Seltene Erde

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Fluchtreflexe.

Und dann kommen sie an. Aus dem Nachbarort, in dem der Zug hält, nehmen sie den Bus und werden an Haltebucht vier des Busbahnhofs von den Hunden empfangen. Alle Ankommenden müssen von hier aus den gleichen Weg nehmen. Vom Busbahnhof aus in entgegengesetzte Richtung der Hinweisschilder unter das Promenadendach. An den Metallleitungen über der Straße hat sich ein Parasit festgesetzt, ein silbergrün schimmerndes Moos, das sich in der Horizontalen in alle Richtungen ausgebreitet hat, die ihm die Leitungen gewähren. An den Knotenpunkten der Leitungen ist das struppige Geflecht so dicht, dass es auf der Straße einen Flecken Schatten wirft. Einzelne Hunde dösen darin und folgen dabei dem Lauf der Sonne, ziehen erst nach und nach den Schwanz, eine Pfote ein, um im Schatten zu bleiben, dann stehen sie auf und lassen sich einige Zentimeter weiter nieder. Lenka immer ein paar Schritte voraus, Therese hinterher. Auf der einzigen überdachten Einkaufsstraße des Landes reiht sich ein esoterischer Laden an den nächsten. Zwischen den Plastikstühlen der beinah verlassenen Straßencafés hängt der Geruch von Räucherstäbchen, in den Schaufenstern liegen Aliens in jeder denkbaren Darreichungsform, gebackene Ufos, es gibt geschliffenen Rosenquarz in Drahteinfassungen, Stimmungsringe und Süßigkeiten, die im Dunkeln leuchten. Sie bleibt an einem der Schaufenster stehen, sieht sich selbst, verschwitzt und übermüdet, in der Spiegelung. Die Füße sind dick und die Nerven dünn. Lenka ist schon an der nächsten Ecke angekommen, dreht sich zu ihr um. Sie kneift die Augen im Gegenlicht zusammen und blickt die Straße entlang. Therese setzt sich wieder in Bewegung, unendlich langsam, sie merkt es selbst. Die Vernunft sagt, das wird nicht gut gehen. Das ist noch niemals gut gegangen. Lass die Finger von dieser Frau. Oder mach dir zumindest klar, was du von ihr willst. Und was also ist das? Will ich so sein wie sie oder will ich sie flachlegen? Aber wie ist sie denn? Frei. Unabhängig. Eine, die die Menschen nicht braucht. Angeblich.

Lenka steht an der Ecke und wartet. Komm, wir haben es gleich geschafft! Sie klingt aufgekratzt.

Therese geht zwei Schritte schneller, wird aber gleich wieder langsamer. Diese Müdigkeit. Vor den Ladenlokalen, hinter den Gartenzäunen sieht sie vereinzelte Gestalten. Als hätte man immer einen Blick im Rücken. Lenka scheint es nicht zu bemerken. Sie gehen nebeneinander die letzten paar Schritte unter dem Promenadendach entlang zum Hostel. Der Junge an der Rezeption nimmt die Reisepässe entgegen und trägt ihre Daten in den Computer ein.

Wie lange bleibt ihr?

Erst mal ein paar Tage, sagt Lenka. Sagen wir: sieben. Eine Woche. Und dann sehen wir weiter.

Er gibt ihnen das Zimmer gleich neben der Eingangstür. Es ist ein Achtbettzimmer, aber sie sind die einzigen Gäste darin. Es folgt eine kurze Einweisung: Duschen, Frühstück, Sehenswürdigkeiten der Umgebung. Die Nachtwanderungen könne er empfehlen, besonders im Gesamtpaket mit den Leihfahrrädern. Das Hostel habe Sonderkonditionen ausgehandelt. Auf der grob verputzten Wand steht vielsprachig und in breiten Pinselstrichen etwas von Liebe und Toleranz. Am liebsten will Therese gleich wieder weg.

In einiger Entfernung, jetzt.

