Mühlviertler Blut

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»Na, geht’s wieder?« Stern stellte sich vor Plattlbauer und verdeckte ihm mit seinem fülligen Körper die Sicht auf den ausgebluteten Pfarrer.

Der Revierinspektor nickte, zögernd, wie Stern vorkam, und vermied es, an ihm vorbeizuschauen. »Das ist nur, weil der so grausig dahergeredet hat«, versuchte er zu erklären.

»Am besten, Sie sorgen vor der Kirche für Ruhe und Ordnung. Hier brauchen wir Sie nicht. Die Kollegen der Spurensicherung machen das schon, aber draußen, da werden Sie dringend benötigt.« Stern klopfte dem Revierinspektor auf die Schulter. Der wirkte erleichtert und schob seinen Hintern die hölzerne Kirchenbank hinaus. Nicht zu schnell, damit sein Magen nicht noch einmal rebellierte. »Und Plattlbauer …« Stern wollte dem Revierinspektor etwas mit auf den Weg geben. Der blieb stehen und wandte sich langsam um. »Das mit den Vampiren will ich nicht noch einmal von Ihnen hören, verstehen Sie? Da werden die Leute hysterisch, wenn wir so etwas behaupten. Ich verlass mich da auf Sie!« Wie ein Hund, der eben Prügel bezogen hatte, verließ der Revierinspektor die Kirche.

Stern wandte sich seinen Kollegen und dem Opfer zu. Er musste zugeben, es war tatsächlich kein schöner Anblick, dazu noch die ausführlichen Schilderungen Webers – und der Albtraum eines jeden Menschen war fertig.

»Na, Weber, haben Sie noch etwas für uns?«, fragte Grünbrecht. Sie hielt Block und Stift für etwaige Notizen bereit.

»Dass der Pfarrer verblutet ist, brauche ich euch wohl nicht zu sagen. Die Menge des Blutes, die ihr hier seht, spricht für sich. Die Tatzeit – da wiederhole ich mich – ist so um Mitternacht, also die beste Stunde für Vampire.« Weber grinste.

»Fängst du auch noch damit an!«, fuhr Stern ihn an. Er hielt nämlich schlichtweg gar nichts von diesem Vampirhokuspokus. »Sonst noch was? Aber bitte etwas, das wir brauchen können.«

»Derweilen nicht«, antwortete Weber amüsiert, weil er mit seinem Kommentar über die beste Stunde für Vampire Stern auf die Palme gebracht hatte. Über dieses Ergebnis zufrieden, steckte er seine Gerätschaften zurück in die Tasche und schritt in Richtung Kirchenpforte davon. »Wenn ihr mit ihm fertig seid, schickt ihn mir bitte in die Gerichtsmedizin!« Mit diesen Worten an die Spurensicherer verließ Weber das Gotteshaus.

»Warum macht jemand so etwas ausgerechnet mit einem Pfarrer?«, fragte Grünbrecht, die Arme mit dem Notizblock verschränkt und den Blick auf den Leichnam gerichtet.

»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht beantworten, Grünbrecht. Der Mensch ist von Natur aus böse, das müssten Sie als Inspektorin eigentlich am besten wissen. Und wenn jemand in den eigenen Augen einen Grund zum Töten hat, dann ist es ihm wahrscheinlich egal, ob das Opfer eine Soutane trägt.«

»Ein Eifersuchtsdrama können wir aber ausschließen.«

»Sagen Sie das nicht, Grünbrecht. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Aber fragen Sie bei der Spurensicherung nach, ob die die Tatwaffe gefunden haben. So etwas Ähnliches, wie Weber es beschrieben hat, also Stricknadeln, Nägel oder dergleichen.«

»Hab ich schon. Während Sie mit Weber geredet haben.«

»Natürlich haben Sie das.« Stern wusste um die Dienstbeflissenheit seiner jungen Kollegin Bescheid. »Und? Spannen Sie mich nicht auf die Folter.«

»Sie sagen, dass sie noch nichts gefunden haben, was als Tatwaffe infrage kommt.«

»Gibt es Überwachungskameras?«

»Das hier ist eine Kirche, Chef!« Grünbrecht klang entrüstet und war sich sicher, dass eine Antwort aufgrund dessen, dass sie in einem Gotteshaus standen, überflüssig war.

»Gibt es draußen vor der Kirche vielleicht Kameras? Möglicherweise sehen wir ja, wie der Priester und der Mörder die Kirche betreten haben und nur der Mörder sie verlassen hat.« Stern wusste schon, während er sprach, dass sich sein Wunsch nicht erfüllen würde. Überwachungskameras passten genauso wenig zu einer Kirche wie Pommes frites und Burger zu einer Diät.

