Mühlviertler Blut

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»Ach, Sie sind es, Chef. Was gibt es denn?« Stern wusste nicht, ob er sich über den Anruf des Dienststellenleiters freuen sollte oder nicht. Einerseits musste er sich für ein paar Augenblicke nicht mit der Pfarrersköchin abgeben, das machte jetzt Grünbrecht, andererseits bedeutete es nichts Gutes, wenn Bormann persönlich anrief. Bestimmt erkundigte er sich nicht nach seinem Wohlbefinden. Stern sah erneut Unheil am Horizont heraufziehen.

»Wir haben einen zweiten Mord«, ließ Bormann auch schon die Bombe platzen.

»Einen zweiten Mord?«, wiederholte Stern unwillkürlich. Grünbrecht und Herta Bachmeier verstummten. Beide spitzten die Ohren wie Deutsche Schäferhunde. Der Chefinspektor war sich dessen bewusst und verließ den Pfarrsaal. Grünbrecht eilte ihm hinterher. Auf dem Weg zur Tür fragte er: »Wo?«

»Hier in Linz, genauer gesagt im Bergschlösslpark.«

»Gut, wir kommen!«

»Und Stern!«

»Ja?«

»Der Tote ist ein angesehener Weinhändler aus Linz. Er versorgt viele namhafte Restaurants in der Hauptstadt, und hochgestellte Persönlichkeiten aus der hiesigen High Society kaufen bei ihm ihre Weine.«

Die unterschwellige Botschaft des Dienststellenleiters, den Fall diskret zu behandeln, war bei Stern angekommen. »Okay.«

»Da ist noch etwas.« Bormanns Stimme am anderen Ende der Leitung wurde leiser, kam Stern vor.

»Was?«, hakte er nach.

»Er ist auf ähnliche Weise ermordet worden wie der Pfarrer.«

»Wie der Pfarrer in Liebenau?«, wiederholte Stern ungläubig, da er sich nicht vorstellen konnte, wie ein Mord in der provinziellen Abgeschiedenheit mit einem in der Stadt zusammenhängen konnte.

»Natürlich der Pfarrer in Liebenau, Stern. So viele tote Priester haben wir im Augenblick nicht im Angebot.«

»Gibt es konkrete Hinweise, dass die Morde zusammenhängen?«, hakte Stern nach.

»Sie meinen, außer der Todesart? Noch zu früh, um das zu sagen. Aber möglich wäre es schon.«

»Gut, wir sind unterwegs.« Stern beendete das Telefonat und ging zurück in den Pfarrsaal. Er würde Grünbrecht später instruieren. Jetzt war Eile geboten. Wenn es um eine höhergestellte Persönlichkeit ging, kannte sein Chef kein Pardon. Da musste alles wie am Schnürchen laufen.

»Das mit der Sekretärin hab ich durchaus ernst gemeint, Herr Chefinspektor. Und ich … ich wäre jetzt ja frei. Eine Pfarrersköchin ist ohne einen Pfarrer wohl überflüssig. Und Sie sehen aus, als wenn Sie ein wenig Unterstützung brauchen könnten.« Die Stimme der Bachmeier war plötzlich ganz anders als vorhin, so nett und hilfsbereit, was natürlich Sterns Misstrauen weckte.

»Dann halten Sie die Ohren offen, solange wir weg sind. Wir müssen nämlich nach Linz«, sagte er dennoch.

»Noch eine Leiche. Ich hab ja mitgehört.«

Stern nickte. Zu leugnen hatte ohnedies keinen Sinn.

»Bevor S’ aber gehen, geben S’ mir unseren Herrn Jesus Christus zurück. Als gute Christin kann ich den ja wohl nicht in Ihren Händen lassen. Am Ende wird der auch noch in den Mordfall hineingezogen.« Die Pfarrersköchin zwinkerte Stern und Grünbrecht zu. Plattlbauer stand daneben und grinste.

»Dieser Mord geschah vor 2.000 Jahren. Den müssen wir nicht mehr aufklären«, konterte Stern nun seinerseits geschickt, was die Pfarrersköchin zwar respektvoll nicken, aber keinesfalls verstummen ließ.

»Den Mörder hat man zwar gekannt, aber hinter Gitter hat der nie müssen. So etwas soll uns in Liebenau nicht passieren.« Herta Bachmeier stand auf und raffte die Weste vor ihren Brüsten zusammen.

