Mühlviertler Blut

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»Ist gut. Ich trinke rasch mein Bier aus.« Stern deutete auf das Glas, das vor ihm stand, und überlegte immer noch, ob er nicht doch das Angebot wegen des Schweinsbratens annehmen sollte.

»Gute Nacht, Chef!« Grünbrecht wandte sich ab und verließ die Gaststube.

»Gute Nacht«, brummte Stern und nahm einen weiteren Schluck. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er so durstig war. Langsam beruhigte sich sein Magen. Scheinbar war der froh, zu dieser späten Stunde überhaupt noch etwas zu kriegen. Mit dem Handrücken wischte er den Schaum über seiner Oberlippe weg.

»Haben S’ schon was rausg’funden?«, rief einer der Männer vom Stammtisch zu Stern herüber. Ein langer, grau melierter Bart und eine grüne Jacke ließen den Mann aussehen wie einen Förster aus einem Heimatfilm.

»Wer will das wissen?«, fragte Stern eine Spur zu provokant, packte dennoch seine Halbe und ging zu dem Stammtisch hinüber. Er konnte sich nicht erinnern, einen der hier sitzenden Männer im Pfarrsaal bei den Vernehmungen gesehen zu haben. Dabei wusste Stern, dass der Tratsch im Wirtshaus ausführlicher lief als jener auf der Straße. Da gab es ausnahmsweise keinen Unterschied zwischen Stadt und Land. Das war überall gleich.

»Der Hartmeier Georg will das wiss’n«, kam es postwendend zurück.

»Nun, Hartmeier Georg, ich weiß genug, um mir ein Bild über den Pfarrer zu machen«, log Stern. »Wer ihn gemocht hat und wer nicht, wer was von ihm gehalten und wer ihn verteufelt hat. Wie steht es da mit Ihnen?« Stern blieb vor der Stammtischrunde stehen und blickte die Männer der Reihe nach an.

»Mit mir? Ich hab ihn gar nicht richtig g’kannt«, sagte Hartmeier und grinste.

»Sie müss’n wissen, Herr Chefinspektor, dass sich der Hartmeier kein einziges Mal in der Kirche hat blicken lassen«, erklärte ein anderer aus der geselligen Runde. »Nicht einmal beim Begräbnis seiner Mutter ist er dort g’wesen, und das will was heißen!« Der Mann hob sein Glas und prostete zuerst dem Hartmeier Georg und dann dem Chefinspektor zu. Die anderen taten es ihm gleich. Daraufhin setzte Stille ein, da alle aus ihren Gläsern tranken.

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«, hakte Stern nach, als alle ihre Biergläser auf den Tisch gestellt hatten.

»Das erzähl ich Ihnen, wenn Sie sich zu uns setzen«, schlug Hartmeier vor. »Einen Chefinspektor von der Kripo hab’n wir schließlich nicht alle Tage bei uns.«

Die Männer rückten zusammen und machten für den Chefinspektor Platz. Der schob seinen Hintern auf die Bank und wartete auf die Fortsetzung der Hartmeier-Kirchengeschichte.

»Das ganze heilige Zeug ist nix für mich. Aber ich glaub, der Pfarrer ist trotzdem kein schlechter Kerl g’wesen.« Hartmeier war plötzlich ernst geworden. Die anderen Männer nickten zustimmend.

»Und er hat gar nicht so übel Karten g’spielt!«, meinte ein anderer.

»Ja, er hat auch ganz schön was vertragen, sag ich Ihnen. Schnaps, meine ich.« Wieder nickten alle.

»Wer könnte Ihrer Meinung nach einen Grund gehabt haben, den Pfarrer zu ermorden?«, wollte Stern wissen. Wie es aussah, erfuhr er von dieser gesprächigen Runde in fünf Minuten mehr als vom restlichen Dorf die halbe Nacht über, und das auch noch mit einem Glas Bier in der Hand. Doch auf seine zuletzt gestellte Frage antworteten die Männer mit ratlosem Blick.

»Wenn Sie so frag’n: keiner«, behauptete Hartmeier. »Unser Pfarrer hat die Frömmigkeit ja regelrecht im Blut g’habt. So einen ermordet man nicht, nur weil einem grad danach ist. Da muss was ganz Schlimmes vorgefall’n sein.«

»Was könnte das denn gewesen sein?«, bohrte Stern nach.