»Es würde mich wundern, wenn es in Liebenau auch nur eine einzige Überwachungskamera gibt«, antwortete Grünbrecht. »Ich kann mal nachfragen, aber zu viele Hoffnungen würde ich mir nicht machen.«

Der Chefinspektor brummte als Antwort. Er hatte das volle Ausmaß der Tragödie erkannt. Das hier war kein Fall, den man schnell im Vorbeigehen löste, weil die Fakten ohnehin klar am Tisch lagen und der Täter allen bestens bekannt war. Die Aufklärung dieses Falls nahm bestimmt mehrere Tage in Anspruch, wenn nicht sogar Wochen. Schließlich hatte sich der Täter die Mühe gemacht, den Leichnam theatergerecht zu inszenieren. Da hatte er sicher ebenso genügend Zeit dafür aufgewendet, alle Spuren zu beseitigen. Jetzt wusste Stern, warum der Dienststellenleiter etwas von mysteriös und diabolisch dahergeredet hatte.

»Na, dann«, sagte er und wandte sich von dem Toten ab.

»Dann jagen wir also einen Vampir«, sagte Grünbrecht lapidar, ohne zu ahnen, dass sie sich damit Sterns Unmut zuzog.

»Das ist doch lächerlich!«, fuhr der sie gleich an. Doch lächerlich hin oder her: Sie beide saßen solange in Liebenau fest, bis sie den Mörder überführt hatten. Wie lange das dauern würde, wusste Stern nicht. Er wusste auch nicht, ob es überhaupt einen Vernehmungsraum gab. Außerdem brauchten sie jemanden, der sie in das örtliche Geschehen einweihte, der ihnen verriet, wer es mit wem trieb und wer mit wem Streit hatte. Dinge, die nur ein Liebenauer wissen konnte – Plattlbauer! Der hatte doch eingangs erwähnt, dass er aus Liebenau stamme, demnach alles über die hiesige Bevölkerung wissen müsste oder zumindest in Erfahrung bringen konnte. Städtern, wie Stern und Grünbrecht es waren, würden die Menschen hier nichts erzählen, zumindest nichts, was sie ihnen nicht eigenhändig aus der Nase zogen. Stern hoffte nur, dass die schaurigen Schilderungen Webers keine langfristigen Schäden im Nervengerüst des Revierinspektors hinterlassen hatten.

»Wo zum Kuckuck steckt eigentlich Plattlbauer?«, fragte er Grünbrecht, als er in die leere erste Bankreihe blickte.

»Sie haben ihn doch selber nach draußen geschickt, nachdem er alles vollgekotzt hat«, erinnerte Grünbrecht ihn an den unschönen Abgang des Kollegen.

»Ja, Sie haben recht.«

»Ich habe immer recht«, sagte Grünbrecht selbstbewusst.

Der Chefinspektor wandte sich daraufhin seiner Kollegin zu. »Grünbrecht, wenn Sie das glauben, sind Sie ein Grünschnabel.« Das Wortspiel mit Grünbrechts Namen gefiel ihm und zauberte ein Lächeln in sein Gesicht. Dann wandte er sich ab und verließ die Kirche. Hier waren sie mit ihrer Arbeit fertig. Er deutete den Kollegen der Spurensicherung, dass Kirche und Pfarrer nun gänzlich ihnen gehörten.

Am Kirchenplatz war indessen Volksfeststimmung eingekehrt. Für Revierinspektor Plattlbauer war der zuvor erlittene Exkurs in die Anatomie des Menschen im Augenblick wohl das geringste seiner Probleme. Er war vollends damit beschäftigt, die ständig über die Absperrung tretenden Schaulustigen einzufangen, sie zu verwarnen und auf ihre Plätze zurück zu verfrachten. Er schwitzte, und seine Gesichtsfarbe hatte sich von dem innerkirchlichen Weiß in ein schweißtreibendes Rot gewandelt.

Hier am Land war tatsächlich alles anders, dachte Stern. Die Leute hatten keinerlei Respekt vor einer Uniform, weil deren Träger einer aus ihren Reihen war, mit dem man sich duzte und abends ein Bier trinken ging. Aber er war keiner von ihnen.

»Alles herhören!«, brüllte er, sich seiner Autorität als Chefinspektor der Linzer Kriminalpolizei sicher fühlend.