»Glauben Sie mir. Wir werden unser Bestes tun, damit genau das nicht geschieht. Wo waren Sie eigentlich in der Mordnacht?«, fragte Stern nach dem Alibi der Pfarrersköchin, was die jedoch nicht aus der Fassung brachte. Sie schien die Vernehmung sogar zu genießen, als dass sie dadurch Angst bekäme. Wahrscheinlich lag das daran, dass sonst nicht recht viel los war in Liebenau, und nur für den Pfarrer zu kochen und ihm den Haushalt zu führen war halt auch nicht sonderlich herausfordernd für eine Frau wie die Herta Bachmeier, dachte Stern.

»Ich? Na, wo ich immer bin: zu Hause auf meiner Couch. Alleine, wenn Sie es genau wissen wollen, weil die Liebenauer lauter Schlappschwänze sind. An mich traut sich keiner ran. Ich bräuchte einen feschen Städter, so wie Sie einer sind.« Herta Bachmeier klimperte mit ihren langen Wimpern, wandte sich ab und tänzelte Po wackelnd aus dem Pfarrsaal.

Grünbrecht sah Stern belustigt an. »Die flirtet mit Ihnen, Chef.«

»Ach was«, winkte Stern ab. »Für so etwas habe ich nichts übrig. Ich könnte ihr Vater sein.« Stern deutete zur Tür, durch die Herta Bachmeier eben entschwunden war. Doch das war nicht der wahre Grund, warum Stern nichts davon hören wollte, dass die Pfarrersköchin mit ihm geflirtet haben sollte. Sie erinnerte ihn durch ihren blassen Teint, die grelle Schminke und die bunten Klamotten doch sehr an eine Hexe. Vampire und Hexen in Liebenau! Er schüttelte ob dieses Gedankens amüsiert den Kopf und steckte seinen Notizblock ein, auf dem immer noch nicht viel geschrieben stand. Aber er war gespannt, welche Fabelwesen ihn in Linz erwarteten.

»Plattlbauer! Sie halten hier die Stellung!«

4. Kapitel

Die Kriminalbeamten rollten mit dem Audi die Mühlviertler Hügel hinauf und hinab, während Stern seine Kollegin über den neuen Mord in Linz in Kenntnis setzte. Erst als sie auf die S10 auffuhren, drückte Stern den Fuß ein wenig mehr auf das Gaspedal, sodass es nach Grünbrechts Dünken nicht mehr lächerlich aussah, wenn er das Blaulicht auf das Dach klemmte und es einschaltete. Zuvor hatte Grünbrecht es ihm untersagt mit der Begründung, dass sie sich schämen würde, wenn sie mit der Geschwindigkeit von Touristen, die zu recht die wunderbare Landschaft des hügeligen Mühlviertels bestaunten, mit Folgetonhorn und Blaulicht unterwegs wären.

»Und sonst hat Bormann nichts gesagt?«, hakte Grünbrecht nach, erleichtert, dass es nun schneller voranging.

»Nein, nur dass der Mord im Bergschlösslpark stattgefunden hat und das Opfer auf ähnliche Weise wie der Pfarrer in Liebenau getötet worden ist.«

»Haben wir es mit einem Serientäter zu tun?«

»Um das sagen zu können, ist es noch zu früh.«

Den Rest der Strecke fuhren die Beamten schweigend. Jeder hing seinen Gedanken nach. In der Landeshauptstadt nahm Stern die Abfahrt ins Zentrum und steuerte die Waldeggstraße entlang bis zur Abzweigung in die Ziegeleistraße. Als der Audi die sanfte Ansteigung erklomm, sah Stern rechts vor dem Park ein blaublinkendes Lichtermeer von Einsatzfahrzeugen. Polizei, Rettung und Feuerwehr. Sie alle waren gekommen, um dem Spektakel beizuwohnen.

Der Chefinspektor lenkte den Audi über den Randstein und hielt vor dem Absperrband an. Die uniformierten Kollegen hatten den Park bereits gesichert. Grünbrecht stieg aus und wartete vor dem Wagen auf ihn. Stern schob noch rasch zwei Pfefferminzbonbons in den Mund, klappte die Ablage der Mittelkonsole zu und folgte Grünbrecht.

»Da lang!«, sagte ein Uniformierter, der Stern sofort erkannt hatte. Nicht so wie in Liebenau, wo er sich jedem als Chefinspektor erst hatte ausweisen müssen.