»Um was geht es denn immer? Um Geld, oder?« Der Mann, der dies sagte, schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Der Biermann Karl«, antwortete der Faustschläger und erklärte, dass sich sein Bruder eben von seiner Frau hatte scheiden lassen und dabei nicht nur Haus, sondern auch jeden Cent verloren hatte. Eine Blutsaugerin sei seine Schwägerin gewesen, meinte er, genauso wie der Mörder des Pfarrers, der dem armen Gottesmann laut dem Bericht des Revierinspektors jeden einzelnen Tropfen Blut ausgesaugt hatte. Und sein Bruder hätte wegen der ganzen Schweinerei wieder bei null anfangen müssen, oder bei weniger als null, wobei die Stammtischrunde sich nicht ganz einig war, wo die Skala dafür anzusetzen war. Daraufhin genehmigte sich der Biermann Karl mehrere kräftige Züge des herben Gebräus, als wären es sein Haus und sein Geld gewesen, das bei der Scheidung flöten gegangen war. Als er das Glas geleert hatte, winkte er die Wirtin herbei, um nachzutanken.

»Aber so ein Pfarrer hat doch gar kein Geld«, mutmaßte ein anderer. »Also kann es nicht ums Geld gegangen sein.«

»Vielleicht ist er ja wegen einer Frau um’bracht worden?«, stellte ein anderer diese These in den Raum. Daraufhin brach schallendes Gelächter aus. »Was? Habt ihr noch nie was davon g’hört, dass auch Priester nur Männer sind und ihre Liebschaften pflegen? Ist doch nicht einmal so selten!«

»Aber doch nicht unser Pfarrer«, entgegnete Hartmeier entschieden.

»Warum denn nicht? Stille Wässer sind bekanntlich tief, sicher auch so ein Weihwasser wie der Pfarrer.«

Daraufhin herrschte für einen Augenblick Schweigen. Die Biertischrunde schien sich die Möglichkeit, dass ihr Pfarrer eine Geliebte gehabt haben könnte, durch den Kopf gehen zu lassen. Man las ja viel in den Zeitungen, dass die Kirchenleute gar nicht so fromm waren, wie sie behaupteten, und dass einige von ihnen ein aufregenderes Sexleben führten als so mancher brave Familienvater. Aber der Liebenauer Pfarrer?

»Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, beendete Biermann seine Überlegungen und begoss diese Erkenntnis mit einem kräftigen Schluck aus seinem Glas. Danach wischte er mit dem Ärmel über seinen Mund und erhob sich mit den Worten: »Für heut’ hab ich genug!« Er legte einen 20-Euro-Schein auf den Tisch und verließ das Gasthaus.

»Wenn es nicht ums Geld geht und auch nicht um die Liebe, dann geht es um Macht«, ließ Hartmeier aufhorchen.

»Wie meinen Sie das? Welche Macht soll ein Pfarrer denn haben?« Stern wartete gespannt auf die Antwort des Hartmeiers.

»Unterschätzen S’ das nicht, Herr Chefinspektor. So ein Pfarrer kennt alle Sünden von den Leuten. Schließlich rennen auch alle zu ihm beichten wie die Viecher zum Futtertrog. Da ist sicher das eine oder andere dabei, aus dem man Kapital schlagen könnte. Natürlich nur, wenn man das auch will! Aber funktionieren täte das schon, da bin ich mir ganz sicher.«

»Spielen Sie auf etwas Bestimmtes an?« Stern hoffte, endlich auf einen konkreten Hinweis zu stoßen. Dieses an den Haaren herbeigezogene Verdächtigen des Nachbarn, weil der einem nicht zum Gesicht stand und man ihm endlich eins auswischen konnte, oder das von Rache geprägte Denunzieren der Nachbarin, weil die am Sonntagvormittag lieber in die Rostbar pilgerte als in die Kirche, hatte er sich schon den ganzen Nachmittag über anhören müssen. Davon hatte er genug.

»Nein, nichts Bestimmtes. Ich sitze ja nicht im Beichtstuhl auf dem Schoß vom Pfarrer.« Georg Hartmeier grinste. »Aber interessant wär’s schon. Da würden wir gern ein Mäuschen sein wollen, gell?«

»Also nichts Bestimmtes«, wiederholte Stern enttäuscht.

»Fragen S’ doch mal die Herta, die Pfarrersköchin«, schlug Hartmeier noch immer grinsend vor.

»Die Herta Bachmeier? Etwa die mit den roten Haaren?«

»Ja, genau die meine ich. Die Frau ist ein Unikat.«

»Wohl eher ein Ungeheuer!«, schrie einer der Männer grölend heraus.

»Mit der hab ich schon gesprochen.« Stern erinnerte sich genau an das Gespräch, welches ihm aber auch nicht weitergeholfen hatte.