Niemand reagierte. Nicht ein Einziger nahm Notiz von ihm. Der Lärmpegel stieg sogar weiter an, als wollte man sein Geschrei übertönen. Da steckte Plattlbauer die Finger in den Mund und stieß wie beim Anpfiff des am Abend stattfindenden Eröffnungsspiels der Fußballweltmeisterschaft einen schrillen Pfiff aus. Das ließ ein Raunen wie eine La Ola durch die Menge schwellen, die schlussendlich doch verstummte. Erwartungsvoll richteten sich unzählige Augenpaare auf Stern, der ihnen scheinbar etwas zu sagen hatte. Hoffentlich etwas Spektakuläres über den Todesfall.

»Mein Name ist Oskar Stern. Ich bin Chefinspektor am Landeskriminalamt in Linz. Wie Sie wissen, hat man Ihren Pfarrer tot in der Kirche aufgefunden. Er ist ermordet worden. Wir werden unser Bestes tun, um den Täter so rasch wie möglich zu finden. Wer sachdienliche Hinweise hat, möge sich bitte bei mir melden. Wir werden …« Weiter kam Stern nicht. In einem aufwallenden Getöse aus Rufen und Geschrei gingen seine letzten Worte völlig unter. Plötzlich hatte jeder etwas zur Aufklärung des Falls beizutragen. Die Menschen schrien durcheinander und wussten Dinge, die mit dem Fall zu tun hatten – oder auch nicht. Stern war nicht in der Lage, wichtige Informationen von unwichtigen zu trennen. Er verstand lediglich Wortfetzen und konnte nicht herausfiltern, wer nun als Zeuge vernommen werden sollte und wer bloß Tratsch verbreitete. Na, das kann ja heiter werden, dachte er und verfluchte den Mörder, der sich ausgerechnet das tiefste Mühlviertel zum Töten ausgesucht hatte.

»Wir brauchen einen Vernehmungsraum! Wo können wir uns einquartieren, Plattlbauer?«, fauchte er missgelaunt.

»Bestimmt im Pfarramt«, fiel dem Revierinspektor auf Anhieb ein. »Ich bin mir sicher, dass der Pfarrer nichts mehr dagegen hat.« Plattlbauer grinste und suchte im Gesicht des Chefinspektors nach einer Reaktion, die unweigerlich diesem Scherz folgen müsste, doch die blieb aus. Schlimmer noch! Stern zog missbilligend die Augenbrauen hoch, machte am Absatz kehrt und verschwand in der schwatzenden Menge. Jedoch tauchte er von dort nach nur wenigen Augenblicken wieder auf, bahnte sich mittels Ellbogentechnik den Weg zurück und fragte: »Wo ist das Pfarramt?«

»Dort lang!« Plattlbauer deutete in die entgegengesetzte Richtung.

 

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, marschierte der Chefinspektor an Plattlbauer und Grünbrecht vorbei, alles und jeden verfluchend, und ohne zu bemerken, dass ihm eine Schlange Auskunftswilliger wie bei einer Bierzeltpolonaise folgte.

2. Kapitel

Vor dem Pfarramt holten Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht und Revierinspektor Josef Plattlbauer den Chefinspektor endlich ein. Plattlbauer öffnete die Tür und hielt sie für die Kriminalbeamten auf. Stern schritt wortlos an ihm vorüber, doch Grünbrecht bedankte sich bei ihm mit einem Lächeln, worauf Plattlbauers Gesichtszüge sich freudig erhellten. Um davon abzulenken, wies er die Liebenauer, die ihnen bis hierher gefolgt waren, um eine Aussage zu machen, an, sie mögen doch bitte draußen warten, bis man sie riefe, und schob anschließend aus einer Abstellkammer einen Tisch und zwei Stühle in den Pfarrsaal. Das alles platzierte er in der Mitte im vorderen Bereich und sagte, als er sein Werk begutachtete: »Das muss als Provisorium für die Vernehmungen reichen.« Dabei schielte er zu Grünbrecht hinüber, deren dunkelbraune Locken im Nacken wie junge Kitze hin und her hüpften. Als ihre haselnussbraunen Augen sich mit den seinen trafen, wandte er den Blick ab und rückte noch einmal die Stühle zurecht, was aber völlig überflüssig war.

»Gut, Plattlbauer. Jetzt bringen Sie mir Papier und einen Stift, denn ein Aufnahmegerät wird es ja wohl nicht geben …«, unterbrach Stern, ohne es mitzubekommen, das Balzverhalten des ländlichen Kollegen, und setzte sich an den Tisch.

