Seltene Erde

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Auf der Brücke.

Schwarz und glatt ist es unter ihr, dazwischen vereinzelte Eisschollen, der Fluss ist noch nicht vollständig aufgetaut. Alles begrenzt von ein paar Funzeln an der Promenade links, kein Mensch zu sehen, erst recht nicht rechts, zerlaufene Dunkelheit Richtung Farbwerke. Nichts Aufgewühltes, nichts stumpf Graues oder Braunes, auch nicht das tiefe Grün mancher Frühlingstage. Zwischen dem Eis schwarz nur und endgültig.

Lenchen war aus dem Taxi gestiegen und bis zur Haustür gegangen, hatte in der Handtasche gekramt nach einem Schlüssel, den sie längst gefunden hatte, als das Taxi endlich losfuhr. Sie wartete noch einen Moment, aber wessen Verdacht sollte sie erregen, und ging dann Richtung Ufer. Sie musste nach dem Betriebsfest nicht einmal mehr hoch in die Wohnung, alles bei sich, auch den Fuchs, leichtes Gepäck. Im Main ist viel Platz. Wenn ich wüsst, ich würd heut sterben, würd ich meinen besten Pelz tragen. Es ist ihr einziger. Füchse zusammengenäht zu einem Überfuchs. Der Fuchs für besondere Anlässe. Über die Weihnachtsfeiertage ein paar Mal getragen, zum Gottesdienst und am Silvesterabend auf dem Balkon. Auch da schon Winter, der gerade erst begonnen hatte und nicht enden wollte. Der Fuchs für heute Nacht gleich doppelt passend.

Beim Schwimmenlernen wäre sie beinah ertrunken, anderer Ort, anderer Fluss, schon kurz vor der Mündung. Ganz ohne Fuchs, nur eine geringelte Badehose auf dem Kinderleib. Vom Balken gerutscht, der unter der Wasseroberfläche im Grund verschraubt war und auf dem sie hintereinander in kurzem Abstand gehen sollten, was kaum möglich war bei der Strömung, und oben die Bewegung üben, die Ärmchen ausstrecken wie ein Frosch, zur Seite schaufeln wie ein Maulwurf, kräftig zur Seite, während in der Flussmitte die langen, flachen Frachtkähne vorbeizogen, die Hügel von Kohle auf dem Rücken. Vom Balken gerutscht, aus der Mitte der anderen heraus und schnell abgetrieben, an der Kaimauer entlang. Irgendwer war auf der Uferpromenade nebenhergelaufen und am nächsten Einstieg die paar Stufen hinuntergesprungen, hatte sie herausgezogen und gleich wieder auf den Balken gestellt. Am Ende des Schuljahres konnten alle Mädchen der Klasse schwimmen, aber wenn es darauf ankommt, wenn man es wirklich will, lässt sich das vergessen. Fast alle, die es wollten, haben es damals geschafft. Der einzige Weg ins Freie, der offensteht.

Im Main ist viel Platz. Es ist kalt hier oben trotz der Füchse und Lenchen sieht keinen Menschen. Aber eine kommt doch vorbei, auch sie im Pelz, täuschend echt. Die Beine hat sie sich in den Bauch gestanden den Tag über auf der Straße, der Frühling ist fern, das Geschäft läuft schlecht, endlich ist sie auf dem Weg ins Warme, als sie am Brückengeländer diese junge Frau stehen sieht. Lenchen mit dem Dom im Rücken, den Blick ins Wasser. Mach dich nicht unglücklich, Mädchen, sagt sie im Vorübergehen zu der Kleinen und später: Wer stand nicht schon einmal nachts auf einer Brücke und brauchte nur ein Wort des Trosts? Aber die Kälte in den Knochen, der Heimweg noch lang. Den Aufprall habe sie erst gehört, als sie schon fast an der Promenade angekommen sei. Sie sei zurückgelaufen zur Brüstung, nichts zu sehen erst, aber ein Rufen von links und dort auch zwei dunkle Gestalten. Zwei zufällige Spaziergänger und einander unbekannt, heißt es in der Zeitungsnotiz. Nur: Wer geht denn zufällig nachts dort unten spazieren? Sie habe die Herren rufen gehört oder einen der beiden, habe von oben gesehen, wie der andere zu einem der Rettungsringe gelaufen sei, die dort am Ufergeländer hängen alle paar Meter. Er habe ausgeholt und etwas gerufen, dem Mädchen etwas zugerufen, als er den Ring ins Dunkel schleuderte, ein zweites Platschen sei zu hören gewesen vom Brückengeländer aus, und da habe sie auch die Kleine im Wasser gesehen, ein noch dunklerer Fleck als der Rest, der nasse Fuchs nur zu erahnen. Dann noch ein Ruf von links in die Nacht – die schwimmt ja! habe der eine gerufen und noch einmal, diesmal hoch zu ihr auf die Brücke, als hätte er da oben eine gültige Zeugin gesucht: Die schwimmt ja!