»Und? Was hat sie g’sagt, die Herta?«

»Dass der Pfarrer ein lieber Mensch gewesen ist und sie keine Ahnung hat, wer ihm das angetan haben könnte.«

»Sonst nix?« Hartmeier blieb hartnäckig.

»Nein, sonst nichts.«

»Da müssen S’ aber noch mal ran, Herr Chefinspektor. Die Herta Bachmeier weiß alles, was es in Liebenau zu wissen gibt, auch, welche Unterwäsche Sie gerade tragen.« Da waren sich die Männer ausnahmsweise mal einig und nickten zustimmend.

»Na, dann werde ich das morgen noch mal tun«, sagte Stern, bedankte sich für den Tipp mit der Pfarrersköchin, trank sein Bier aus und verabschiedete sich von der geselligen Runde. Es war ein langer Tag gewesen, und er war hundemüde.

Grünbrecht hatte seine Reisetasche vor der Tür der Gaststube abgestellt. Er hatte nur wenige Sachen eingepackt, da er ja gehofft hatte, dass sie in ein paar Tagen den Fall aufgeklärt hätten. Wenn er sich da nur mal nicht täuschte! Die Liebenauer schienen zwar ein geselliges Völkchen zu sein, aber wenn es um einen aus ihren Reihen ging, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.

Stern nahm die Reisetasche und machte sich damit auf die Suche nach seinem Zimmer. Die Treppe hinauf und dann links, hatte die Wirtin gesagt und auch, dass er und Grünbrecht die schönsten Gästezimmer bekommen hätten. Zwischen den Zeilen glaubte Stern herausgehört zu haben, dass das Gasthaus nicht voll belegt war, da das im Ort befindliche Hotel dem Brücklwirt gehörig Konkurrenz machte und immer wieder Gäste wegschnappte. Gerade im Sommer kamen viele Touristen nach Liebenau, um in einer völlig intakten Natur zu wandern und die Ruhe und die gute Luft zu genießen. Das Ortszentrum war das höchstgelegene in ganz Oberösterreich, und mit seinen 76 Quadratkilometern war Liebenau die größte Gemeinde im Mühlviertel. Doch der wahre Anziehungsmagnet für die Menschen stellte das Tannermoor dar, welches zu den größten Latschenhochmooren Österreichs zählte und mit einem Reichtum an seltenen Pflanzen und Tieren aufwarten konnte. Das alles hatte Stern aus den Zeugenaussagen im Pfarrsaal erfahren, nur nicht, wer den Priester ermordet haben könnte.

 

Vor der Tür mit der Nummer Sieben angelangt steckte er den Schlüssel ins Schloss, drückte die Klinke nach unten und betrat das Zimmer. Möbel aus hellem Holz empfingen ihn sowie ein mindestens 43 Zoll großer Flachbildfernseher. Da hatte der Dienststellenleiter ausnahmsweise einmal recht gehabt, als er Stern prophezeit hatte, dass es ihm in Liebenau nicht an Fernsehgeräten mangeln würde. Den Boden zierte ein roter Teppich, und ebenso farbige Vorhänge säumten seitwärts das Fenster, das einen Blick hinaus auf Liebenau gewährte. Das Zimmer strahlte Gemütlichkeit aus, fand Stern, und wäre nicht der Mord an dem Pfarrer, so könnte er sich hier durchaus wohlfühlen. Er warf rasch einen Blick in das Badezimmer, welches weiß gefliest war und ziemlich neu aussah. Dicke rote Handtücher lagen in einem schmalen Regal, und ein frischer Duft drang aus einem unter dem Spiegel stehenden Potpourri aus getrockneten Obstschalen und Blütenblättern.

Stern stellte die Reisetasche neben dem Bett ab. Indem er mit dem jeweils anderen Fuß auf seine Fersen stieg, schlüpfte er aus den Schuhen und ließ sich rücklings in das Bett fallen. Die Decke raschelte und würde es ihm schwermachen einzuschlafen. Am Nachttisch lag eine Bibel. Dieser ungewollte Fingerzeig auf den Mord am Pfarrer entlockte Stern einen tiefen Seufzer. Am Kopfpolster war mittig eine Schokoladenpraline platziert, ein gern gesehener Willkommensgruß, gerade heute, wo Sterns Magen lediglich mit Bier gefüllt war und er noch immer Hunger verspürte. Er nahm die Schokolade und löste sie aus dem Papier. Dann steckte er sie in den Mund und ließ sie auf der Zunge zergehen. Grünbrechts Aussage, dass sich zu dieser Zeit jedes Gramm, das man verzehrte, doppelt um die Hüften anlegte, fiel ihm wieder ein. Aber wie viel wog schon so eine Praline? Zwei Gramm. Oder waren es fünf? Bestimmt war ihr Gewicht kaum der Rede wert.