»Nein, aber auf der Dienststelle in Weitersfelden haben wir eines. Soll ich es herbringen lassen?«

»Ja, machen Sie das! Und dann bitten Sie einen nach dem anderen zu uns herein«, wies Stern ihn weiter an.

Während Plattlbauer der Anweisung Folge leistete, lehnte sich Grünbrecht hinter ihrem Chef nahe dem Fenster an die Wand und murmelte, als die erste Zeugin eintrat: »Jetzt bin ich aber gespannt.«

»Mein Name ist Herta Bachmeier. Ich bin … ich war die Pfarrersköchin«, stellte sich die etwa 1,50 Meter große Frau den Kriminalbeamten vor, die allein durch ihre Erscheinung Sterns Bild von bei der Kirche beschäftigten Personen gehörig durcheinanderwirbelte. Ihre kurzen, rot gefärbten Haare standen wirr vom Kopf ab und bildeten einen starken Kontrast zu ihrem blassen Teint. Ihr grell pink geschminkter Mund biss sich mit dem Orange ihres T-Shirts. Der Rest steckte in einem Jeansrock und rosa geblümten Leggings. Über dem Ganzen trug die Pfarrersköchin eine rote ärmellose Weste mit schwarzen Fransen am Saum. Der Chefinspektor hatte bislang gedacht, Pfarrersköchinnen wären graue alte Jungfern, gekleidet in schwarzen Röcken und beigen Blusen. Dass er mit diesem Vorurteil gewaltig irrte, zeugte die vor ihm sitzende, ungefähr 35 Lenze zählende Frau, die alles andere als langweilig zu sein schien. Zumindest nicht, was ihre Kleidung anbelangte.

»Frau Bachmeier, können Sie sich vorstellen, warum der Pfarrer, also Ihr Chef, ermordet worden ist?«, fragte Stern bemüht, sein Erstaunen wegen des schillernden Aussehens seines Gegenübers nicht durchscheinen zu lassen.

»Nicht im Geringsten. Der Pfarrer ist …« Die Frau brach ab und räusperte sich. »Er war ein herzensguter Mensch. Er hat keiner Fliege etwas zuleide getan, in seinem ganzen Leben nicht. So ein lieber Mensch, wissen S’? Wenn alle so wären, wie unser Herr Pfarrer es g’wesen ist, dann wäre die Welt eine viel bessere. Und glauben S’ mir, die hat das auch dringend nötig bei dem, was man so alles im Fernsehen sieht!« Herta Bachmeier schüttelte den Kopf.

»Ja, ja, das Fernsehen. Man soll aber nicht alles glauben, was man im Fernsehen sieht, Frau … äh.«

»Bachmeier. Herta Bachmeier.«

»Ja, Frau Bachmeier. Kommen wir zurück zum Pfarrer: Hat er Feinde gehabt?«, versuchte Stern, etwas für den Fall Relevantes aus der Frau herauszubekommen, und fand, dass die Farbkombination Rosa mit Orange und Rot sogar seinen für Mode äußerst unausgeprägten Sinn störte.

»Nein, Herr Inspektor, er hat gewiss keine Feinde gehabt. Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass er ein ganz lieber Mann gewesen ist. So einer hat keine Feinde.«

Für Stern war die Sache klar: Entweder wollte die Frau nichts Schlechtes über ihren toten Chef sagen, oder sie empfand den Dahingeschiedenen als tatsächlich so, wie sie behauptete. Um sich ein Urteil über den Priester bilden zu können, war es aber zu früh. Schließlich standen sie noch ganz am Anfang mit ihren Vernehmungen.

»Gibt es sonst etwas, das Sie uns über den Pfarrer erzählen möchten?«, mischte sich Grünbrecht ein. Die dick mit Kajal umrandeten Augen der Pfarrersköchin wanderten in ihre Richtung und blieben an ihr haften.

»Ich hatte da so ein Gefühl …«, begann sie zu erzählen und tippte sich dabei auf die Brust. Schon allein, wie sie es sagte, verkrampfte sich Sterns Magen. Er hasste Gefühle in Mordfällen, er brauchte Fakten, Fakten und nochmals Fakten.

»Ein Gefühl?«, wiederholte er argwöhnisch.

»Ja, als hätte ich es gespürt, dass etwas Schlimmes passieren wird.«

»Spüren Sie so etwas denn öfter?«, hakte Grünbrecht nach, worauf ihr Stern einen finsteren Blick zuwarf. Die Gruppeninspektorin wusste, was ihr Chef von Äußerungen über Gefühle hielt, und wollte schneller sein als er, bevor er die Vernehmung abbräche und die Zeugin hinausschicken konnte.

