Junge überhaupt dorthin gelangt war, ohne unzählige Male gebrennnesselt worden zu sein, trat vorsichtig die Urticas zur Seite und näherte sich Tobias. Als er ihn erreichte, bückte er sich zu ihm hinab, um denselben Blickwinkel zu haben wie er … Und dann sah er ihn! Er sah den Waldgeist seines Enkels! Und den Kopf des Opfers! Die Augen weit aufgerissen und den Mund zu einem Schrei geformt, der wahrscheinlich in der letzten Sekunde seiner Kehle entrissen worden war, bevor ihn der Zug überrollt hatte. Ein Schrei von allen ungehört. Außer vielleicht vom Täter.

Sofort legte Stern die Hand auf Tobias’ Augen.

»Aber Opa, ich hab ihn doch schon gesehen, bevor du gekommen bist«, rief Tobias entrüstet und befreite sich von seinem Großvater.

»Das ist nichts für dich«, brummte Stern. Er zog seinen Enkel hoch, weg von der Stelle, wo der vermeintliche Waldgeist unaufhörlich Löcher ins Gestrüpp starrte. Das würde er so lange tun, bis ihn jemand davon erlöste. Dieser Jemand sollte Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht sein, beschloss Stern.

»Grünbrecht!«, rief er nach der Kollegin, die sofort herbeieilte und sich dorthin wandte, wohin Stern kommentarlos mit dem Finger zeigte. Dass ihr Chef seinen Enkel von der Stelle wegzerrte, war Erklärung genug.

»Hab ich dir und deinen Kollegen helfen können?«, fragte Tobias, während Stern ihn neben den Lokführer auf die Trage des Rettungswagens hob und einen Becher Tee für den Jungen und für sich selbst einen gefüllt mit Kaffee orderte. Der Sanitäter verdrehte die Augen und meinte, dass dies keine Cafeteria sei. Doch als Stern eine Erklärung folgen ließ, die beinhaltete, dass der Junge möglicherweise einen schweren Schock erlitten habe, weil er den Kopf der Leiche gefunden hatte, waren Tee und Kaffee umgehend im Anmarsch.

»Du hast uns sehr geholfen«, antwortete Stern und packte Tobias beidseitig an den Schultern. Er sah ihm tief in die Augen, um herauszufinden, wie es dem Jungen ging. Anscheinend hatte er den Anblick des abgetrennten Kopfes gut überstanden. »Jetzt können wir die Lei… äh, den Waldgeist wahrscheinlich identifizieren.«

»Toll!« Tobias strahlte übers ganze Gesicht. Das wunderte Stern. So ein Anblick müsste doch Spuren im Gemüt des Neunjährigen hinterlassen haben, ihn zum Weinen bringen, ihn sich übergeben oder zumindest sich fürchten lassen.

»Untersuchen Sie ihn!«, befahl Stern dem Sanitäter. »Herz, Kreislauf, alles, was dazugehört. Ich will, dass Sie alles an ihm checken. Sogar den kleinen Zeh!«

»Aber Opa, mir fehlt gar nichts«, widersetzte sich Tobias den Anweisungen des Großvaters und sprang von der Trage herunter.

»Das weißt du doch gar nicht«, erwiderte Stern und verfrachtete seinen Enkel zurück in den Rettungswagen. Zumindest war er dort für die nächsten Minuten sicher und es war gewährleistet, dass er nicht auch noch die fehlende abgetrennte Hand fand. »Du lässt dich jetzt von dem netten Herrn untersuchen und danach fahren wir auf ein Eis.«

»Versprochen?«, quiekte Tobias aufgeregt. Zuerst eine Leiche und dann ein Eis – das war der Jackpot für den Neunjährigen! Freudig streckte er seinem Großvater die Hand entgegen.

Der schlug ein und sagte: »Versprochen!« Danach wandte er sich ab und überließ Tobias dem Sanitäter, der sich sofort um den Jungen kümmerte.

Stern ging zurück zu Mara Grünbrecht und jener Stelle, an der Tobias den Kopf des Opfers gefunden hatte. Nun steckte er in einem Plastikbeutel und sah aus wie ein Dekorationsstück aus der Geisterbahn des Wiener Praters.

»Der gehört zweifellos unserem Mann«, sagte Grünbrecht.

»Natürlich gehört er dem Opfer. So viele Kopflose wird es hier im Mühlviertel ja wohl nicht geben«, brummte Stern, nicht ahnend, wie falsch er damit lag.