Nachdem die süße Verführung Sterns Gaumen passiert und die Speiseröhre hinuntergerutscht war, kreisten seine Gedanken wieder um den Mord. Es quälte ihn, dass sie noch keine handfesten Hinweise hatten. Es schien, als säßen er und Grünbrecht für längere Zeit in Liebenau fest, wenn nicht etwas Unvorhersehbares geschah. Dass dieses Unvorhersehbare längst geschehen war, wusste er natürlich nicht.

3. Kapitel

Am nächsten Morgen saßen Stern und Grünbrecht in der Gaststube des Brücklwirts und frühstückten. Während Stern drei Semmeln mit Butter und Marmelade auf seinen Teller lud, pickte Grünbrecht, wie erwartet, ein paar Körner aus einer Müslischüssel. Der Chefinspektor hatte schlecht geschlafen. Ihm hatte der Straßenlärm, der ihn in seiner Wohnung in der Linzer Herrenstraße jede Nacht sanft in den Schlaf lullte, gefehlt. Hier war es in der Nacht mucksmäuschenstill. Kein einziger Laut war zu hören gewesen, außer dem Knistern des Bettzeugs. Nun saß er übelgelaunt am Frühstückstisch, woran auch die zweite Tasse Kaffee nichts ändern konnte, während Grünbrecht heiter an ihrem Kräutertee nippte. In solchen Situationen spürte er, dass der Zahn des Alterns an ihm nagte und er nicht mehr ganz so fit und belastbar war wie früher.

»Wir müssen noch mal mit der Pfarrersköchin reden«, sagte er mit vollem Mund.

»Mit dieser Herta Bachmeier?« Grünbrecht blickte kurz von ihrem Haferflockengemisch auf.

Stern nickte, ließ aber keine weitere Erklärung folgen.

»Wollen Sie jetzt doch wissen, welche Gefühle sie gehabt hat, die sie uns eventuell hätte erzählen wollen«, stichelte Grünbrecht und nahm einen weiteren Schluck von ihrem Tee.

»Die Männer von der Stammtischrunde haben gestern gemeint, dass sie alles wüsste, was es in Liebenau zu wissen gibt«, erklärte Stern seine Absichten, ohne auf die Anspielung von Grünbrecht wegen der Gefühle der Pfarrersköchin einzugehen. »Das impliziert auch Fakten rund um den Tod des Pfarrers.«

»Sie haben sich also mit der hiesigen Stammtischrunde angefreundet«, schlussfolgerte Grünbrecht.

»Angefreundet ist zu viel gesagt, aber man kann ja nie wissen, für was das gut ist, wenn man Kontakte in der Bevölkerung knüpft.« Stern biss in die Semmel, die dick mit Butter und Marmelade bestrichen war, und genoss die Süße des Aufstriches. Das üppige Frühstück entschädigte ihn für den schlechten Schlaf.

»Dann holen wir die Bachmeier halt noch einmal zur Vernehmung her.« Grünbrecht trank den Rest ihres Tees aus und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. Dann zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Revierinspektors.

»Plattlbauer!«, meldete der sich nach dem ersten Läuten.

»Guten Morgen, Herr Kollege, hier ist Mara Grünbrecht. Bitte bringen Sie uns doch die Pfarrersköchin zur Vernehmung ins Pfarramt, sagen wir in zehn Minuten?«

Stern bekam große Augen. Eine Semmel lag noch unberührt auf seinem Teller, und er beabsichtigte, sie auf jeden Fall zu verspeisen. Was wusste er schon, wann er das nächste Mal etwas zu essen bekäme? Aber ob er das in der kurzen Zeit schaffte und dann schon im Pfarramt anwesend war, wenn die Bachmeier eintraf, konnte er nicht sagen.

»Gut, dann bis nachher.« Die Gruppeninspektorin beendete das Telefonat und sah Stern an.

»Was?«, fragte er. Ihm war zwar Grünbrechts durchdringender Blick aufgefallen, dennoch wollte er sein Frühstück nicht halb aufgegessen zurücklassen.

»Wir müssen gehen«, erinnerte Grünbrecht ihn an das eben geführte Telefonat mit dem Revierinspektor.