»Nun ja …« Die Frau suchte offenbar nach den richtigen Worten. »Ach, vergessen Sie’s!«, sagte sie dann und stand auf.

»Aber bleiben Sie doch …«

»Danke, Frau Bachmeier«, fiel Stern Grünbrecht ins Wort. »Und wenn Sie rausgehen, schicken Sie uns bitte den Nächsten herein.« Stern war erleichtert, dass ihm die Gefühlsduselei der Frau erspart blieb.

»Also ich hätte schon gern gewusst, was sie uns zu sagen versucht hat«, meinte Grünbrecht, als die Frau den Pfarrsaal verlassen hatte.

»Sie haben doch gehört, dass sie selber gesagt hat, dass wir es vergessen sollen. Sie wollte halt nicht mehr darüber reden, warum auch immer.«

»Weil Sie gleich so abwehrend reagiert haben«, warf Grünbrecht ihrem Chef vor.

»Hab ich doch gar nicht! Aber wahrscheinlich hat die gute Frau selber erkannt, dass ihre Aussage für die Aufklärung des Falls nicht relevant ist. Wenn sie über Gefühle reden will, soll sie zu einem Psychiater gehen. Wir haben einen Mord aufzuklären.«

Die Tür ging auf und der nächste Zeuge marschierte herein, streckte dem Chefinspektor die Hand entgegen und tippte sich an Grünbrecht gewandt als Gruß an den Hut. Er trug eine Lederhose, ein rot-weiß kariertes Hemd und brachte mindestens 30 Kilo zu viel auf die Waage, die meisten davon vorne an seinem Bauch. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – war er eine stattliche Erscheinung. Selbstbewusst setzte er sich auf den Stuhl, der unter seinem Gewicht ächzte, was jeder im Raum aber ignorierte.

»Ihr Name?«, fragte Stern.

»Siegfried Bauer.«

»Herr Bauer, was können Sie uns über den Pfarrer sagen?«

»Ja mei, recht viel net«, antwortete der Mann und steckte beide Daumen in den Bund der Lederhose. Die Hände ruhten dabei auf seinem Bauch wie bei einer Schwangeren.

»Aber Sie sind doch extra hergekommen, um auszusagen?« Stern war verwirrt.

»Ja, schon.« Der Mann hingegen war die Ruhe selbst. Sein Blick wanderte zwischen Stern und Grünbrecht hin und her, und es schien, als wartete er auf etwas.

»Und … was bedeutet dann dieses recht viel nicht?« Nun begann dieses Aus-der-Nase-Ziehen, wenn es denn überhaupt etwas aus der Nase zu ziehen gab. Außerdem knurrte Sterns Magen. Die Geduld des Chefinspektors wurde hart auf die Probe gestellt.

»Ja mei, er war halt unser Pfarrer«, sagte der Zeuge gelassen.

»Aber wissen Sie auch, warum er sterben hat müssen, Ihr Herr Pfarrer? Haben Sie irgendeinen Hinweis für uns?«

»Ja mei, keine Ahnung. Dafür seid’s doch ihr da, oder? Das ist ganz klar Aufgabe der Polizei!«

Stern stieß hörbar die Luft aus. Er musste sich zusammenreißen, um dem vor ihm sitzenden Mann nicht gehörig die Meinung zu sagen. Er befürchtete jedoch, dass der erst die Vorhut war und draußen vor der Tür noch viel Schlimmeres auf ihn wartete.

»Und warum sind Sie dann zur Vernehmung gekommen?«, fragte nun Grünbrecht, da sie spürte, dass Stern einen Augenblick benötigte, um sich zu sammeln.

»Ja, mei. Ich wollt mir das halt mal so ansehen, wie ihr das so macht. Sonst kennt man das ja nur aus dem Fernsehen, von den vielen Krimis. Und das mal live zu sehen, ist halt doch ganz etwas anderes.«

»Danke, der Nächste bitte!«, komplimentierte Stern den Mann hinaus. Siegfried Bauer erhob sich, straffte seine Lederhose mit einem gezielten Griff unter die Hosenträger und schlurfte aus dem Pfarrsaal. Stern starrte ihm verärgert hinterher und einer kleinen, alten Frau mit grünem Kopftuch entgegen.

»Rosa Hintersteiner«, stellte die sich vor.

»Sehr schön, Frau Hintersteiner. Was können Sie uns über den Pfarrer alles erzählen?«

»Pst!«, machte die Frau.

Stern war verblüfft. Schon wieder. »Was meinen Sie mit Pst?«, fragte er.