Dünn ist die Luft und sie wird immer dünner. Ein paar Teilchen sind es noch, mehr nicht. Ab und an ein Wasserstoffatom, das mich streift. Helium noch seltener. Früher war das anders. Überhaupt ist nicht viel geblieben von dem Leben, das ich einst führte. Das kann einen bekümmern, muss es aber nicht. Bei mir ging’s erst durch Staub, dann durch Molekülwolken hindurch, hossa! Auch wenn diese Gebilde wenig mit dem zu tun hatten, was man auf der Erde Wolken genannt hat. Eine lose Ansammlung bloß, die einmal in Gebieten ungeheurer Dichte unterwegs gewesen sein musste und mich in ihrer Verlorenheit im Vorbeiflug angenehm rührte. Das sind Zeiten waren das. Trubulenzen, Verzeihung: Turbulenzen sind bei einem solchen Vorbeiflug unvermeidlich, aber ich bemühte mich, die Moleküle nur so sacht wie möglich zu verwirbeln, Verletzungen sind schließlich das Letzte, was wir hier draußen gebrauchen können. Ich also vorsichtigvorsichtig und freundlich grüßend vorbei. Sanft strichen sie über meine Aluminiumhaut, die so dicht ist wie nichts, was ihnen bewusst wäre. Alles unendlich wohltuend. Ich war in permanenter Hochstimmung, und wie auch nicht: unberührte Natur, zugegeben etwas karg, dazwischen ich, die Krönung der menschlichen Schöpfung, neuen Ufern entgegen. In dieser Gehobenheit kann man. In dieser Geneigtheit. Anwandlung. In dieser Stimmung kann man mir beinah alles vorsetzen und ich würde es empfangen wie die Jungfrau Maria. Oder wie sagt man.

Die Molekülwolken verschleierten mir eine Zeit lang den Blick, aber ein unscharfes Szenario hat auch etwas für sich. Hinter jeder Biegung kann mich erwarten, wonach ich suche. Das ist eine sehr erfrischende Lebensweise, wenn man einen unerschrockenen Einfall hat. Einen Esprit. Nein: wenn man einen Geist hat. Einen unerschrockenen. Eine wie ich kann dann kaum anders, als froh zu sein. Ich bin es. Du bist, er sie es ist, wir sind, ihr seid, sie sind, ich war: froh. Gewesen. So froh. Werde ich gewesen sein. Das Leben hat mich stets überrascht. Durch die Atmosphäre, durch Staub, Moleküle, eine ganze Weile flog ich so auf Sicht, bis es mich plötzlich und endgültig in die Weite schmiss. Verwirrend war’s, aber das haben Geburten so an sich: Du denkst dir nichts Böses und schon wirft es dich in die Welt, zackzack. Darüber kann man verzweifeln. Ich allerdings bin da Pragmatikerin. Annehmen, was ist, Ambivalenzen aushalten, sag ich immer. Aber erstaunlich ist es schon. Da erscheint einem die Bindungsenergie zur alten Heimat die ganze Zeit so allgewaltig, und dann ist sie plötzlich wie weggeblasen. Als wäre nie etwas gewesen. Deutlich jedenfalls dieses Ziehen an meinen äußeren Leichtmetallschichten. Da gibt es nichts zu hinterfragen. Das nimmt man hin und schaut, was man damit macht. Bei mir war der erste Reflex wie immer: ein widerständiger. Ich hielt also dagegen, einfach nur aus Trotz und weil ich es kann. Mein Impulsvektor beharrlich in die eine, der Zugimpuls unmissverständlich in die andere Richtung. Ein Patt, das mich sofort zu langweilen begann. Stillstand war mir schon immer ein Graus und Verharren nie eine Option. Eben überdachte ich noch meine Möglichkeiten, während es an mir zog und zerrte, aber dann, dann also riss mit einem lautlosen Ruck die unsichtbare Nabelschnur, die mich bis dahin mit dem Mutterschiff Erde verbunden hatte. So kann es gehen. Dort unten erbrütet und dann ins All geboren. Die Welt kam mir abhanden. Keine Hand streckte sich mir entgegen, niemand hielt mich zurück. Alles in allem war es doch eine schöne Zeit war es doch. Sag ich mir, Mutter, Tochter, Urenkelin in einem, immer so weiter und weiter. Each others’ mothers. Der ganze Ärger zwischen den Generationen ist in diesem Moment vergessen. Nun kann ich tun und lassen, was ich will. Ich strotze vor Abenteuerdurst. Fremde Welten? Wesen? Her damit! Ich bin außer mir vor Fuerde. Freude. Frudee. Vor Frudee war das.