Die Kriminalbeamten stiegen über das Absperrband hinweg und querten den Park, der rund drei Hektar groß war und seit etwa 300 Jahren existierte. Zuvor als private Gartenanlage angelegt, errichteten die Jesuiten im 18. Jahrhundert den ersten botanischen-ökonomischen Garten von Linz. Angeblich beinhaltete sein Baumbestand über 50 verschiedene Baumarten, an denen die Inspektoren jetzt aber vorüberschritten, ohne ihre Vielfalt bewusst wahrzunehmen. Hingegen bemerkte Stern die Gruppe Feuerwehrleute rechts am gekiesten Weg, die sich zuerst angeregt unterhielt, aber verstummte, als sie etwa auf gleicher Höhe angelangt waren. Stern fragte sich, wer sie wohl alarmiert hatte und vor allem, warum? Einen Brand hatte es offensichtlich nicht gegeben.

»Wussten Sie, dass das Bergschlössl im Jahr 1718 für den kaiserlichen Rat Johann Jakob Mäderer von Ehrenreichs­cron als dessen Residenz erbaut worden ist?«, überraschte Grünbrecht Stern mit ihrem Wissen über das Bergschlössl, das gerade vor ihnen zwischen hohen Parkbäumen in Sichtweite rückte.

»Nein, ich weiß nur, dass es jetzt ein Veranstaltungszentrum ist und man hier heiraten kann«, antwortete Stern mit Blick auf das barocke Gebäude. »Und man kann dort auch gut essen.«

»Aus dem wird heute leider nichts«, resümierte Grünbrecht, als sie eine Menschenansammlung weiter rechts in dem Park entdeckten und darauf zusteuerten. Kollegen der Spurensicherung waren damit beschäftigt, den Tatort zu untersuchen. Uniformierte Beamte durchkämmten jeden Quadratzentimeter des Parks nach etwaigen Spuren. Als Stern und Grünbrecht näherkamen, offenbarte sich ihnen der Grund des Großaufgebotes an Einsatzkräften. Dicht an dem mächtigen Stamm einer alten Esche stand ein Mann, den Kopf nach vorne gebeugt und mit hängenden Schultern. Aus der Entfernung könnte man meinen, er hätte sich nur mal angelehnt, um über das Leben zu sinnieren. Doch je näher die Kriminalbeamten traten, umso klarer wurde, dass der Mann diesen Platz nie mehr verlassen würde. Etwas hielt ihn fest, als verbände ihn mehr mit der Esche als bloß der Tod. Als stützte ihn der Baum, damit er nicht fiel. Jedoch waren weder Ketten noch Seile zu erkennen. Und auch sonst nichts, was den Mann in dieser aufrechten Position sicherte. Stern umrundete das seltsame Konstrukt aus Mensch und Baum, das wie eine moderne, jedoch befremdliche Installation wirkte.

»Wow!«, kommentierte Grünbrecht das Gesehene.

»Wie heißt der Tote?«, fragte Stern den neben der Leiche Dienst tuenden Polizisten. Gleichzeitig sah er sich nach Weber um, ob der Gerichtsmediziner schon da war. Als er ihn nirgendwo entdeckte, überlegte er, ob es denn möglich war, dass Weber schon wieder weg war? Na gut, die Fahrt von Liebenau nach Linz hatte gut eine Stunde gedauert. Möglich wäre es demnach. Na toll, wenn Weber seine Untersuchung tatsächlich schon abgeschlossen hatte, würde er Stern bis in alle Ewigkeiten damit aufziehen, dass er seine Arbeit an einem Tatort erledigt hatte, bevor er, Stern, überhaupt aufgekreuzt war. Der Chefinspektor seufzte und dachte, dass er Grünbrecht hätte fahren lassen sollen.

 

»Richard Köhlinger«, antwortete der Polizist mit einem Blick auf einen Zettel.

»Der Weinhändler.« Stern erinnerte sich an die Worte seines Vorgesetzten. »Der Linz mit den erlesensten Weinen versorgt.«

»Versorgt hat«, korrigierte Grünbrecht ihn und schrieb den Namen des Opfers auf ihren Notizblock.

Stern antwortete nicht. Er hatte eben entdeckt, was das Unmögliche möglich machte. Was den Toten neben dem Baum aussehen ließ, als schwebte er. Etwas Hölzernes ragte aus seiner Brust, versteckt in einer Hemdfalte. Der Mörder hatte sein Opfer also an den Baum gepfählt. Da aber kein Blut auf dem Hemd und auch nicht am Boden zu sehen war, nahm Stern an, dass der Täter den Pfahl erst durch die Brust seines Opfers gerammt hatte, als es bereits tot gewesen war. Und zu jenem Zweck, um es hier theatralisch zur Schau zu stellen.