»Ich bin auch gleich fertig.« Stern schob die letzten Reste der zweiten Semmel in seinen Mund.

»Wir haben keine Zeit mehr, Chef. Plattlbauer bringt die Pfarrersköchin in zehn Minuten ins Pfarramt. Außerdem haben Sie eh schon zwei von denen verdrückt.« Grünbrecht deutete auf das letzte verbliebene Gebäck auf Sterns Teller. In ihrer Stimme lag Tadel. Sie stand vom Tisch auf und blieb daneben stehen. Hastig schnitt Stern die Semmel in der Mitte auf, klatschte Butter und Marmelade hinein, trank nebenbei seinen Kaffee aus und legte dann das Oberteil des Gebäcks auf das Unterteil. Wenn dieser Fall in Liebenau noch länger dauerte und er mit Grünbrecht hier zusammen festsaß, würde er bald ein paar Kilos weniger auf den Rippen haben, dachte er wehmütig, wenngleich das seiner Figur nicht schaden würde. Er griff nach der Semmel und verzehrte sie auf dem Weg ins Pfarrhaus.

Als sie durch Liebenau gingen, fiel ihm die Ruhe auf, die heute herrschte. Der Trubel vom Vortag hatte sich aufgelöst. Ein paar Liebenauer standen am Straßenrand und unterhielten sich, wahrscheinlich über den Mord an dem Pfarrer. Stern hatte nicht den Eindruck, dass sie anschließend gestresst weiterhetzen würden, wie es in der Stadt oftmals der Fall war, da man noch rasch dieses und jenes zu erledigen hatte. Die Menschen hier nahmen sich Zeit, um miteinander zu plaudern, auch wenn sie nur den neuesten Tratsch verbreiteten. Desgleichen rollten die Autos gemächlich durch den Ort, als käme niemand zu spät zur Arbeit. Keiner hupte, keine Reifen quietschten. Alle waren freundlich und grüßten einander. Nicht so wie in der Stadt, wo jeder den Kopf wie eine Galapagos-Schildkröte einzog, um vorzugaukeln, man hätte den jeweils anderen nicht gesehen. Manch einer wechselte sogar die Straßenseite, um sicherzugehen, dass auch der andere einen nicht bemerkte. Nicht aber so in Liebenau. Das hier war ein gemütlicher Ort, und die Liebenauer waren scheinbar gemütliche Leute.

»Kommen Sie nun?«, riss Grünbrecht Stern aus seinen Beobachtungen. Er war stehen geblieben, ohne dass es ihm aufgefallen war. Grünbrecht hingegen legte wie gewohnt die typische Umtriebigkeit eines Kriminalbeamten an den Tag, dachte er und ließ den Rest der Frühstückssemmel in seinem Mund verschwinden. Dann folgte er seiner Kollegin.

»Guten Morgen, Herr Chefinspektor!« Dieser freundliche Gruß wurde ihm von einem ihm unbekannten Mann mit Hut und Trachtenhemd mitten auf der Straße entgegengebracht. Auch das war am Land anders. In der Stadt käme niemand auf die Idee, einen völlig fremden Menschen, der einem auf der Linzer Landstraße, Linz’ größter Einkaufsmeile, zufällig über den Weg lief, zu grüßen.

Stern erwiderte den Gruß, was der Mann zum Anlass nahm, ihm auch noch seine von der Arbeit raue Hand entgegenzustrecken und zu fragen, ob es denn schon etwas Neues im Fall des ermordeten Priesters gäbe. Stern ließ sich seine Überraschung nicht anmerken.

»Nein, aber die Ermittlungen haben ja gerade erst begonnen«, antwortete er zurückhaltend. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Natürlich, entschuldigen Sie. Ich bin der Ecklbauer. Mir gehört eine Landwirtschaft in Liebenau, gleich dort hinten.« Der Mann deutete Richtung Süden.

»In welcher Beziehung standen Sie zum Pfarrer?«

»Ich bin in die Kirch g’angen, wenn S’ das meinen.«

»Näher kannten Sie den Pfarrer nicht?«

»Bei der Taufe unserer Kinder – da ist er natürlich auch dabei g’wesen.«

»Wann ist das gewesen?« Stern zog seinen Notizblock heraus, um die Fakten aufzuschreiben, die er erwartete, gleich zu hören.

»Vor zehn und zwölf Jahren.«

Stern starrte den Mann einen Augenblick an. »Ist das alles?«

Der Mann nickte. Stern steckte den Block unbeschrieben weg.