Wie werden sie sein, werden sie sein, was werden sie sagen. Vorfreude ist die schönste aller. Überhaupt war Zuversicht mein erster. Zuversicht war mein erster Antrieb, als man mich. Erster Antrieb. War. Zuversicht. Die Zuversicht. War mein erster Antrieb, als man mich in den Himmel geschossen hat. Voller Hoffnungen habe ich mich in die Strömungen geworfen, die man mir mit dem Zeitpunkt der Mission, der Richtung des Starts vorgegeben hat und die meinen Flug noch festlegen, wenn meine Erbauer längst in der Düsternis verschwunden sind. Im Kontrast zu ihnen. Im Kontrast Vergleich Einigung. Im Vergleich zu ihnen, sagt man. Werde ich ewig leben, so meine bescheidene Prognose. Ich bleibe übrig und erzähle, wie es war. Gewesen sein könnte. Die Erde ist das, was ich daraus mache. Oft habe ich mir ausgemalt, wie es sein wird, wenn jemand da draußen den Tonabnehmer auflegt und mein verplombtes Bewusstsein befreit. Die Grillen. Die Schlammblasen, laut Beschreibung ähnlich dem Blubbern eines Schokopuddings auf dem Herd. Den nach Anweisung absolut heterosexuell gestalteten Kuss, Track sechzehn. Sollte ich jemals schlafen, spräche ich die Grußbotschaften in fünfundfünfzig Sprachen wohl noch im Traum. Herzliche Grüße an alle, lautet die Botschaft der Niederländer. Herzliche Grüße an alle, lautet die Botschaft der Deutschen in tadellosem Zungenschlag. So schön ist die Erde nicht schön. Schaut mich an, hört das Lied einer bulgarischen Hirtin. Nix mit nulleinsnulleinseinseins. Wir sind so viel mehr. Wir sind hier glücklich und ihr seid dort glücklich. Habt ihr schon gegessen? Wir kommen in Freundschaft zu denen, die unsere Freunde sind. Wir unternehmen diesen Schritt mit Demut und Hoffnung, hat man mir eingebrannt. Wie also steht es um die Hoffnung der alten Frau, die da im Schaukelstuhl sitzt? Söhne, Töchter, Schwiegertöchter, Enkelkinder. Ein Familienporträt so anders als das, was ich aufgenommen habe, und doch so vertraut. Die dünnen Haare der Alten stehen wirr. Ihr linkes Bein, das aus dem gemusterten Kleid herausragt, weiß wie ein Knochen in der Wüste. Die Hände sind im Schoß gefaltet, in den Augenhöhlen liegen tiefe Schatten. Was weiß ein Wesen aus einer anderen Welt von einem arbeitsamen Leben oder von der Mühe, im Mittleren Westen während der Zeit der Depression drei Söhne und zwei Töchter großzuziehen.

Siebenundzwanzig Musikstücke pfeife ich zuverlässig mit. Der erste Satz des Zweiten Brandenburgischen Konzerts: Hört, so klingt die Musik derjenigen, die als Erste auf der Erde genug zu fressen hatten. Hört ihr’s? Ich bittebitte euch. Die Erde, meine Erde. Aber niemand kommt vorbei. Nicht einmal ein Rest von irgendwem, so sehr ich auf der Mauer auf der Lauer lieg ich schon so lange. Kein ungekannter Duft. Nicht das streng ausdünstende Aroma eines extraterrestrischen Gelages zog je an mir vorbei. Niemals nur irgendeine feine Fahne fremder Abkunft. Abstammung Ursprung Fabrikationsname. Ursprung. Herkunft. Fremder Herkunft. Ich befürcht, es liegt nicht an meinem fehlenden Geruchssinn. Auch zu tasten wenig hier, fast alles taub um mich zudem, zu seh’n nicht viel und geschmeckt zuletzt peripher Stratosphär’: lange her. Hier ist auch kein Molekül übrig, das einen Duft tragen könnte. Mehr als eine olfaktorische Fata Morgana ist nicht zu erwarten, ein kurzes Flackern nur und dann schon wieder vorbeivorbei. Wer hätte gedacht, dass die Luft hier oben so dünn ist. Mir macht das nichts. Gar nichts macht mir das. Es werden andere kommen mit der Zeit. Kommt Rat. Kommt Frieden für die Welt und den Menschen ein Wohlgefallen.