Einem Instinkt folgend drehte Stern den Kopf des Opfers ein wenig zur Seite und entdeckte am Hals zwei Einstichmale wie beim Liebenauer Pfarrer. Jedoch gab es einen wesentlichen Unterschied. Während der Pfarrer an Ort und Stelle ausgeblutet war und das Blut sich über den Altar und den Boden ergossen hatte, waren sowohl die Wunden am Hals als auch jene in der Brust des Weinhändlers feinsäuberlich abgewischt worden. Stern glaubte sogar, dass dem Opfer nach der Tat ein frisches Hemd übergestreift worden sein musste, da das Kleidungsstück aussah, als käme es frisch vom Bügeltisch.

»Das hier ist nicht der Tatort. Hier hat man das Opfer lediglich publikumswirksam inszeniert. Sucht die Umgebung nach Blutspuren ab«, wies Stern die uniformierten Kollegen an. »Und noch etwas …« Stern stellte sich ganz dicht an einen Polizisten und fragte ihn mit gedämpfter Stimme: »Ist Weber schon hier gewesen?«

»Der ist unterwegs«, antwortete der Beamte, dem die Aufgabe zukam, die Leiche nicht aus den Augen zu lassen. In einem öffentlichen Park musste man besondere Vorsicht walten lassen, um Leichenfledderern keine Chance zu bieten, auch wenn der Tatort längst abgeriegelt war.

Stern war über diese Antwort mehr als zufrieden und wandte sich wieder der Leiche zu. Solange Weber nicht hier war, mussten sie selber ran.

»Denken Sie auch, dass diese Einstichmale die Todesursache sind?«, fragte Grünbrecht und deutete, nach vorne gebeugt und mit dem Gesicht nur wenige Zentimeter vom Hals des Opfers entfernt, auf die beiden Wundmale, die nicht größer waren als ein entzündeter Insektenstich.

»Der Pfahl hat ihn nicht getötet. Sonst wäre am Hemd rund um die Wunde zumindest ein wenig Blut zu sehen«, erwiderte Stern. Und zu den Kollegen der Spurensicherung sagte er: »Sucht nach etwas Langem, Dünnem, das diese Einstiche am Hals verursacht haben könnte.« Er erinnerte sich an die Worte des Gerichtsmediziners, als sie die Leiche des Pfarrers in Liebenau begutachtet hatten. »Kleine Schraubenzieher, dünne Stricknadeln, Sticheln. Irgendetwas in der Art. Vielleicht haben wir Glück, und der Täter hat die Tatwaffe achtlos ins Gebüsch geworfen.«

»Das könnte doch glatt aus meinem Mund stammen«, ertönte es hinter Sterns Rücken. Dominik Weber kam eben auf sie zu und streifte sich im Gehen ein Paar Plastikhandschuhe über. Den Koffer stellte er vor der Leiche ab und holte ein langes Thermometer heraus. »Wie ich dich kenne, willst du bestimmt gleich wissen, wann er gestorben ist.«

»Wo zum Henker hast du gesteckt?«, ließ Stern keinen Augenblick verstreichen, um dem Gerichtsmediziner dessen Schmach, dass er vor ihm am Tatort gewesen war – übrigens schon wieder – vor Augen zu führen. Dabei schmuggelte sich ein Schuss Schadenfreude in seine Stimme.

»Im Stau. Auf der A7. Genauer gesagt im Bindermichl-Tunnel, weil so ein Brummifahrer ein Auto zur Seite geschoben hat«, rechtfertigte sich Weber verärgert, wahrscheinlich, weil Stern ihn an den Unfall und den damit verbundenen Zeitverlust erinnert hatte. »Und du weißt ja, was dann los ist. Dann geht gar nichts mehr.« Er holte ein Skalpell aus dem Koffer und schnitt eine drei Zentimeter große Öffnung in den Rumpf. Dort schob er das Thermometer in die Leber der Leiche, als wäre sie schuld an seiner Verspätung.

Stern verdrehte die Augen. »Das ist die lausigste Ausrede, die ich je gehört habe. Ich bin von Liebenau hierhergefahren und war trotzdem schneller als du. Du weißt, was das heißt?«

»Dass Grünbrecht gefahren ist?«, witzelte Weber.

»Ah geh!« Nun war Stern es, der genervt abwinkte.

»Wenn ich mich nicht irre, ist das ein Weißdornpfahl«, wechselte Weber das Thema und deutete auf den Holzpfahl in der Brust des Opfers.

Stern sah ihn überrascht an. »Du kennst dich mit Holzarten aus?«

Weber lachte. »Nein! Aber Weißdorn ist dafür bekannt, dass man damit einen Vampir töten kann.«

»Du fängst schon wieder damit an!«, brauste Stern auf.