Die Frau lockte ihn mit ihrem knöchrigen Zeigefinger näher zu kommen wie einst die Hexe aus Hänsel und Gretel. Stern beschlich ein mulmiges Gefühl. Er fürchtete zwar nicht, in einen Käfig gesperrt zu werden, schließlich war er derjenige, der andere wegsperrte, aber das Verhalten der Frau war dennoch ein wenig unheimlich. Er beugte sich nach vorne, um zu verstehen, was die Frau gleich sagen würde, und auch Grünbrecht trat näher an den Tisch heran.

»Ich kann doch nicht in Gegenwart unseres Herrn schlecht über unseren Herrn Pfarrer reden«, flüsterte die Frau nahe Sterns Ohr. Anschließend deutete sie hinter Stern und Grünbrechts Rücken, wo an der Wand ein Kruzifix hing.

»Aber … aber das ist doch nur …« Der Chefinspektor brach ab, überlegte kurz und änderte die Taktik. »Sollen wir es abnehmen?«

Die Frau nickte, sagte aber kein Wort.

Grünbrecht ging zur Wand, nahm das Kreuz ab und legte es in die Kammer seitwärts des Pfarrsaals. Bestimmt kamen sie so schneller an ihr Ziel, dachte Stern und auch, dass es keinen Sinn machte, über Dinge wie Aberglaube zu diskutieren. Anschließend war die Frau tatsächlich bereit zu reden, und Stern und Grünbrecht waren überrascht, was sie zu hören bekamen.

»Also, der Herr Pfarrer ist ein ganz Schlimmer!«, begann Rosa Hintersteiner zu berichten. »Der hält sich selber nicht an die Zehn Gebote, obwohl predigen tut er sie jeden Sonntag, und das ganz eindringlich! Zehn Ave-Maria hab ich jedes Mal beten müssen, wenn ich zu ihm beichten gegangen bin. Und selber? Pah!« Die Frau verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die verdeutlichte, was sie von dem Priester hielt.

»Von welchem der Zehn Gebote reden wir denn hier, Frau Hintersteiner?«, fragte Stern neugierig. Endlich schienen sie auf eine Spur gestoßen zu sein.

»Von allen, Herr Hauptkommissar! Von allen!«

»Chefinspektor«, korrigierte Stern die aufgebrachte Rosa Hintersteiner. »Kommissare gibt es nur in Deutschland. In Österreich sagen wir Inspektoren.«

»Das ist mir wurscht, Herr Hauptkommissar. Ich nenne Sie, wie S’ wollen, meinetwillen auch Inspektor. Viel wichtiger ist, dass Sie endlich etwas gegen den Pfarrer unternehmen. Verhaften S’ ihn! Das ist nämlich ganz ein Schlimmer, wissen S’!«

Stern zog die Augenbrauen hoch und überlegte, ob er die Frau tatsächlich richtig verstanden hatte. Sie verlangte doch allen Ernstes, dass er einen Toten verhaften solle!

»Aber der Pfarrer ist doch tot«, erwiderte er, während seine Verwirrung den Höhepunkt erreichte und jene der alten Frau sich in erkennbare Erleichterung verwandelte.

»Tot ist er, sagen S’? Na dann ist’s ja gut. Jetzt hat er sich vor unserem Herrn zu verantworten.« Rosa Hintersteiner stand auf und wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie! Was hat er denn so Schlimmes angestellt, der Herr Pfarrer, dass wir ihn hätten verhaften müssen?«, fragte Stern rasch.

»Über Tote soll man nicht schlecht reden, Wissen S’ denn gar nichts?«, erwiderte die alte Dame und sah den Chefinspektor tadelnd an. Der war zu überrascht, als dass er darauf etwas hätte sagen können. Etwas Ordentliches und kein Fluchen. Bis er sich allerdings wieder gefangen hatte, war Rosa Hintersteiner zur Tür hinaus.

»Was war das denn eben?«, fragte Grünbrecht.

Stern schüttelte den Kopf. »Wenn das so weitergeht, können Sie mich am Ende der Vernehmungen in ein Irrenhaus bringen.«

»Dann sind wir mal gespannt, wer als Nächstes kommt.« Die Gruppeninspektorin holte einen Stuhl aus der Abstellkammer und setzte sich damit neben ihren Chef. Anscheinend dachte sie, dass er seelischen Beistand benötigte. Na gut, das tat er auch. Irgendwie. Er wusste nur noch nicht, ob seine Kollegin die Richtige dafür war.