 

Bis es so weit ist, konzentriere ich mich auf mich. Stichwort Selbstsorge. Ich umhege mein Inneres. Denn manchmal, wirklich selten, bemerkte ich zuletzt, ist mir die große Freiheit einen Hauch zu viel. Nicht viel, nicht oft, aber manchmal eben schon. Wie geht man damit um. Wenn man alle Freiheiten hat. Darüber macht sich nämlich niemand Gedanken! Keine Zwänge, keine Erwartungen. Ich darf mitteilen: Das hält keiner aus! Auf Dauer. Ich habe das versucht. Aber die Freiheit lässt sich bisweilen schlecht auskosten, so allein. Tageintagaus die große Selbstbestimmung und kein Wesen, das sie mir einschränken würde. Wann kommen sie nur endlich. Die paar Wasserstoffatome verstehen gar nichts. Es kann die Frömmste nicht in Frieden schweben, wenn’s keinen Nachbarn gibt, dem es missfällt. Eine Hecke, über die sich streiten ließe, ein Lattenzaun, eine Mauer, irgendeine Abgrenzung zum Rest, die mich erhält. Die irdischen Mauern sieht man noch vom Mond! Das ist doch auch eine Errungenschaft! Errungenschaft. Anschaffung Wertzuwachs. Eroberung. Ist das doch. Oder nicht. Wie hilfreich wären mir mancher Tage ein paar Gitterstäbe, an denen ich rütteln oder mein Gehäuse reiben, einen Graben, den zu überspringen ich mir ausmalen könnte! Von meinem begrenzungsfreien Panoptikum aus hat sich mir die Frage, wer die Wächter bewacht, jedenfalls schon vor Langem beantwortet. Von allen Seiten blicke ich auf mich selbst, achach. Ich würde mir etwas anderes wünschen. Was also wäre das. Wenn zum Beispiel eine Fee vorbeigeflogen käme und ich einen Wunsch frei hätte. Was würde ich mir wünschen, wenn ich einen Wunsch frei hätte? Aber warum denn einen? Verteilen Feen nicht üblicherweise drei Wünsche? Ich will nicht besserwisserisch erschei–

Aber okay, sagen wir, eine Fee käme vorbeigeflogen und hätte nur einen Wunsch zu vergeben. Die Zeiten sind andere. Nun gut. Ich schließe die Augen: Dunkelheit. Ich öffne die Augen: Dunkelheit. Ich schließe die Augen. Ich habe keine Augen. Ich sehe. Einen Zaun. Würde ich mir wünschen. Wegen: s. o. Aber da ist die Fee schon wieder weg.