»Sieh ihn dir doch mal genauer an«, verlangte Weber vom Chefinspektor und deutete auf die beiden Wundmale am Hals des Toten. »Genau wie beim Pfarrer! Was, wenn wir es hier mit einem ganz speziellen Fall zu tun haben? Einem Irren, der denkt, dass er ein Vampir ist?«

»Aber ist es denn nicht eher so, dass man die Vampire mit so einem Weißdornpfahl tötet und nicht der Vampir sein Opfer? Ich sage dir, das hat überhaupt nichts mit Vampiren zu tun. Da macht sich einer lustig über uns«, schnaubte Stern, weil immer wieder diese abstruse Vampirsache auftauchte, und weil es Weber gefiel, ihn damit aufzuziehen.

»Oder der Täter will uns etwas sagen«, zeigte Weber diese Möglichkeit auf.

»Was denn? Dass es Vampire gibt? Du glaubst doch nicht etwa auch an solche Märchen?« Stern sah den Gerichtsmediziner erwartungsvoll an.

»Märchen sind etwas ganz anderes, Stern. Darin kommen Hexen und Feen vor«, erwiderte Weber. Bei der Erwähnung von Hexen musste Stern unweigerlich an Herta Bachmeier, die Pfarrersköchin aus Liebenau, denken. Ihre bunte Erscheinung erinnerte ihn doch sehr an diese Fabelwesen, mit denen man den Kindern aus den unterschiedlichsten Gründen Angst einjagen wollte.

»Das weiß ich schon«, brummte er, »aber ich glaube nicht, dass ich von dir eine Unterweisung in Sachen Literatur brauche, was alles in das Genre Märchen fällt und was nicht. Das ist aus meiner Sicht ohnehin mehr, als du dir vorstellen kannst. Da denk ich doch nur mal an so manche Zeugenaussage, die ich mir in meinem Leben schon habe anhören müssen. Da glaube ich eher an die Existenz deiner Hexen, Feen und Vampire, Weber, als an das, was Zeugen mir manchmal alles weismachen wollen.«

»Ich wollte halt darauf hinweisen, dass uns der Mörder mit der Zurschaustellung des Weinhändlers möglicherweise sagen will, dass er vielleicht ein Blutsauger gewesen ist. Ein Kotzbrocken. Ein Arschloch, auf gut oberösterreichisch«, stellte Weber diese weitere Variante in den Raum.

»Möglich wäre es«, überlegte Stern laut. »Hatte er denn Familie?«

»Eine Frau und einen erwachsenen Sohn«, las Grünbrecht von ihrem Notizblock ab. Diese Information hatte sie von einem der uniformierten Polizisten. »Aber nehmen wir mal an, dass es eine Familientragödie gewesen ist. Wieso sollten die auch den Liebenauer Pfarrer umgebracht haben?«

»Womit wir wieder beim Blutsauger wären«, zeigte Weber auf, dass seine These die wahrscheinlichere war.

»Die Sache hat trotzdem einen Haken«, rüttelte Stern kräftig an Webers Vermutung. »Denn wie passt unser Liebenauer Pfarrer da hinein? Ist der etwa auch ein Blutsauger gewesen? Der hat doch gar nicht die Möglichkeit als Geistlicher in der römisch-katholischen Kirche gehabt, als Blutsauger tätig zu sein. Oder hat er etwa den Opferstock geplündert?«

»Kirche und Geld schließen einander nicht aus«, brachte Weber als Argument vor. »Mancherorts gehen sie sogar Hand in Hand. Da hat es in Deutschland doch mal diesen Bischof gegeben, der gar nicht genug vom Reichtum hat kriegen können und sich eine Luxuswohnung um mehrere Millionen hat errichten lassen. Und denkt an das Mittelalter«, redete sich Weber in Fahrt. »Was die Kirche da an Geldern und Kunstwerken zusammengekarrt hat, ist nicht von schlechten Eltern, sag ich euch!« Mit ausgestrecktem Zeigefinger fuchtelte Weber dozierend in der Luft herum.

»Vielleicht stehen die Toten aber für etwas ganz anderes als den schnöden Mammon«, warf Grünbrecht ein.

»Ich sag’s ja: Vampire!« Weber grinste und zog das Thermometer aus der Leber der Leiche heraus. Noch immer schmunzelnd warf er einen prüfenden Blick auf die Anzeige.

»Keine Vampire!«, sagte Stern eindringlich.