2. Kapitel

Chefinspektor Oskar Stern lenkte den Audi A6 auf der Leonfeldner Straße zurück nach Linz, auf der Rücksitzbank saßen seine beiden Enkel. Beide waren gutgelaunt, und Tobias erzählte Melanie alles, was sich vor gut einer Stunde zugetragen hatte. Die Zwölfjährige hatte aufgrund eines Handyspieles nicht viel von Tobias’ Fund mitbekommen und lauschte gespannt den aufgeregten Worten ihres Bruders.

Stern hatte Tobias ein Eis versprochen, und dieses Versprechen wollte er nun einlösen, am besten im Café Jindrak am Pöstlingberg. Anschließend ging es zum Zwergerlschnäuzen in die Grottenbahn. Das war bestimmt gut für die Kinder. Denn warum der Neunjährige derart gute Laune versprühte, war dem Chefinspektor noch immer ein Rätsel. Der Anblick des Kopfes hätte ihn eigentlich traumatisieren müssen, war sich Stern sicher. Wie es aussah, reagierte Tobias nicht wie ein normales Kind auf Derartiges. Der Junge hatte ihn sogar gefragt, ob er ein Foto von dem Schreckgespinst aller Kinder machen dürfe, was Stern natürlich abgelehnt hatte. Heutzutage posteten die Kids doch alles auf Twitter oder Instagram. Da fehlte es ihm noch, dass, bevor die Kriminalpolizei wusste, wer das Opfer war, eines seiner Körperteile die Runde in den sozialen Netzwerken machte.

Endlich erreichten sie die Landeshauptstadt. Der Audi erklomm gemächlich den Pöstlingberg, der sich über das linke Donauufer von Linz emporhob. Wie jedes Mal, wenn Stern hierherfuhr, genoss er die Aussicht über die Stadt und die Umgebung. Tobias quäkte aufgeregt am Rücksitz, dass Stern sich beeilen solle, da er endlich in der Grottenbahn eine Runde auf dem Rücken des Drachen, an den Zwergen vorbei, drehen wolle, doch der Chefinspektor ließ sich nicht drängen. Er parkte den Wagen gut hundert Meter unter der Basilika zu den Sieben Schmerzen Mariä, der barocken, römisch-katholischen Pfarr- und Wallfahrtskirche auf der Kuppe des Pöstlingbergs. Dann stieg er gemächlich aus und spazierte zu der Aussichtsplattform. Tobias hüpfte aufgeregt neben ihm her, Melanie hingegen wirkte eher gelangweilt. Weder konnte sie die Aussicht auf Linz beeindrucken, auf das Kunstmuseum Lentos, das Ars Electronica Center oder die Donaulände, welche ergeben zu ihren Füßen lagen, noch jene auf den Besuch der Grottenbahn. Für Zwerge und Märchen sei sie zu alt, hatte sie während der Fahrt mehrmals bekundetet, was an Sterns Plänen jedoch nichts geändert hatte. Die Kinder brauchten einen Gegenpol zu dem eben Erlebten, redete er sich ein, und da war die Linzer Grottenbahn genau das Richtige. Mit ihrer Märchenwelt in einem der Befestigungstürme des Maximilianischen Befestigungsrings der Stadt und dem elektrisch betriebenen Zug in Drachengestalt, der durch den äußeren Ring des Wehrturms fuhr, vermochte sie jedes Kinderherz zu begeistern.

»Komm, Opa! Lass uns endlich das Eis essen und dann in die Grottenbahn gehen!«, forderte Tobias Sterns Versprechen vehement ein.

»Das machen wir ja gleich«, sagte Stern lachend und löste seinen Blick von der wunderbaren Aussicht über die Landeshauptstadt. Er folgte seinen Enkelkindern zum Café Jindrak, zu dem sie den Weg bereits kannten. Diese Attraktion hier oben auf der Spitze des Pöstlingberges besuchten sie jedes Jahr. Bei diesen Gelegenheiten kamen sie allerdings mit der Pöstlingbergbahn her, einer der steilsten Adhäsionsbahnen der Welt, die vom Linzer Hauptplatz direkt herauffuhr.

Vor dem Eingang des Cafés warteten die Kinder. Stern zog für sie die Tür auf und ließ sie ein. Sie setzten sich auf die gemütliche Sommerterrasse und bestellten einen Bananensplitt, einen Früchtebecher und einen Eiskaffee.