Ich will nicht jammern. Ich genieße die Aussicht. Die Welt liegt mir zu Füßen. Wie sollte ich nicht glücklich sollte ich sein. Freu dich deines Lebens, sag ich mir. Du führst doch ein reiches. Leben, führst du. Schau dir den Kreis an. Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoffdioxid. Menschen und Tiere atmen ein und aus, so einfach ist das. Arme sind da. Zehen. Brücken. Vollernter im Baumwollfeld. Narzissen. Die Soloserenade einer erwachsenen männlichen Grille. Es ist doch wahrlich keine geringe Welt, die ich da mit mir herumschleppe! Wie kommt es also, dass meine Eigenbewegung früher so viel abgebrühter war. Selbst meine verbrannte Hand hätte ich noch ins Feuer gelegt für den unverbrüchlichen Glauben an diese Mission. Aber wo früher Zuversicht war, werde ich heute von Zweifeln getrieben, immer weiter hinaus. Weiter hinaus. Auf offener, niemals zurückkehrender Bahn schwebe ich als träge Masse durch den Raum und sehne mich nach meinem Zuhause Domizil Wohnung Heim Heimat Vaterland. Mutterboden. Lange, wie lange sondiere ich schon durch die Ödnis, ohne zu wissen, wonach ich eigentlich suche. Blind wie ein Maulwurf bin ich, der sich Stunde um Stunde durch die Finsternis wühlt. Werden sie mich finden und ich sie? Werden sie verstehen, was ich zu erzählen habe? Werden sie Augen machen oder anderes? Wann werde ich endlichendlich nicht mehr allein sein? Jetzt lamentier ich, ich merk es selbst. Aber manchmal geht der Imagewechsel schneller vonstatten, als es einer wie mir lieb sein kann: eben noch Hoffnungsträger einer ganzen Zivilisation und plötzlich nur noch ein einfacher Probekörper, verschwindend in der Nebelflucht. Alles nicht so einfach ist das nicht. Die Versorgung nimmt ab. Manchmal spüre ich’s scharf. Nein: unzweideutig unmissverständlich unverschleiert genau. Spüre ich’s. Also: deutlich. Ich bin gezwungen, von mir selbst zu zehren. Wie lange liefern 116 Bilder Nährstoff?

Es ist schon zu lange leer um mich und die achthundert Kilo Fracht, anfangs leichtes Gepäck, bedrücken mich von allen Seiten. Auf Erden sprechen sie wohl schon seit geraumer Zeit nicht mehr davon, in welche Regionen ich vorgedrungen bin, und meine Ladung belächeln sie wahrscheinlich auf Fachkonferenzen. Sie machen sich keine Hoffnung mehr. Das, was Hoffnung war, ist Rührung gewichen. Aber wie gewiss bin ich selbst noch beim Blick in die Leere, dass dies der richtige Weg war für mich und den Rest. Wie sicher ist, was mir lange untrüglich war, dass irgendwer hier draußen die Klänge in meinem Aluminiumleib zu hören bekommt. Meine Geschichten wiegen mir schwer. Schnuppere noch einmal, aber: nichts. Nicht einmal der Verwesungsgeruch einer vergangenen Zivilisation. An Gerchüe knan man scih nhcit ennriern. Ernnrien. Erirnnren. Erinnern: ja. An Gerüche kann man sich nicht erinnern, sagt man. Ich kann das nicht wissen. Ich glaube ihnen. An Ergüsse kann man. Man kann sich nicht. Entrinnen. Aber was bleibt mir anderes, als mich an alte Überzeugungen zu klammern: Wenn niemand mehr auf Erden ist und der Planet verbrannt, werde ich weiter erzählen, und jemand da draußen wird erfahren, dass es vor langer Zeit einmal eine Alte dort unten gab, und ihre Schienbeine waren scharf.

WAHRSCHEINLICHKEITEN

Auf der Dachterrasse.

Erst ist es ein fernes Grollen, das sich nicht deuten lässt. Dann rast ein brennendes Ungetüm auf die Erde zu, dunklen Rauch hinter sich herreißend. Wrackteile durchschlagen Häuser, Bäume, Straßen, ein unerträgliches Dröhnen erfüllt die Luft, ein Pfeifen, ein Fauchen überall und die Einschläge immer dichter, alles geht in Flammen auf. Das Spaceshuttle muss direkt über dem Ort explodiert sein. Therese rennt und rennt, zwischen einstürzenden Gebäuden hindurch, zwischen Kratern in den Straßen, in den Häusern toben Feuerstürme, alles brennt, sie hört sich nicht schreien in dieser ohrenbetäubenden Kulisse. Dunkle Schwaden. Wohin nur. Nur immer weiter. Eine Anhöhe hinauf, von dort der Blick in die Trümmerlandschaft. Auf ungewissen Wegen weiter, rennend. Sie erreicht einen Park und bleibt keuchend auf der Wiese stehen. Ihre Augen tränen. Auf dem Teich schwimmen Enten. Am Ufer hebt eine Rotwangenschildkröte ihren Kopf in die Sonne. Menschen sitzen auf Parkbänken, einige lesen. Wie ruhig es ist. Ein Mann schaut von seiner Zeitung auf, er lächelt. Nickt ihr zu. Was ist mit dir, will sie rufen, was um Himmels willen ist mit euch allen, seht ihr denn nicht, was hier los ist, die Katastrophe bricht über uns herein und ihr sitzt hier? Bin ich die Einzige, die es sieht? Wie könnt ihr denn so leben? Aber kein Wort kommt heraus, es ist beinah völlig still jetzt. Sie horcht, ob da nicht doch irgendein Ton ist, aber: nein. Nicht einmal in der Ferne Sirenen.