Und Lenchen schwimmt. Weg vom Ring.

Glück haben.

Es ist nicht zu sagen, warum die Kleine ausgerechnet an dieser Stelle stolpert. Gerade schien sie langsamer zu werden. Aber dann knickt ihr Fuß weg, als hätte er auf einen Schlag alle Sehnen verloren, ihr Oberkörper ruckt nach vorne, sie geht in die Knie, schwankt diesen Moment in der Luft, gibt einen Laut von sich, keinen Schrei, eher so ein Seufzen, fällt auf die Unterarme. Ihre Finger, die sich sofort um den Eisenträger krallen. Sie hängt mit Hintern und Beinen über dem Abgrund, tritt mit dem Turnschuh ins Leere, etwas rutscht aus ihrer Hosentasche und klatscht unten ins flache Wasser, sie zieht sich – wie: irgendwie – zurück auf die Außenstrebe und bleibt als verkrampftes Paket dort sitzen. Das Entsetzen in ihrem Kindergesicht. Neben Therese winselt es.

Der riesige schwarze Hund steht plötzlich neben ihnen. Mager ist er. Direkt hinter ihm ein Typ im fleckigen karierten Hemd. Kssssch, El Flaco, sagt der Typ. Er fixiert das Mädchen auf der Brücke und zieht an seiner Zigarette. Ksssch. Aber der riesige schwarze Hund jault weiter.

La conoces, kennst du die? Therese nickt zu dem Mädchen auf der Brücke. Statt einer Antwort schnalzt der Typ nur einmal mit der Zunge hinter den Schneidezähnen und ruckt mit dem Kopf. Er schaut weiter zur Brücke. Die Kleine rutscht langsam über die Holzbohlen auf sie zu. Sie hat sich ihren Rucksack geangelt und bewegt sich in winzigen Etappen vorwärts. Wenn sie eine Hand löst, um die nächste Bohle zu greifen, zittert der Arm bis zum Schulterblatt, ein ausuferndes Schlenkern an dem sonst verkrampften Körper. Das alles in konturlosem Mittagslicht am Ende der Welt, weit hinten der Azarcumbre mit seinem rotbraunen Mal auf der Flanke. Vor ein paar Wochen, hatte der Junge aus dem Hostel erzählt, ist hier erst ein Gleitschirmflieger abgestürzt, dann der Rettungshubschrauber. Die Menschen sind alle davongekommen, aber der spärliche Wald am Azarcumbre und seine Tiere haben Feuer gefangen. Drei Tage haben die Flammen über dem Ort gelodert, am Berg, wo sonst die Ufos landen. Und auch sie und Lenka verbrennen sich die Nacken und die Oberarme. Trügerische Schleierwolken und ein leichter Luftzug.

Die Kleine hat sich an Land gerettet. Hat die Hand, die ihr für die letzten Meter entgegengestreckt wird, übersehen. Kaum zurück auf festem Boden, scheint sie schon wieder unbeeindruckt von allem. Was gibt’s da zu glotzen? Sie blickt sehr uninteressiert. Pfefferbäume, blasser Himmel, sieh an. Und dann schlendert sie davon. Ohne ein weiteres Wort, auch ohne Blick, in die Richtung, aus der Lenka und Therese gekommen sind.