 

»Erzähl noch mal, wie hat er ausgesehen?«, fragte Melanie zum wiederholten Mal ihren Bruder. Wahrscheinlich bereute sie es längst, dass sie wie üblich auf ihr Handy geglotzt hatte und dadurch das wahre Leben an ihr vorbeigezogen war wie Nebelschwaden, die man nicht aufzuhalten vermochte. Stern hingegen würde gern mal das Thema wechseln. Er rechnete noch immer mit einem spät einsetzenden Schock bei seinem Enkel.

»Er hat mich angestarrt, als wäre ich der Geist und nicht er«, sagte Tobias mit monotoner Stimme, um es spannender für seine Schwester zu machen. Sein Körper war jedoch derart vollgepumpt mit Adrenalin, dass es ihm offensichtlich schwerfiel, ruhig zu sitzen. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her und wusste nicht, wohin mit den Händen. Er war ständig in Bewegung. »Er hatte die Augen so weit aufgerissen.« Tobias deutete die Größe der angesprochenen Organe an und versuchte, den Blick des Opfers zu imitieren. Dabei formte er den Mund zu einem entsetzten »Oh« und verharrte derart eine Weile.

»Und du hast ihn dir echt angesehen?« Melanie wollte nicht glauben, was ihr Bruder ihr erzählte. Es war nicht zu erkennen, ob sie Bewunderung für ihn hegte oder Abscheu, weil er sich dermaßen für den abgetrennten Kopf eines Menschen begeisterte.

»Ja, hab ich.« Tobias strahlte.

»Du bist echt krank!«, stieß Melanie angewidert aus, lachte aber.

Das Eis wurde serviert und Tobias rammte seinen Löffel so brutal in die oberste Eiskugel, dass Stern Angst bekam, der Junge könnte vielleicht doch einen Schaden durch die Sache erlitten haben. Dann würden keine Zwerge mehr helfen, kein Drachenzug und ebenso keine Märchen. Melanie pickte zuerst die Obststücke aus ihrer Schale und Stern schlürfte seinen Eiskaffee mit dem Strohhalm, ohne die Kinder aus den Augen zu lassen.

»Wenn ich das meinen Freunden erzähle …«

»Oh, oh, oh, warte!« Stern hätte sich fast am Eiskaffee verschluckt. »Du darfst niemandem davon erzählen. Das ist Teil einer laufenden Ermittlung …«

»Aber Opa! Da ist endlich mal was los und ich darf nicht darüber reden? Das kann nicht dein Ernst sein!« Das Adrenalin schien schlagartig aus Tobias’ Körper zu weichen wie die Luft aus einem zerplatzten Luftballon. Der Junge ließ die Schultern hängen und sah seinen Großvater enttäuscht an.

Mist, fluchte Stern innerlich. Wie alle Großeltern ertrug er es nicht, wenn eines seiner Enkelkinder traurig war oder ihm ein Wunsch verwehrt blieb. Natürlich ein vernünftiger Wunsch, wobei die Definition von vernünftig zwischen Großeltern und Eltern noch nicht ausjudiziert war. Weshalb sonst stopften so viele Omas und Opas ihre Enkelkinder mit allerlei Süßigkeiten voll, dass sich die Eltern der Kinder oftmals grün und blau ärgerten? Genauso war es mit den Regeln, die die Eltern zu Hause aufstellten und mühevoll bei den Kindern durchzusetzen versuchten, die aber beim Überschreiten der Schwelle in das Heim der Großeltern außer Kraft traten, als durchschritte man ein Tor in eine andere Welt. Um diesem Schema voll und ganz zu entsprechen, fragte Stern: »Willst du noch ein Eis haben?«

Tobias sank in seinem Stuhl zurück, schob den restlichen Bananensplit von sich und sagte: »Nein, mir ist der Appetit vergangen.« Dann verschränkte er die Arme vor seiner kindlichen Brust und in Sterns fing es augenblicklich zu stechen an. Doch er konnte an der Situation nichts ändern. Es war, wie es war. Es war ein Mordfall.

Im selben Augenblick läutete sein Handy. Stern sah auf das Display: Grünbrecht.

»Stern«, brummte er in das Smartphone.

»Chef, wo stecken Sie so lange?«, drang es vorwurfsvoll aus dem Lautsprecher. »Wir warten auf der Dienststelle auf Sie.«

»Äh … ja, ich bin mit meinen Enkelkindern noch ein Eis essen gegangen«, erklärte Stern mit gedämpfter Stimme.

»Was? Jetzt? Gibt es dafür keinen besseren Zeitpunkt?« Das Unverständnis war Grünbrecht deutlich anzuhören.