»Was dann?«, fragte der Gerichtsmediziner provokant, und Grünbrecht verdrehte die Augen. Das ständige Hickhack zwischen ihrem Chef und Weber ging ihr langsam auf die Nerven.

»Wenn wir das herausgefunden haben, erfährst du es als Erster, Weber. Zuerst möchte ich von dir wissen, wann unser Toter das Zeitliche gesegnet hat?«, fragte Stern wieder auf die Leiche konzentriert.

»Ich würde sagen, sein Tod liegt mindestens 24 Stunden zurück. Wenn man berücksichtigt, dass es in der letzten Nacht ziemlich abgekühlt hat, vielleicht auch länger. Die Ausprägungen der Totenflecken sprechen dafür. Außerdem löst sich die Leichenstarre an vereinzelten Gliedmaßen.«

»Genauer geht es nicht?«

»Genaueres kann ich dir erst sagen, wenn ich die tatsächlichen Temperaturen, die wir in der vergangenen Nacht gehabt haben, kenne und ihn aufgeschnitten habe. Eines aber ist gewiss: Er ist keinesfalls hier gestorben. Dafür ist an diesem Ort zu wenig Blut. Und er wurde auf dieselbe Weise getötet wie der Pfarrer in Liebenau. Wahrscheinlich hat man ihn betäubt – das müssen wir erst aber noch nachweisen –, dann hat man ihn ausbluten lassen. Erst hernach wurde ihm dieser Dorn in die Brust gerammt, sozusagen als Zeichen einer Pfählung. Er muss gelegen haben, als das Blut aus seinem Körper geronnen ist. An seiner Kleidung ist nichts davon zu sehen.«

»Oder man hat ihm etwas Frisches angezogen«, stellte Grünbrecht diese Möglichkeit in den Raum.

»Auch das ist möglich. Aber wer macht das schon?«

»Jemand, der keine Spuren hinterlassen möchte«, sagte Stern. »Der Täter hat möglicherweise dazugelernt.«

»In der Kirche haben wir eine mordsmäßige Sauerei vorgefunden«, griff Weber Sterns Überlegungen auf. »Überall ist Blut gewesen. Auf dem Pfarrer, am Boden und sogar auf dem Altar. Ich bin mir sicher, dass der Mörder davon etwas abbekommen hat. Aber hier …«, Weber deutete auf die Kleidung des Opfers, »hier ist alles sauber! Ja, ich würde sagen, der Täter hat dazugelernt.«

Stern sah Weber von der Seite her an. Hatte der Gerichtsmediziner ihm eben tatsächlich zugestimmt? Das war ja mal ganz etwas Neues.

»Meint ihr, dass wir es mit einem Serienkiller zu tun haben?«, wiederholte Grünbrecht die Frage, die sie bei der Herfahrt ihrem Chef schon gestellt hatte. Währenddessen sah sie sich die Fingernägel des Opfers genau an, um nach möglichen Abwehrspuren zu suchen.

»Nach den Einstichwunden am Hals zu urteilen kann das leicht möglich sein«, sagte Stern aber dieses Mal.

»Seht euch das hier an!« Grünbrechts Aufmerksamkeit galt nun dem Mund des Opfers. Sie war vor dem Weinhändler in die Knie gesunken und starrte aus dieser Position auf dessen Haupt, welches schlaff nach unten hing. »Ich glaube, da steckt etwas drinnen.«

»Lassen Sie mich mal ran«, forderte der Gerichtsmediziner und drängte die Beamtin zur Seite. Mit einer Pinzette holte er besagtes Etwas aus der Mundhöhle der Leiche. Es war ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Mit seinen behandschuhten Händen faltete er es auseinander.

»Was steht drauf?«, verlangte Stern zu erfahren.

Weber las vor: »Der wahre Erbe der Sünde hüllt sich in den Mantel der undurchdringbaren Zeit.«

»Was zum Kuckuck soll das bedeuten?« Stern blickte fragend in die Runde.

»Keine Ahnung. Ich hab den Sinn von diesem Text nicht wirklich verstanden«, gab Grünbrecht zu.

»Ein Rätsel!«, rief Weber begeistert. »Der Mörder hat Humor.« Aus seinem Koffer holte er eine Plastiktüte, steckte den Zettel hinein und betrachtete ihn von allen Seiten.

»Beim Pfarrer in Liebenau haben wir keine solche Nachricht gefunden, oder?«, wollte Grünbrecht wissen.