Cigarillo?

Der Typ lässt sich auf dem Boden nieder und dreht sich eine. Sie setzen sich zu ihm. Vielleicht passiert derlei hier jeden Tag. Kann alles sein. Vielleicht gibt es Scharen Fallsüchtiger zu beklagen, die sich an dieser Stelle Woche für Woche die Glieder brechen. Irgendeiner dreht immer durch. Warum traut man das diesem Ort ohne Weiteres zu? Aber der Typ beruhigt. Nur im letzten Jahr ist mal eine hinuntergefallen, sagt er, und die hatte Glück. Den Arm hat sie sich gebrochen, mehr nicht. Ein überhängender Baum an der Böschung hat den Sturz abgebremst. Lucky girl. Otherwise, sagt er: Tomato. Er grinst.

Sie bleiben noch eine Weile sitzen und an dieser Stelle entfaltet sich eine gewisse Erschöpfung über den Tag. Selbst Lenka scheint in diesem Moment genug zu haben. Sie hat ihre dünnen Beine, die Füße in den Ledersandalen, dicht an den Oberkörper gezogen und blickt auf ihre Zehen, die Arme seltsam in sich verschränkt. Immerhin etwas Verbindendes hat es doch, die Erinnerung, die gerade einmal ein paar Minuten alt ist, und der gemeinsame Schreck in unterschiedlichen Gliedern. Sitzen bleiben. Erst einmal nicht sprechen, nur immer mal mit den Lippen ein Geräusch der Erleichterung machen, oder ist es Fassungslosigkeit? Wortlos Tabak reichen, wortlos Tabak entgegennehmen, zum Dank nicken. Sich nach ein paar weiteren Geräuschen einander vorstellen. Therese, Lenka, Fabián, das da ist El Flaco, der Dünne. Nebeneinandersitzen, als würde man sich schon lange kennen. Der riesige schwarze Hund döst im Schatten der Brückeneinfassung.

Wie lange sitzen sie dort, als Fabián fragt, was sie hier eigentlich suchen. Urlaub? Oder warum seid ihr hier? Von außen müssen sie und Lenka wie eine ungleiche Reisegruppe wirken. Die Kleidung, der große Altersunterschied. Fabián selbst ist garantiert aus dem Dorf, wie er da sitzt in seinem schmuddeligen karierten Hemd, mit den kleinen Händen und den linienlosen Lippen. Blickt sich um, als wäre es sein Wohnzimmer, aber nicht unsympathisch.

Warum seid ihr hier, fragt er und weil Lenka wieder einmal nichts sagt, nicht einmal den Ansatz einer Reaktion erkennen lässt, antwortet Therese wahrheitsgemäß: because of the aliens.

Claro, murmelt er, warum auch sonst. Im Übrigen hat er selbst schon ein Ufo gesehen, wenn auch nur ein einziges Mal. Als Kind abends neben seiner Großmutter auf dem Heimweg.

Und wo?

Wo? Na hier. Er nickt Richtung Azarcumbre. Am Berg. Sie sind immer am Berg.

Man will nicht wissen, wie vielen Touristinnen er diese Story schon erzählt hat. Seine Großmutter Ana, sagt er, habe locker schon zwei Handvoll gesichtet über die Jahre und die Beweise fein säuberlich in ein Album sortiert. Thereses mitleidigen Blick übersieht er. Ana sagt immer, nur Liebende können sehen, und Kundige. Vielleicht habt ihr ja Glück.

Er streicht über El Flacos Fell, das an der Wirbelsäule beidseitig zu einem kurzen, struppigen Irokesenstreifen zusammenschlägt, fährt die Linie mit dem Zeigefinger nach, vom Nacken bis zum Schwanzansatz, jetzt vorsichtig gegen den Strich. Staubwölkchen, die sich auf schwarzes Hundefell legen. Ihr solltet sie in jedem Fall kennenlernen.

 

Ankommen.