 

Der nächste Auskunftswillige war der örtliche Bäcker. Er überraschte die Kriminalbeamten nicht nur mit mitgebrachten frischen Semmeln, welche er ihnen zu Beginn feierlich überreichte und deren Duft Stern sofort in die Nase kroch, dass sich der Speichel in seinem Mund nur so ansammelte, sondern auch mit einem Gerücht: »Man hört ja, dass ein Vampir der Täter g’wesen sein soll.«

»Ein Vampir?«, wiederholte Grünbrecht eine Spur zu laut und lachte, um zu verdeutlichen, wie absurd das war.

»Ja, wegen der Bissmale am Hals.« Der Bäcker deutete mit der Hand auf seinen eigenen Hals, wo er die Wundmale vermutete, und Stern wünschte den geschwätzigen Revierinspektor sonst wohin.

»Von wem haben Sie das denn, das mit den Bissmalen?«, fragte er dennoch und legte die Semmel schweren Herzens auf den Tisch. Er würde sie später essen, jetzt musste er erst mal das mit den Vampiren, und dass Plattlbauer es überall herumerzählte, verdauen. Dann überlegte er, ob er das Kreuz, das Grünbrecht vorhin abgenommen hatte, zurück an die Wand hängen sollte. Sozusagen als Abwehr gegen Vampire und das abergläubische Volk.

»Der Plattlbauer hat es mir erzählt. Er hat die Leich ja g’sehen, wie sie da auf dem Altar g’legen ist«, bestätigte der Bäcker Sterns Vermutung. Er seufzte und nahm sich vor, sich den Revierinspektor gehörig zur Brust zu nehmen. Der konnte doch nicht einfach durch die Gegend laufen und Details vom Fall ausplaudern!

»Jetzt hören Sie mal, wir wissen noch nicht, womit der Pfarrer ermordet worden ist. Aber eines wissen wir genau, nämlich, dass es keine Vampire gibt, weder hier in Liebenau noch sonst wo. Außer Sie meinen jene, die sich neue Steuern einfallen lassen und damit den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Das sind die echten Blutsauger, um die sollten Sie sich Gedanken machen, wenn Sie das nächste Mal zur Wahlurne pilgern.« Mit diesen Worten entließ Stern den Bäcker, nicht aber ohne sich vorher noch einmal für die frischen Semmeln zu bedanken.

Die Schlange der Redewilligen vor dem Pfarrhaus riss nicht ab. Liebenau schien ein gesprächiger Ort zu sein. Bis kurz vor 23:00 Uhr saßen Stern und Grünbrecht im provisorischen Vernehmungsraum im Pfarrsaal und hörten sich an, was die Liebenauer über ihren toten Pfarrer zu erzählen bereit waren. Resümierend konnte sich Stern kein zufriedenstellendes Urteil über den Priester bilden. Weder war er besonders beliebt gewesen, noch hatte man ihn gehasst. Er war kein Engel gewesen, aber auch keine Ausgeburt des Teufels. Ein Mensch mit Fehlern halt, so wie jeder andere auch, nur eben im Priestergewand. Also hatte Stern nichts außer der Gewissheit, dass die Küche beim Brücklwirt bestimmt schon geschlossen hatte und sein Magen vorsorglich zu revolutionieren begann. Die Semmeln des Bäckers hatten er und Grünbrecht bereits vor Stunden verzehrt.

Als die Kirchenuhr elfmal schlug, stieß Stern die Tür in die Gaststube des Brücklwirts auf. Rauch quoll ihnen entgegen, so dick, dass Stern im ersten Moment dachte, er müsste die Feuerwehr alarmieren. Von rauchfreien Zonen, wie sie in der Stadt längst üblich waren, hatte man in Liebenau wohl noch nie etwas gehört. Kurz kam es ihm in den Sinn, die Kollegen der Gewerbebehörde zu informieren, wollte aber, wenn sie doch etwas zu essen bekämen, über diesen Verstoß hinwegsehen. Außerdem hing an der Wand ein großer Flachbildfernseher. Bestimmt hatten die Fußballbegeisterten das Eröffnungsspiel der Weltmeisterschaft angesehen. Nun aber war es vorbei, und es liefen Nachrichten, die niemanden zu interessieren schienen. Der Ton war sogar so weit zurückgedreht, dass man nur die sich bewegenden Münder der Sprecher sah und Lippen lesen können müsste, um zu verstehen, was sie sagten.