 

»Offenbar ist der Täter da noch nicht so weit gewesen, um uns eine schriftliche Botschaft zu schicken«, schlussfolgerte Stern und nahm Weber die Plastiktüte aus der Hand. »Wie er auch noch nicht so weit gewesen ist, einen sauberen Mord zu begehen. Ich frage mich, was der mit all dem Blut macht, das er seinen Opfern abzapft?«

»Der ist krank, Chef«, war Grünbrecht sich sicher. »Wir sollten ein psychologisches Gutachten anfertigen lassen.«

»Was immer ihr macht, wenn ihr mit dem da fertig seid, schickt ihn mir bitte in die Gerichtsmedizin.« Weber deutete auf den gepfählten Leichnam, ließ seinen Koffer zuschnappen und verabschiedete sich.

»Machen wir, Weber. Pfiat dich!« Stern hob zum Abschied die Hand.

»Was sagen wir der Presse?«, fragte indessen Grünbrecht. Sie blickte Weber nach, wie er den Bergschlösslpark durchquerte und auf das blaublinkende Licht der Einsatzwagen zusteuerte. »Vor dem Park lauern überall Reporter und warten, dass wir ihnen sagen, was hier los ist.«

»Noch sagen wir denen gar nichts«, antwortete Stern. »Das soll Bormann übernehmen, ist schließlich sein Job. Wir müssen den Tatort finden. Am besten, wir durchsuchen die Weinhandlung vom … wie hieß er gleich noch mal?«

Mara Grünbrecht blickte auf ihren Notizblock, wo sie sich den Namen des Opfers vorsorglich notiert hatte, und las ab: »Richard Köhlinger.«

»Also, wir durchsuchen Köhlingers Weinhandlung, seine Wohnung, das Lager und was ihm sonst noch alles gehört hat. Ich will wissen, wo er gestorben ist, und zwar schnell.« Stern schob das eingetütete Stück Papier aus dem Mund des Opfers in seine Brusttasche.

»Und wer redet mit seiner Frau?« Grünbrecht sah wie beiläufig ihren Vorgesetzten an. Das Überbringen von Todesnachrichten wollte niemand übernehmen, denn das Leid der Hinterbliebenen fing im Gegensatz zu jenem der Toten genau erst zu diesem Zeitpunkt an.

Stern seufzte. »Das mache ich. Haben Sie die Adresse?«

»Nein, aber ich frage mal bei den Kollegen nach, die ihn identifiziert haben«, erwiderte Grünbrecht sichtlich erleichtert und ging zu den Polizeibeamten, die als Erste am Tatort gewesen waren.

Indessen nutzte der Chefinspektor die Gelegenheit, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Was hatten sie alles: Einen ermordeten Pfarrer in Liebenau und einen toten Weinhändler mitten in Linz, beide auf ähnliche Weise dahingerafft, wenn man einmal davon absah, dass es in Liebenau eine Mordssauerei am Tatort gegeben hatte und hier der Fundort der Leiche erstens nicht der Tatort und zweitens dieser sauber war.

»Er wohnt in der Ziegeleistraße, nur ein paar Häuser weiter vorne. Es ist ein weißes Gebäude, welches erst vor ein paar Jahren renoviert worden ist«, meldete sich Grünbrecht zurück.

»In die Richtung?«, fragte Stern überrascht.

»Ja, die Kollegen sollen gleich die Wegstrecke bis zu seinem Haus absuchen. Vielleicht finden sie etwas, das auf den eigentlichen Tatort Rückschlüsse ziehen lässt«, kam Grünbrecht ihrem Chef zuvor.

»Machen Sie das«, erwiderte Stern zufrieden. Seine junge Kollegin wusste manchmal schon im Voraus, was er sagen wollte. Das gefiel ihm. Er war froh, dass er sie vor noch nicht allzu langer Zeit ins Landeskriminalamt nach Linz geholt hatte. Er wandte sich ab und machte sich auf den Weg zum Ausgang des Bergschlösslparks.

»Viel Glück, Chef!«, rief Grünbrecht ihm hinterher.