»Nach der Kirche am Sonntag, da hört man so einiges. Da reden die Leut miteinander. Fragen S’ mal den Fleischer! Der kann Ihnen vielleicht weiterhelfen.« Der Mann tippte sich zum Abschied an die Hutkrempe und schlenderte weiter.

»Der Fleischer … hm.« Stern zog seinen Notizblock erneut aus der Tasche und schrieb Fleischer darauf, damit dort zumindest irgendetwas stand. Und Ecklbauer schrieb er auch. Ein übrigens sonderbarer Mann, der ihn angesprochen hatte, um einen anderen Spieler auf dem Brett zu positionieren. Aber wahrscheinlich war auch das, wie das ganze andere Zeug, das die Liebenauer bis jetzt zu Protokoll gegeben hatten, für den Fall bedeutungslos.

Stern blickte dem Ecklbauer hinterher und ging dann weiter zum Pfarramt, wo Grünbrecht vor der Tür auf ihn wartete. Gemeinsam betraten sie den provisorischen Vernehmungsraum, wo Revierinspektor Plattlbauer hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte und aufsprang, als er die Kriminalbeamten eintreten sah. Vor dem Tisch auf einem Stuhl saß die Pfarrersköchin. Sie präsentierte sich heute in einem weiteren schrillen Outfit. Ihre Beine steckten in einer giftgrünen Hose, darüber schlapperte eine mindestens um drei Nummern zu große lilafarbene Weste. Darunter trug sie ein rotes T-Shirt mit einer schwarzen Katze auf der Brust. Die Frau passte so überhaupt nicht in diese ländliche Gegend, dachte Stern, und sie passte auch nicht in sein Bild einer Pfarrersköchin. In der Stadt, da fände sie schon ihresgleichen. Aber hier in Liebenau erregte sie bestimmt mehr Aufsehen, als so manchem lieb sein dürfte.

»Guten Morgen«, sagte der Chefinspektor und nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem zuvor der Revierinspektor gesessen hatte. Die Sitzfläche war sogar noch warm, fiel ihm auf, und er warf dem ländlichen Kollegen einen maßregelnden Blick zu. Der stellte sich sogleich neben Grünbrecht, als wollte er salutieren, und verschränkte im Rücken die Hände.

»Frau Bachmeier«, begann Stern mit der Befragung. »Sie sind ja die Pfarrersköchin.«

»Ich war die Pfarrersköchin«, stellte Herta Bachmeier richtig. »Wie es aussieht, bin ich jetzt nur noch Köchin.« Ein gequältes Lächeln umrahmte ihre leuchtend rot geschminkten Lippen.

»Sie haben mir bei unserem ersten Treffen nicht alles gesagt«, kam Stern gleich zur Sache.

»Wahrscheinlich haben Sie mir nicht die richtigen Fragen gestellt«, konterte die Frau. Ihre stark mit schwarzem Kajal umrandeten Augen blickten Stern herausfordernd an. Anscheinend wirkte seine ansonsten bei Otto Normalverbraucher oftmals Angst einflößende Erscheinung bei ihr nicht. Stern nahm sich vor, diese Frau genauer zu durchleuchten. Hatte sie ihn bei ihrem ersten Zusammentreffen noch glauben lassen, dass sie die naive Köchin des Pfarrers wäre, so hatte die Stammtischrunde behauptet, dass sie alles wüsste, was es in Liebenau zu wissen gab. Demnach standen die Chancen gut, dass sie auch die Geheimnisse ihres Chefs kannte. Und unter diesem schrillen Outfit könnte ja durchaus eine Mörderin stecken, fand Stern, dem ohnehin alles von der Norm Abweichende suspekt war.

»Dann stelle ich heute hoffentlich die richtigen Fragen«, sagte er schroff.

»Was wollen S’ denn wissen?«, fragte die Bachmeier kokett. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Alles, was erwähnenswert ist. Aber vor allem, ob Ihnen jemand einfällt, der dem Pfarrer das angetan haben könnte.«

 

Herta Bachmeier blickte auf ihre knallrot lackierten Fingernägel und schien zu überlegen, was sie den Inspektoren anvertrauen wollte.

»Hören Sie, wir werden hier nicht eher rausgehen, bevor Sie nicht meine Fragen beantwortet haben«, stellte Stern klar. »Hatte der Pfarrer irgendwelche Feinde?«

»Also, wenn Sie mich fragen, sollten Sie im Wirtshaus nach dem Täter suchen.«

»Beim Brücklwirt?« Stern war über diese Antwort überrascht. Ein interessanter Schlagabtausch zwischen der Stammtischrunde und der Pfarrersköchin schien sich anzubahnen.