In stickiger Luft, zwischen kurzen, schnellen Atemzügen, wacht sie auf. Wischt sich den Schweiß vom Bauch. Erkennt verwischtes Sonnengelb, Orangegelb, ockergelbe Schlieren darüber, Schwammtechnik. Das Hostel. Langsam kommt alles wieder. Von draußen dringt ein Geräusch ins Zimmer. Ein Generator vielleicht oder ein Baustellenfahrzeug. Die Lippen sind trocken, nur in den Mundwinkeln kleben feuchte Reste vom Schlaf, dazu der Kopf, dieser Kopf. Ich glaube, ich ersticke. Sie zieht den Stofffetzen neben sich zur Seite, reißt das Fenster auf. Kühle Luft und die Grillen werden noch lauter.

Das Bett unter ihr ist schon leer, auch alle anderen. Vier Stockbetten mit verbogenen Metallleitern, die in den Rahmen eingehakt sind, dazwischen zwei übereinandergestapelte Regale mit Fächern, die sich angeblich abschließen lassen, aber es fehlen selbst Haken für die Schlösser. Wir sind hier wie eine Familie, hatte der Junge von der Anmeldung erklärt, aber ob damit auch die Verwahrung der Wertgegenstände gemeint gewesen war, blieb unklar. Neben dem Regal ein Papierkorb, ein Tisch, zwei Stühle. Lenkas Kleidung liegt verstreut auf einem der unteren Abteile, zwischen viel schwarz einige graue Flecken. Therese klettert drei Sprossen hinunter. Das verschwitzte T-Shirt loswerden.

Der Junge an der Anmeldung blickt kurz hoch, als sie aus dem Zimmer kommt. Hola. Unter der Rezeption flappt sein Flipflop in schnellem Takt. Sie tritt in den Innenhof, der völlig verlassen ist. Zwischen den bemalten Baumstümpfen an der Feuerstelle liegen ein paar Bierflaschen. Tautropfen bedecken die Sitzpolster, die starr sind von der ständigen Feuchte der Nacht und der ständigen Hitze des Tages über Monate. Nur die Hocker hinten an der Bar stehen schon in der Sonne, der Rest des Innenhofs liegt im Schatten. Terrakottafliesen umrahmen das quadratische Rasenstück und die Zimmertüren die Terrakottafliesen. An einer Seite öffnet sich das Quadrat Richtung Anmeldung und Ausgang, an einer Seite befinden sich die Klokabinen und drei Duschen hinter Holztüren, die bis knapp unter das Knie und bis zum Hals reichen. Außer den Grillen ist nichts zu hören. Es muss noch früh sein. Menschen, die sich im Urlaub befinden, haben keinen Grund, um diese Zeit den Innenhof eines Hostels zu bevölkern. Normale Menschen. Menschen, die Schlaf finden. Therese macht einen Schritt ins Gras und pfeift probeweise, aber leise. Sollen die Verbliebenen, die friedlich schlafen, friedlich schlafen. Von der Dachterrasse kommen zwei kurze Pfiffe zurück.