Stern hob die Hand, erwiderte aber nichts. Mit Glück hatte das alles nichts zu tun, dachte er, sondern vielmehr mit Erfahrung und Routine, aber das musste seine junge Kollegin erst noch lernen. Als er die Straße beinahe erreicht hatte, wusste er aber, was Grünbrecht vorhin gemeint hatte. Die Presse! Sie hatte längst Wind von den Morden bekommen und stand versammelt hinter dem Absperrband der Polizei ganz in der Nähe seines Wagens. Es würde ein Spießrutenlauf werden, ihnen zu entwischen, oder vielleicht war es gar unmöglich. Motivierte Männer und Frauen von sämtlichen österreichischen Zeitungen und TV-Sendern warteten darauf, etwas über den Ermittlungsstand zu erfahren, das sie anschließend in ihren Medien berichten konnten. Doch Stern redete nicht gern mit Reportern. Seiner Meinung nach war das die Aufgabe der Pressestelle des Landeskriminalamtes. Um aber aus dem Park zu gelangen, musste er an den mit Mikrofonen und Aufnahmegeräten bewaffneten Journalisten vorbei. Er bog vor den letzten mächtigen Parkbäumen nach rechts ab und querte die Wiese in der Hoffnung, auf diese Weise unentdeckt aus dem Park zu gelangen. Musste er halt zu Fuß zum Haus des Opfers gehen. Aber das war immerhin besser, als die Fragen der Presseleute zu beantworten.

Eine der Journalistinnen sah ihn jedoch mehrere Meter weiter vorne über das Absperrband steigen. Sie kam auf ihn zu gerannt und hielt ihm ein Aufnahmegerät unter die Nase.

»Chefinspektor Stern! Stimmt es, dass es sich hierbei um einen weiteren Vampirmord handelt?«, fragte Eleonore Winkler, die Chefreporterin der OÖ. News. Geschickt heftete sie sich an Sterns Fersen, denn er hatte sich abgewandt und eilte die Ziegeleistraße hinan.

»Stern! Stimmt es, dass der Pfarrer im Mühlviertel in seiner eigenen Kirche auf dem Altar ermordet worden ist?«, rief die Reporterin nun lauter, um Sterns Aufmerksamkeit zu erlangen. Die erhielt sie auch, aber nicht nur seine, sondern auch die der am Absperrband verbliebenen Kollegen. Die reagierten prompt auf ihre Aussage wegen des ungewöhnlichen Orts, an dem der Pfarrer ermordet worden war. Einige von ihnen machten sich eifrig Notizen, andere sprachen in ihre Aufnahmegeräte. Ein paar folgten ihnen die Ziegeleistraße hoch. Es hatte den Anschein, als hatte sich die Art des Todes des Liebenauer Pfarrers doch noch nicht überall herumgesprochen, was Stern nach der Auskunftsfreudigkeit des hiesigen Revierinspektors schon ein wenig wunderte. Aber nun war die Katze wohl endgültig aus dem Sack, und er sah sich genötigt, ein gewichtiges Wort zu sprechen.

»Frau Winkler, Sie müssten es doch eigentlich besser wissen. Ich gebe zu laufenden Ermittlungen keine Kommentare ab, das habe ich noch nie getan und werde heute auch nicht damit anfangen.« Stern war bemüht, die Frau anzulächeln, wenngleich es ein wenig gekünstelt wirkte.

»Chefinspektor Stern, Sie könnten doch nur eine klitzekleine Andeutung machen.« Die Stimme der Frau veränderte sich von zuvor fordernd in zuckersüß. Anscheinend hatte sie ihre Strategie, wie sie am besten zu Informationen gelangen konnte, geändert. Das wiederum empfand Stern als amüsant.

»Nein, Frau Winkler. Wenden Sie sich an die Presseabteilung des Landeskriminalamtes. Das gilt übrigens für alle.« Er drehte sich um und wollte weitergehen, als ihm die Journalistin etwas hinterherrief, das ihn innehalten ließ.

»Wenn Sie mir ein kurzes Interview geben, verrate ich Ihnen etwas über den Pfarrer von Liebenau.«

Diese Nachricht ließ Stern augenblicklich erstarren. Er drehte sich um und fragte: »Was haben Sie da eben gesagt?«

»Sie haben schon richtig gehört! Wenn Sie mir helfen, helfe ich Ihnen. Eine Hand wäscht die andere, so heißt es doch?« Nun war es an Eleonore Winkler zu lächeln, was Stern sofort an eine Spinne denken ließ, die nach vollzogenem Akt das Männchen verspeiste. Andererseits musste er eingestehen, dass die Reporterin in ihrem Job wirklich gut war. In nur kürzester Zeit hatte sie die Zusammenhänge zwischen dem Mord in Liebenau und jenem hier im Bergschlösslpark hergestellt. Er selbst wusste gerade mal wenige Stunden davon.

»Sie wissen schon, dass es verboten ist, den Polizeifunk abzuhören«, schoss er ins Blaue und traf damit voll ins Schwarze.

Winklers Haltung änderte sich kaum. »Sie kennen doch den Spruch: Brave Mädchen kommen in den Himmel und die bösen überall hin.«

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