Allein der Ort. Lenka hatte ihn anders beschrieben, aber wie eigentlich? Oder Therese hatte eine andere Vorstellung. So jedenfalls nicht. Eine Gemeinde aus wenigen Hundert Einwohnern, zusammengehalten vom ständigen Wind, der über die Hochebene jault, und den weit in die Vergangenheit zurückreichenden Erfahrungen, in steter Unregelmäßigkeit von fremden Zivilisationen heimgesucht zu werden. Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte Lenka zum ersten Mal von dem Dorf erzählt. Und Therese, die zu dem Zeitpunkt noch damit beschäftigt gewesen war, sich einen Reim auf die fremde Frau zu machen, die ihr da unvermittelt von der Suche nach technologischen Zivilisationen in der Galaxis berichtete, nahm Lenkas Erzählung von diesem Ort in Südamerika auf, wie man derlei eben aufnimmt, wenn man sich kaum kennt und eine gute Kinderstube genossen hat: höflich und interessiert. Vielleicht hätte sie gezielter nachgefragt, wenn sie gewusst hätte, dass sie am Ende mitreisen würde.

Das Dorf liegt in der sanften Talsenke einer Hochebene irgendwo zwischen Anden und Río de la Plata, umgeben von sandbraunen Hügeln, nur der zerklüftete Azarcumbre ist deutlich höher. Abends wirft er seinen Schatten über das Dorf. Die kleine Einkaufsstraße ist überdacht und genau genommen, das hatte Therese Lenka vorgelesen, während sie auf den Zug gewartet hatten, genau genommen ist es die einzige überdachte Einkaufsstraße des Landes. Ein Jubiläum hat sie dem Ort vor Jahrzehnten beschert, jetzt schützt dieses von innen verkleidete Ungetüm auf Stelzen die Touristen vor den Unannehmlichkeiten der Witterung. Wobei von denen um diese Jahreszeit nicht viele übrig geblieben sind.

Die überdachte Einkaufsstraße beginnt wenige Schritte hinter dem Busbahnhof. Neben der schweigenden Lenka kreuzte Therese am ersten Tag ihres Aufenthalts durch den Ort. Heruntergekommene Ladenlokale, Cafés. Gehwege, nur durch ein paar Zentimeter vom Straßenniveau getrennt. Alles aus festgetretener Erde, über die der Staub weht. Sie versuchte es mehrmals, sagte: Schau mal da, hast du das gesehen, weißt du, was echt witzig ist? Erzählte von ihrer Anreise. Der Bingopartie im Reisebus, einer Landschaft voller Rinder im Sonnenuntergang. Wenn dann immer noch nichts kommt, hält man irgendwann den Mund, kein Problem. Aber wundern darf man sich schon. Dabei erkannte sie vieles von ihren paar gemeinsamen Tagen in Russland wieder. Das Schweigen. Dieses mickrige Essverhalten. Die krummen Zigaretten. War doch klar, dass das nicht plötzlich weg ist. Menschen ändern sich nicht.

Im Hinterland des Dorflebens stehen niedrige helle Häuser mit gepflegten Vorgärten und zwischen den niedrigen Häusern ebenso niedrige Bäume. An den Strommasten hoch über den Gartenzäunen knäulen sich die Leitungen. An beinah jeder Straßenecke weist ein Schild den Weg zum Busbahnhof. Als wollten hier alle schnellstmöglich weg. Dazwischen: Katzen, viele Hunde. Die einen rund um die Blumenkästen auf der Promenade, auf den Motorhauben und Fensterbänken dösend. Die anderen zwischen den Plastikstühlen und in Gruppen vor der Bankfiliale oder auf dem Vorplatz des Busbahnhofs. Alle haben ihren Platz. Hier im Dorf werden die Katzen nicht ertränkt, nicht mit noch blinden Augen an die Stallwand geschleudert. Wer hier im Fluss spielt, dem treibt es keine winzigen gefleckten Körper mit aufgeblähten Bäuchen zwischen die nackten Beine. Dem klebt keine hauchdünne Nabelschnur an Schienbein oder Wade, wie damals im Österreichurlaub. So ist die Welt, hatte Thereses Mutter von der Restaurantterrasse aus zu ihrer im Bach stehenden Tochter gesagt, während Therese den kleinen Körper auf und nieder wippen sah im flachen Wasser, auf seinem Weg stromabwärts an die Wackersteine trudelnd.