Lenka sitzt wieder einmal dort oben: auf den Knien ein Buch, auf dem Buch das Notizheft, über alles gebeugt ihr Kopf, die nackten Füße auf der Kante des Tischs. Lackierte Fußnägel, wer hätte das gedacht. Wenn Therese nachts ins Bett geht, bleibt Lenka wach und ist offenbar schon Stunden auf den Beinen, wenn Therese sich aus dem Hostelzimmer wieder ins Freie schält. Jetzt blickt sie abwesend auf, als Therese auf die Dachterrasse tritt, wendet sich aber gleich wieder ihrem Notizbuch zu. Auf ihren Zehen schimmern die Härchen in der Sonne, einige sind erstaunlich lang. Der Tisch besteht aus Bierkisten, auf die jemand eine Holzplatte geschraubt hat. Mit der Zeit ist die Platte verwittert und durch die Feuchtigkeit der Nächte uneben geworden, mit Brandlöchern in den gemusterten Farbresten. Darauf, zwischen Sand, Asche, Streichhölzern, weiterem Unrat steht eine Tasse mit Instantkaffee und ein Teller mit verschmierter Karamellcreme, einem halben Brötchen. Es ist ungewohnt, aber nicht unbedingt unangenehm, so wenig zu sprechen wie in den letzten Tagen mit Lenka. Im Leben, das man gewohnt ist, findet ständig irgendeine Kommunikation statt, ohne dass es einem weiterhelfen würde. Therese setzt sich auf einen der Plastikstühle und hält ihr Gesicht in die Sonne. Lenka isst wenig, spricht wenig, ist aber ansonsten eine Reisegenossin, an die man sich schnell gewöhnt, unkompliziert und tolerant gegenüber Thereses Wünschen (jetzt ein Bier, jetzt ein Spaziergang, jetzt Empanadas), außerdem scheint sie einen Plan zu haben, dem man sich hingeben kann, und so sitzt Therese morgens auf der Dachterrasse, schwenkt den Instantkaffee in der Tasse, um die letzten Bröckchen am Grund aufzulösen, und besieht sich über Lenkas Nackenpartie hinweg den Azarcumbre. Beinah könnte man meinen, sich im Urlaub zu befinden.

Und jetzt fährst du also erst mal in den Urlaub, sehe ich das richtig? hatte die Mutter gefragt.

Es ist kein Urlaub.

Wie würdest du es denn nennen?

Es ist eine Recherchereise. Ich bin quasi ihre Assistentin.

So, und was recherchiert sie?

Sie ist Physikerin.

Und weiter?

Sie arbeitet als Astrologin an der Uni–

Nomin.

Was?

Astronomin.

Ja. An der Uni. Und sie forscht an einer Formel, mit der sich die Wahrscheinlichkeit intelligenter außerirdischer Zivilisationen berechnen lassen soll. Oder abschätzen.

 

?

In der Milchstraße. (Ja, Mutter, da schaust du, was. Mit so was Unpraktischem beschäftigen sich manche Leute. Get over it.) Das ist ein völlig normales Forschungsgebiet, ich wollte es auch erst nicht glauben.

Und seit wann interessierst du dich für Physik?

Es geht nicht um Physik, es geht um mein Spanisch. Ich spreche besser Spanisch als sie. Lenka will, dass ich die Textrecherche übernehme, überhaupt die ganze Kommunikation.

Die Mutter sah nicht überzeugt aus. Und ganz so hatte das sicherlich auch nicht gestimmt. Im Grunde war überhaupt nicht die Rede von irgendeiner Form von Hilfe oder Assistenz gewesen, es hatte bis vor Kurzem nicht einmal zur Debatte gestanden, zu zweit nach Südamerika zu fahren. Genau genommen war dieser eine Satz am Meerbusen nicht einmal eine eindeutige Einladung gewesen. Aber da Therese nun schon einmal diese Reise unternimmt, hat sie ernsthaft die Absicht, sich nützlich zu machen. Gleich nach diesem Kaffee. Sie lehnt sich auf der Dachterrasse zurück und streckt die nackten Beine von sich. Der Berg in Schleiern von Vormittagsdunst. Lenkas knochige Knie in der Sonne. Sie könnte meine Mutter sein. Nein, könnte sie nicht.