Das konnte nur von jemandem kommen, der selber keine Kinder hatte, dachte Stern. Denn natürlich hatte er mit dieser Aktion nur das Wohl der Kids im Auge gehabt. Und natürlich wusste er, dass er als leitender Ermittler in diesem Moment bei seinem Team sein und nicht auf einer sonnendurchfluteten Terrasse eines Cafés am Pöstlingberg sitzen sollte, auch wenn die Sonne noch so wunderbar vom Himmel schien und endlich mal kein Wölkchen am Horizont heraufzog. »Ich komm ja schon«, sagte er.

»Heißt das, wir gehen nicht in die Grottenbahn?«, kam es sogleich vorwurfsvoll von der anderen Seite des Tisches.

»Geht leider nicht, das müssen wir verschieben«, antwortete Stern und schlürfte seinen Eiskaffee zu Ende, allerdings mit weniger Genuss als zuvor, wie er schmerzlich zur Kenntnis nahm. Ebenso drückte die schweigsame Stimmung auf sein Gemüt. Trotzdem aß er auch noch die Reste von Tobias’ Bananensplitt – wäre doch wirklich schade drum – und verlangte anschließend die Rechnung.

»Fahren wir jetzt nach Hause?«, fragte Melanie.

»Wir fahren auf die Dienststelle. Ich hab noch was zu erledigen«, erwiderte Stern. Als er bezahlt hatte, stand er auf und verließ das Café Jindrak. Die Kinder folgten ihm wie Gänseküken ihrer Mutter zum Wagen.

»Können wir nicht doch noch mit Lenzibald fahren?«, bettelte Tobias vor der geöffneten Autotür. Auch wenn die Aussicht, mit seinem Großvater ins Landeskriminalamt fahren zu dürfen, ansonsten Begeisterung bei ihm auslöste, so war das heute nicht der Fall. Lenzibald war nämlich der Name des Drachenzuges am Pöstlingberg. Bei seinen Rundfahrten durch den Wehrturm wurden abwechselnd die Nischen beider Seiten beleuchtet, in denen sich Szenen aus dem Zwergenreich befanden. Bei der letzten Fahrt drang sogar Rauch aus Lenzibalds Nasenlöchern.

»Wir holen das nach, Tobias«, sagte Stern. »Das verspreche ich dir!«

Tobias murrte. Zu oft hatte sein Großvater schon etwas versprochen, es aber nicht gehalten. Einmal war ein aktueller Mordfall schuld daran, ein anderes Mal waren neue Beweise in einem alten Mordfall, die er unbedingt bearbeiten musste, der Grund dafür. Irgendetwas kam Stern immer dazwischen. Enttäuscht kletterte Tobias in den Wagen, schnallte sich an und starrte stumm aus dem Fenster.

Während der Fahrt zur Dienststelle grübelte Stern über die Ereignisse der letzten Stunden nach. Vor allem, wie er es anstellen sollte, gleichzeitig den Mordfall zu bearbeiten und die Kinder seiner Tochter zu hüten. Barbara kam erst morgen Abend aus Graz zurück, so lange musste er auf seine Enkel achtgeben. Das hatte er seiner Tochter versprochen. Er konnte sie nicht anrufen und bitten, dass sie früher kommen sollte. Dann müsste er ihr erklären, warum, und auch, dass er die Kinder mit zum Tatort genommen hatte. Barbara würde ihm die Hölle heißmachen! Bis morgen musste ihm etwas einfallen, um das heute Geschehene vor ihr geheim zu halten. Er würde seine Seele erneut an die Kinder verkaufen müssen. Natürlich hatte er nicht wissen können, dass ausgerechnet an diesem Wochenende jemand einen Mann an den Schienen festband, um ihn vom Zug enthaupten zu lassen. Eine blutige Angelegenheit für die Ermittler, für den Täter hingegen eine wohlüberlegte und saubere Sache. Was mochte das Opfer angestellt haben, dass es in den Augen des Mörders so einen Tod verdiente?

»Opa?«, unterbrach Tobias Sterns Grübeleien.

»Ja?« Der Chefinspektor blickte in den Rückspiegel. Auf der ansonsten so glatten, kindlichen Stirn des Neunjährigen befanden sich zwei tiefe Furchen. Ob der Junge jetzt realisierte, was geschehen war?

»Äh …« Es war Tobias anzusehen, dass ihm die Angelegenheit, die er seinem Großvater mitteilen wollte, unangenehm war.

»Schieß los!«, ermutigte Stern ihn auszusprechen, was ihm auf der Seele brannte.