Aber hier im Dorf haben sie alle ihren Platz. Den Hunden begegnet man meist in mehr oder weniger großen Horden. In der Mittagszeit wird es ihnen offenbar zu warm, dann verziehen sie sich in den Schatten hinter den Zäunen. Einer öffnet mit einem gezielten Sprung auf die Türklinke eine Gartenpforte. An dieser Stelle sagte Lenka nun doch etwas. In ihrer Kindheit in Moskau seien die Straßenhunde mit der U-Bahn von den Außenbezirken in die Innenstadt gefahren. Morgens hin, dort den Tag verbracht, bisschen durch die Straßen streunen oder was man halt so tut, und dann abends wieder zurück. Selbst Feiertage haben sie beachtet, sagte sie.

Ja klar.

Ich schwöre dir, genau so war es. Sie lächelte. Und abends hatten sie erschöpfte Blicke wie alle Pendler.

Auch als Therese und Lenka von der Brücke zurück ins Dorf kommen und sich auf den Stufen vor dem Gemeindesaal niederlassen, werden sie gleich von einem hechelnden Rudel umringt. Manche werden von den Dorfbewohnern im Vorbeigehen begrüßt. Hola Chaco, und Chaco wedelt beiläufig. Therese nutzt das freie WLAN des Gemeindesaals und schickt den blassen Azarcumbre, dann ein Bild der Pfefferbäume in den Familienchat. Fast augenblicklich kommt ein Schneemannhäufchen von der elterlichen Terrasse als Antwort. Wie nett, dass du dich auch mal wieder meldest.

Chaco legt sein Kinn auf die unterste Stufe und lässt sich von Therese die Stirn kraulen. Hinter den rastenden Hundekörpern erstreckt sich ein asphaltiertes Niemandsland mit Abfalleimern, dahinter beginnt die Promenade. In den Geschäften bleichen die Auslagen aus, einäugige Teddybären, Ufo-Mützen, der blasse Alien-Aufdruck auf der Limonade ist kaum noch zu erkennen. Eingestaubte Lampions schwingen sacht im Latinopop der Pizzeria am Eingang der Einkaufsstraße. Schummerlicht. Ein Kellner versucht, die wenigen verbliebenen Touristen mit einer riesigen Speisekarte in die Plastiksitzgruppe unter dem Strohdach zu drängen, ein paar Mal hat er Glück. Vor den Lokalen stehen Ladenbesitzer und unterhalten sich. Einer rückt einen Plakataufsteller zurecht, der Nachtwanderungen zum Azarcumbre bewirbt. Er schaut dabei in ihre Richtung. Eine Weile sitzen sie, ohne etwas zu sagen, dann schreckt Chaco zu ihren Füßen hoch. Er stellt die Ohren auf. Aber es ist nur Nieselregen. Chaco drückt den Rücken durch. Eben war es doch noch hell. Er trottet Richtung Promenadenüberdachung und hinterlässt auf dem feuchten Asphalt einen hellen Fleck.

Therese dreht sich noch einmal um zum Azarcumbre. Ein Schatten hängt über dem Berg, die verbrannte Flanke erscheint noch dunkler. Therese hat immer noch Hunger. Dieses Dorf, sagt sie. Ich weiß ja nicht.

Lenka steht auf und streckt sich. Ich weiß es auch nicht. Aber von allen Orten erscheint mir der hier am wahrscheinlichsten.

Russland, vorher.

Lenka hatte den Tipp, dass es hier etwas zu holen geben könnte, von einem Historiker in Sibirien, und der hatte irgendwo mal was darüber gelesen. So erzählte sie es zumindest Therese. Ein Abstecher von knapp viertausend Kilometern brachte sie von ihrer Konferenz in St. Petersburg in das Naturkundemuseum von Krasnojarsk und als sie dort mit dem Historiker vor der Vitrine mit den Meteoritenresten stand, zog er einige der beschrifteten Holzschubladen unter dem Glaskasten heraus, legte Lenka einen pflaumengroßen Meteoritensplitter auf die Handfläche und erzählte ihr von jenem Ort in Südamerika, den er für aussichtsreicher hielt als diese Gefilde. Vermutlich erschien ihm alles aussichtsreicher als die sibirische Tundra.