»Ja, beim Brücklwirt.«

»Warum?«

»Alle Mannsbilder gehen doch ins Wirtshaus, so auch der Pfarrer. Und seit einem halben Jahr ist er sogar mehr, als für ihn gut gewesen ist, dorthin gegangen, mindestens jeden zweiten Tag, manches Mal sogar jeden Tag.« Auf der Stirn der Pfarrersköchin bildeten sich missbilligende Falten.

»Was hat er dort gemacht? Hat er sich mit jemandem getroffen?«

Die Frau überlegte kurz, bevor sie antwortete: »Warum geht man denn in ein Wirtshaus? Natürlich, um sich mit jemandem zu treffen. Sich bloß ansaufen könnte man daheim auch.«

»Ich hab gemeint, ob der Pfarrer sich mit jemand Bestimmtem getroffen hat?«, führte Stern näher aus.

»Das weiß ich doch nicht! Ich hab ihn nicht g’fragt.«

»Aber gefallen hat es Ihnen auch nicht.«

»Ein Pfarrer, der ständig im Wirtshaus sitzt … Wem gefällt so etwas schon? Mir nicht, das können S’ mir glauben.«

»Und wie ist der Pfarrer so als Chef gewesen?«, mischte sich Grünbrecht in die Befragung ein. Sie hatte sich dezent im Hintergrund gehalten, wollte aber auch diese Seite der Pfarrer- und Pfarrersköchin-Beziehung durchleuchten.

»Ganz okay, würde ich meinen.«

»Und mit Ihrem … Erscheinungsbild …«, Stern deutete auf die bunten Klamotten der Frau, »hat er kein Problem gehabt?«

»Nein, das ist ihm egal gewesen. Für die Leute, die anders sind und anders denken, hat er schon immer ein offenes Ohr gehabt.« Die Frau strich eine Falte in ihrer Weste gerade und lächelte. Wahrscheinlich dachte sie an so manche Begebenheiten mit dem Pfarrer in dieser Angelegenheit.

»Sein offenes Ohr für solche Dinge hat ihm doch sicher ein paar Kritiker eingebracht.«

Das Lächeln aus dem Gesicht der Pfarrersköchin verschwand. »Davon weiß ich nichts. Mir gegenüber hat er nie etwas erwähnt, dass irgendjemandem das nicht gepasst hätte.«

»Hat der Pfarrer möglicherweise ein Alkoholproblem gehabt?«, fragte Grünbrecht.

»Ist doch irgendwie naheliegend, oder? Wenn einer plötzlich ständig ins Wirtshaus pilgert.« Die Pfarrersköchin redete nicht weiter, aber es war ihr anzusehen, was sie davon hielt.

In diesem Augenblick läutete Sterns Handy. Normalerweise schaltete er es während einer Vernehmung ab, aber hier in Liebenau hatte er nicht damit gerechnet, dass ihn überhaupt ein Anruf erreichen würde, wegen möglicherweise fehlender Handymasten.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er und blickte auf das Handy. Dominik Weber, der Gerichtsmediziner. Da musste er rangehen. Er stand auf und wischte gleichzeitig über das Display.

»Grüß dich, Weber. Was gibt’s?« Er stellte sich ein wenig abseits, um ungestört telefonieren zu können.

»Grüß dich, Stern. Recht viel Neues gibt es nicht, aber der Pfarrer ist tatsächlich verblutet, so wie ich es dir schon gesagt habe, und zwar durch die Ruptur seiner Halsschlagader. Ein Einstich mit einem spitzen Gegenstand hat sie perforiert, sodass es eine Weile gedauert hat, bis es zum tödlichen Blutverlust gekommen ist. Die beiden Einstiche liegen circa dreieinhalb Zentimeter auseinander, aber nur einer hat die Schlagader erwischt. Der Mörder hat sein Opfer vorher betäubt und demnach ein leichtes Spiel gehabt. Außerdem hat dadurch das Herz weiterhin geschlagen, und das Blut wurde bis zum Exitus aus der Wunde gepumpt, deshalb auch die ganze Schweinerei am Tatort. Der Verlust von eineinhalb Litern Blut führt zu Durst- und Schwächegefühl, die Atmung beschleunigt sich, der Betroffene verspürt Angst. Ich kann nicht sagen, ob unser Opfer davon etwas mitbekommen hat, wir haben Ketamin in seinem Körper gefunden, und das nicht zu wenig. Mit zwei Litern Blutverlust fühlt man sich dann schon verwirrt, schwindelig und verliert schließlich das Bewusstsein. Wenn zu jener Zeit keine Hilfe kommt, erfolgt der Zusammenbruch des Blutkreislaufes.«

»Und die Tatwaffe?«

»Ein langer, spitzer Gegenstand wie eine dünne Stricknadel, ein Stichel, Schraubenzieher, eine Kanüle, etwas in der Art.«

»Stricknadeln und Schraubenzieher gibt es doch in jedem Haushalt. Das schränkt den Täterkreis nicht besonders ein.«

»Nein, da hast du recht. Aber es könnte auch ein Vampir gewesen sein.« Der Gerichtsmediziner lachte am anderen Ende der Leitung.