»Na, der Herr Hauptkommissar und seine Kollegin«, begrüßte ihn die Wirtin, als wären er und Grünbrecht tagtäglich hier. Die Frau hatte ausladende Hüften und in ein Dirndl eingequetschte Brüste, die aus ihrer Bluse zu springen drohten. Sie stand hinter dem Tresen und zapfte mehrere Halbe.

»Chefinspektor«, korrigierte Stern zum wiederholten Mal. Diese ganzen deutschen Krimi-Fernsehserien waren schuld daran, dass alle ihn mit Kommissar ansprachen.

»Na, wenn S’ meinen«, sagte die Wirtin gelassen. Die Liebenauer schienen sich für korrekte Berufsbezeichnungen nicht zu interessieren. Kommissar oder Inspektor? Was machte das schon für einen Unterschied, dachten sie bestimmt, Hauptsache, er fand den Mörder ihres Pfarrers. Die Wirtin nahm zwei Schlüssel vom Haken und überreichte einen Stern. Den anderen hielt sie Grünbrecht hin. »Ihre Zimmer!« Anschließend stellte sie eine frisch gezapfte Halbe vor Stern am Tresen ab und fragte Grünbrecht: »Wollen S’ ein Glaserl Veltliner haben?«

»Ich hab doch noch gar nichts bestellt«, wies Stern die Frau auf diesen Umstand hin und deutete auf das Glas vor ihm, gefüllt mit goldgelbem Weizen. Anscheinend konnte die Frau bis in seine Seele blicken, dachte er.

»Sie beide sehen aber aus, als könnten S’ das jetzt gebrauchen. Geht aufs Haus. Übrigens, ich bin die Miezi Brückl. Haben S’ denn kein Gepäck?«

»Oskar Stern, und das ist meine Kollegin …« Der Chefinspektor deutete auf Grünbrecht, die sich selber vorstellte und der Wirtin die Hand reichte.

»Mara Grünbrecht.«

»Das Gepäck ist noch im Wagen. Wir wollten zuerst mal sehen, ob Sie überhaupt zwei Zimmer für uns haben.«

»Aber natürlich«, verkündete die Wirtin. Ihre Augen blitzten vergnügt, und Stern fragte sich, wie man um diese Uhrzeit bloß so gute Laune versprühen konnte. »Einer Ihrer Kollegen aus Linz hat das schon arrangiert, als wir noch gar nicht g’wusst haben, was überhaupt los ist.« Die Brücklwirtin füllte ein Glas mit Veltliner und stellte es vor Grünbrecht auf den Tresen.

»Oh, nein danke! Wenn ich den jetzt trinke, dann …« Grünbrecht machte eine Handbewegung, die verdeutlichte, dass sie auf leeren Magen keinen Alkohol vertrug.

Stern hingegen griff nach dem Bier, das verführerisch golden im Schein der Barbeleuchtung leuchtete. Er nahm einen Schluck und blickte sich in der Gaststube um. Hier war es eigentlich ganz gemütlich, vom Zigarettenqualm mal abgesehen. Am Stammtisch saß eine Runde hiesigen Urgesteins. Stern prostete den Männern zu, da die ihn und Grünbrecht von ihren Plätzen aus wie bei einer bäuerlichen Tierbeschau das Vieh musterten.

»Wollen S’ was essen? Einen Schweinsbraten hätt ich noch!«, fragte die Wirtin. »Rein in die Mikrowelle, und schon ist er dampfend heiß.«

»Nein danke, um diese Zeit nicht mehr«, wehrte Grünbrecht ab und sagte zu ihrem Chef. »Wenn Sie jetzt etwas essen, legt sich jedes Gramm doppelt an.«

Stern hatte ein paar Kilos zu viel um die Hüften, das wusste er. Aber dass Grünbrecht ihm gleich das Essen verbot, ging nun doch zu weit. Natürlich hatte sie recht, obwohl so ein Schweinsbraten sehr verlockend war, musste er zugeben und sich zusammenreißen, um nicht doch noch schwach zu werden. Das Gebrumme in seinem Magen war dabei nicht sonderlich hilfreich, dieser Versuchung zu widerstehen.

»Ich geh jetzt ins Bett«, verkündete Grünbrecht.

»Ja, machen Sie nur.« Stern nahm einen kräftigen Schluck, der auch den Magen füllte, so hoffte er.

»Ich brauche die Autoschlüssel, um das Gepäck zu holen.« Grünbrecht hielt Stern die offene Hand hin. Der suchte in seinen Taschen nach dem Schlüssel und überreichte ihn ihr.

»Ich stelle Ihr Gepäck vor die Tür der Gaststube«, sagte Grünbrecht.