Lecken Sie mal dran. Er deutete auf den Meteoritensplitter. Sie zögerte nicht einmal. Nicht nur mit der Zungenspitze, sondern einmal ordentlich von einem Ende bis zum anderen. Ein metallischer Geschmack, vertraut auf eine Weise, etwas aus der Kindheit vielleicht, und gleichzeitig sehr fremd, aber auch an irdischen Steinen leckt man selten. Später knirschte es zwischen den Zähnen.

Alles lang her, sagte der Historiker und betrachtete die Meteoritenbrocken in der Vitrine, als hätten sie etwas mit Lenkas Anliegen zu tun. Alles lang her und auch in den Archiven ist nur das Bemühen dokumentiert, kein Kontakt. Es sei nicht einmal mehr zu sagen, wer ursprünglich die Idee gehabt habe, die Intelligenz außerirdischer Zivilisationen an einem Fundamentalsatz der euklidischen Geometrie festmachen zu wollen oder als wesentliches Merkmal der Menschen und als Botschaft fürs All ausgerechnet den Satz des Pythagoras mit Abertausenden von Steckrüben auf die Erde zu pflanzen. Hier sind wir, sollte das heißen. Hier sind wir und wir sind intelligent. Aquadratplusbequadratgleichcequadrat in strahlendem Steckrübengelb. Und zugegeben, sagte der Historiker, die Idee war ja nicht schlecht. Nur, wo macht man das, in der Größe? Er wartete einen Moment, dann breitete er die Arme aus, vollführte eine Vierteldrehung mit dem Oberkörper und zurück: Voilà, sagte er mit russischem Akzent. Jemand sei von einer Forschungsreise zurückgekommen, die einen völlig anderen Gegenstand gehabt habe, sei über den Ural zurück nach Europa gereist, habe zufällig von der Suche nach einem geeigneten Ort für eine kosmische Botschaft gehört und feierlich gesagt: Freunde: Sibirien. Mutmaßlich erstaunte Mienen. Später habe der Reisende aufgeklärt: Riesige Flächen habe er dort drüben gesehen. Karge Landschaft. Wie lange haben die Extraterrestler auf farblose Tundra geblickt aus ihren fremden Welten. Da fällt es auf, wenn es plötzlich blütengelb in den Himmel leuchtet. Gut, man muss eingestehen, dass es wirklich sehr groß sein müsste, um aus solch einer Entfernung noch sichtbar zu sein. Gigantisch geradezu. Allein die Menge an Steckrübenpflanzen, man stelle sich das vor. Was kostet das. Wer beaufsichtigt das. Und am Ende, sagte der Historiker, sind die ganzen schönen Überlegungen in Vergessenheit geraten, aber wer will es ihnen verübeln? Es gibt auf der Welt wahrlich andere Probleme, als Kontakt mit dem kosmischen Nachbarn aufzunehmen, oder nicht?

Kurz darauf war Lenka zurück nach St. Petersburg geflogen, um auf der Konferenz ihren Vortrag zu halten, und kaum einen Tag später hatte sie auf der Bank am Finnischen Meerbusen auf russischer Seite gesessen. Therese drehte sich um, und da war sie. Sie rauchten eine Zigarette, und Lenka erzählte von ihrer Suche. Von der Frage, ob die Erde selten sei und intelligentes Leben ein rares Phänomen im Universum. Von den Außerirdischen und von diesem Ort. Kurz schien so etwas wie ein Ausweg auf: Man erzählt dir am westlichen Ende Russlands von der Suche nach einer anderen Welt und für ein paar gemeinsame Tage rücken Berlin und der Rest in wohltuende Ferne. Doch kaum zurück in Deutschland, war alles wieder da. Bis Therese Lenka Monate später an einem Busbahnhof in Argentinien wiedertreffen würde, zogen sich die Dinge zunächst zäh und schmerzlich in die Länge. Die Großmutter musste beerdigt werden und Therese versuchte, mit allerlei praktischer Unterstützung behilflich zu sein. Sie schrieb Adressen auf Behördenbriefe und klebte Briefmarken auf Umschläge. Sie klickte sich durch Vorlesungsverzeichnisse, schrieb sich für das zulassungsfreie Fach Verkehrswesen ein, um das günstige Zimmer im Wohnheim behalten zu können, und verbrachte die Tage in Embryonalstellung auf dem Bett. Eine ganze Weile hörten Lenka und sie nichts voneinander, dann schrieb Therese: Ich komme mit. Den Eltern sagte sie erst Bescheid, als sie die Bordkarte ausgedruckt hatte.