Stern verdrehte die Augen. »Danke dir trotzdem, Weber.« Dann legte er auf.

»Ich besitze keinen Schraubenzieher, nur Stricknadeln«, sagte Herta Bachmeier wie beiläufig. Sie hatte jedes Wort mitgehört, obwohl Stern während des Telefonats ein paar Schritte zur Seite getreten war. »Aber ich bin mir sicher, dass irgendwo im Pfarrhaus auch ein Schraubenzieher zu finden sein wird. Vielleicht sogar zwei.«

»Dann können wir Sie als Täterin leider nicht ausschließen«, antwortete Stern und wartete gespannt auf die Reaktion der Pfarrersköchin. Die hielt ihm die Hände entgegen und sagte: »Dann sperren S’ mich halt ein! Und Sie kommen gleich mit, weil S’ das Kreuz gestohlen haben.«

»Welches Kreuz?« Stern war verwirrt und sah zuerst die Bachmeier und dann Grünbrecht an. Die zuckte mit den Schultern. Und Plattlbauer hatte sowieso keine Ahnung, was gerade los war.

»Na, das einmal dort hinten an der Wand gehangen hat!« Herta Bachmeier deutete auf die Mauer hinter den Kripobeamten, wo ein heller Fleck in Form eines Kreuzes zu sehen war. Anscheinend hatte das Kreuz viele Jahre dort gehangen, ohne dass es jemand abgenommen hatte. Zumindest, bis sie hier aufgetaucht waren.

»Warum denken Sie, dass wir das Kreuz gestohlen haben?«, hakte Grünbrecht nach.

»Das hat mir die Hintersteinerin erzählt«, kicherte die Bachmeier. »Und Sie wissen schon, dass das unser Herr Jesus Christus ist, Sie Atheisten, Sie! Den kann man nicht einfach verschwinden lassen, nur weil er nicht mehr an der Wand hinter einem hängt. Der sieht dich überall, ganz egal, wo man selber steckt und wo man das Kruzifix hinlegt. Wissen S’ denn gar nichts? Wie wollen S’ dann bloß diesen schlimmen Mord aufklären?« Ratlos blickte Herta Bachmeier unter ihren stark getuschten Wimpern von Stern zu Grünbrecht. Beinahe sah es aus, als hätte sie Mitleid mit den Kripobeamten, die offenbar glaubten, wenn man das Kreuz von der Wand nahm, verschwände auch Jesus. »Wissen S’ was, ich helfe Ihnen!«

Wieder läutete Sterns Handy.

»Wie es aussieht, schaffen S’ das alleine ja sowieso nicht. Außerdem brauchen S’ eine Sekretärin, sonst bringen S’ außer ständig zu telefonieren und Kreuze abzunehmen gar nix zustande«, meckerte die Bachmeier, bevor Stern das Gespräch annehmen konnte. Er starrte auf den hellen Fleck an der Wand und hoffte, dass, wenn es einen Gott gab, ihn der von dieser Frau, die sich gerade zu einer Nervensäge entwickelte, befreien würde.

»Stern!«, brüllte er in das Handy, als träge der Anrufer die Schuld an seiner schlechten Laune.

»Bormann hier. Warum brüllen Sie denn so, Stern?« Der Dienststellenleiter dachte bestimmt, dass Stern noch immer sauer auf ihn war, weil er ihn ins tiefste Mühlviertel geschickt hatte. Jedoch hatte sich der Ärger des Chefinspektors beim Anblick der Leiche auf dem Altar in Luft aufgelöst, da er erkannt hatte, dass hier tatsächlich seine Anwesenheit vonnöten war. Grünbrecht hätte den Fall allein niemals übernehmen können, dafür war sie noch nicht lange genug beim LKA, und außerdem konnte er sich die Fußballspiele der Weltmeisterschaft auch später in der Mediathek des österreichischen Fernsehens ansehen.