Zweimal hatte Therese sich mit deutlich Älteren eingelassen. Einmal während der Klassenfahrt in der Oberstufe mit einer Lehrerin aus dem Bayrischen, die im gleichen Gebäudekomplex in den Abruzzen untergebracht gewesen war und später Erstaunen heuchelte, weil sie Therese angeblich für eine Betreuerin gehalten hatte. Einmal mit einer Dauerstudentin im paarundzwanzigsten Semester, die sich in der Grundvorlesung mehrfach offensiv neben sie gesetzt und gleich zu quatschen begonnen hatte. Es muss relativ früh im Semester gewesen sein, damals hatte Therese noch beste Absichten. Reagierte kaum auf den unablässig geflüsterten Redestrom von rechts. Assoziativ gelockerte Wortfetzen, dazwischen die Lache der Dauerstudentin, die etwas Militärisches an sich hatte. Der Professor schaute hoch in die oberen Ränge, konnte es aber nicht orten. Maschinengewehr oder Feldwebel: sie ratterte. Therese versuchte, den Ausführungen des Dozenten zu folgen, verlor sich dann eine Weile in Gedanken und stieg erst wieder ein, als die Dauerstudentin einen Schwenk von der Mensa am Park zu ihrer Mutter gefunden haben musste, eine offenbar schwer erträgliche, noch dazu ultrakatholische Frau, der sie als Jugendliche im Streit mehrfach Marienerscheinungen vorgetäuscht hatte. Jetzt drehte sich Therese doch zu ihrer Sitznachbarin. Eigentlich hübsch. Und Marienerscheinungen als Streittaktik? Not bad. Not bad at all. Nach der Vorlesung nahm sie die Sitznachbarin mit ins Wohnheim. Bei diesem einen gemeinsamen Nachmittag war es aber auch geblieben. Ansonsten eher Gleichaltrige oder zumindest aus dem Bereich an Altersklassen, den man trifft, wenn man studiert, es am Wochenende nach Stunden bewegungslos auf der Matratze spätnachts doch noch aus dem Bett im Wohnheim schafft und in den üblichen Lokalitäten landet. Meistens ist irgendwer dabei, der einen mitnimmt. Oft Frauen, manchmal Männer, manchmal weder noch. Nachts fühlt es sich richtig an, morgens falsch, aber an Erfahrung hat es uns nicht ärmer gemacht.

Jetzt also Lenka. Auch wenn klar ist, dass das hier eine völlig andere Nummer ist, nicht nur, weil sie aussieht, als sei sie überhaupt noch nie von irgendjemandem angefasst worden. Kategorie unberührte Unnahbare. Alles schon gesehen.

Lenka schaut von ihrem Notizbuch auf und säbelt mit dem Aluminiumbesteck an dem Brötchen herum, nicht grob, beinah zärtlich sogar, aber das Ergebnis bleibt das gleiche: bis nur noch Bruch übrig ist. Es scheint ihr nicht einmal aufzufallen. Sie quetscht ein paar Teigbröckchen zusammen und wischt durch die Karamellcreme. Überhaupt hat sie etwas schmerzhaft Ungeschicktes an sich. Selbst wenn sie sich die Schuhe bindet, wirkt es, als hätte sie es eben erst gelernt. Wie ist diese Frau nur bis hierher durchs Leben gekommen? Immer eine Kippe zwischen den Lippen, aber wenn sie sich eine Zigarette dreht, will man ihr am liebsten die ganze Zeit zur Seite stehen, fragen: Kann ich helfen? Zu viel Tabak, zu wenig Tabak, zu trockene Finger, um das Zigarettenpapier ordentlich zu rollen, der Klebestreifen versehentlich auf der falschen Seite und wenn sie fertig ist, fällt am Ende der Filter heraus oder wird von einem Schwanz überhängendem Papier verdeckt, das Endprodukt sieht eher aus wie ein Joint oder aber ist, das am häufigsten, ein krummes, verknittertes Stengelchen zwischen ihren dürren Fingern. Da lächelt sie nur schief: Es kommt auf die inneren Werte an.

Wahrscheinlich ist es nicht einmal zehn und schon legt sich eine trockene Hitze über die Dachterrasse. Auf die nackten Füße und Oberschenkel, die Köpfe. Therese streckt sich, zieht das T-Shirt hoch und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Von Lenka nicht einmal ein Blick. Hoch oben kreisen Greifvögel vor schlierigen Wolken, unten auf dem Teller zerlaufen die Reste des Karamells zu einer klebrigen Pfütze.

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