Südamerika? fragte die Mutter ungläubig.

Edel geht die Welt zugrunde, meinte der Vater zu den Reiseplänen seiner Tochter, mehr aber nicht.

Die Mutter: Du kennst diese Lenka doch kaum!

Damit hatte sie im Grunde recht. Aber bitte schön, sagte die Mutter, wenn du meinst, das Geld von der Oma auf diese Weise durchbringen zu müssen, tu, was du nicht lassen kannst.

Nach einer kurzen Pause dann aber doch: Und woher kennst du sie? Aus dem Sprachkurs?

Ja. Das heißt: so ähnlich. Ja.

So ähnlich?

Ich hab mich dort mal mit ihr unterhalten. Sie ist Muttersprachlerin. Also Russisch.

Du hast russisch mit ihr gesprochen?

Nein, natürlich nicht. Es war ein Drei-Wochen-Kurs für Anfängerinnen. A1. Da unterhält man sich nicht. Konversation kommt viel später. Deutsch. Sie kann Deutsch.

Und woher kennst du sie, wenn nicht aus dem Sprachkurs?

Das war bei so einem … also, eigentlich war es Zufall.

Zufall, Vorsehung, Wink des Himmels, man kann es nennen, wie man will. Irgendetwas davon brachte Therese in die St. Petersburger Peripherie, an den Finnischen Meerbusen auf russischer Seite, just in dem Moment, als auch Lenka dort auftauchte. Und eines kam zum anderen.

 

Es geht damit los, dass man eine Reise unternimmt, etwa um einen Sprachkurs in St. Petersburg zu absolvieren, etwa um den Zudringlichkeiten zu Hause zu entkommen und gleichzeitig die freie Zeit sinnvoll zu überbrücken, bis – tja, Mutter, bis was eigentlich? Jedenfalls nicht herumhängen. Therese sitzt vier Stunden vormittags in der Sprachschule, durchbrochen nur von einer viertelstündigen Kaffeepause, sagt: Здравствуйте меня зовут Терезе я из Германии изучаю то и это, was offenbar bedeutet: Hallo ich heiße Therese ich komme aus Deutschland ich studiere dies und das, kann allerdings, da Vergangenheitsformen erst später behandelt werden, in der fremden Sprache nicht formulieren, dass sie im Grunde nicht studiert, vielmehr studiert hat, erst das eine angefangen, dann das andere und dazwischen eine Ausbildung begonnen, kann nicht sagen, dass sie alles abgebrochen hat und nicht weiß, wohin mit sich, lernt also zunächst einfache Präsenskonstruktionen und Redewendungen des Alltags, erfährt von sechs grammatischen Fällen und der Kategorie der Belebtheit, die man irgendwann erreichen wird, wenn man es ernst meint mit der Sprache, aber meint sie es tatsächlich ernst, war die Sprache nicht der geringste Grund, warum Therese aufgebrochen ist? Sie trudelt also auch hier vor sich hin und stromert nachmittagelang durch die fremde Stadt. Über die Prospekts, die sogenannten Prachtstraßen. Wie soll es weitergehen? Das hier kann wohl kaum die Lösung sein. An pastellenen Häusern und beinamputierten Soldaten am Straßenrand vorbei, durch die Betonsiedlungen an den Rändern und irgendwann, es ist ihr Geburtstag, auch über die Stadtgrenzen hinaus ans Wasser.