Und was, wenn ich mitkomme?

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In Itziar, einem winzigen, mittelalterlich anmutenden Ort, machen wir Pause in einer Bar. Wir bestellen bocadillos – dick mit Schinken, Käse und Tomaten oder Gurken belegte Baguettebrötchen – und cafe con leche, den wir hier in Spanien unheimlich lecker finden. Zu Hause trinke ich meinen Kaffee ausnahmslos tiefschwarz, ohne alles, schließlich will ich mir ja nicht den Geschmack verderben. Aber an den cafe con leche kann man sich gewöhnen, und allmählich ist er unvermeidlich geworden – keine Einkehr mehr ohne das köstliche und heiß begehrte Getränk. So also auch hier.

In der Bar wimmelt es von festlich gekleideten Spaniern, die sehr fröhlich und laut durcheinanderschwatzen. Eine Spanierin spricht ein bisschen deutsch, und wir kommen ins Gespräch. Der Kontakt mit den Einheimischen ist sehr nett. Sie geben uns das Gefühl, dass wir etwas Besonderes sind. Wir werden ausgequetscht wie reife Früchte, und im Gegenzug hören wir uns an, warum unser Gesprächspartner so gut deutsch spricht, was er alles von Deutschland kennt und weiß und wo in Deutschland er Verwandte wohnen hat. Alles irrsinnig interessant … und es macht auch irgendwie Spaß.

Wie die Flut der Schickgekleideten hereingeschwappt ist, so verebbt sie auch. Mit einem Schlag sitzen wir allein in der Bar. Da kehrt plötzlich unsere deutsch sprechende Spanierin zurück. Ob wir ein bisschen Zeit hätten, will sie wissen, und ob uns die Kirche interessieren würde. Ja, schon, aber die war vorhin, als wir sie besichtigen wollten, verriegelt und verrammelt, so wie die meisten Kirchen hier am Weg. Doch jetzt bietet sich uns eine Gelegenheit. Die Spanierin lädt uns ein, an einer privaten Messe teilzunehmen. Es wird eine Silberhochzeit gefeiert. Es gibt einen tollen Chor, der schon wer weiß wo öffentlich aufgetreten ist und wirklich gut singt. Also, ob wir wollen? Na, klar doch!

Wir schlingen die Reste unserer bocadillos hinunter, zahlen unsere Rechnung, schultern unsere Rucksäcke und stapfen, verschwitzt und lumpig wie wir sind, in die Kirche, wo die festliche Gesellschaft schon ihre Plätze eingenommen hat. Wir verteilen uns still in die Bänke und warten auf das, was kommt. Und das ist überwältigend. Als der Chor mit dem ersten Ave Maria beginnt, habe ich das Gefühl, plötzlich in den Himmel versetzt zu sein. Sie singen wie Engel, und vor lauter Ergriffenheit laufen mir die Tränen über das Gesicht. Niemand stört sich daran, und später erzählen Doris und Pit, dass es ihnen genauso ergangen ist. Am Ende der Messe sprechen sich alle gegenseitig den Segen Gottes zu. Auch wir werden mit einbezogen. Als mir völlig fremde Menschen die Hand reichen, kommt es mir vor, als würde Gott selbst mich berühren.

Ich lebe seit über 30 Jahren mit Gott. Das ist eine lange Zeit, in der eine Beziehung, auch eine Gottesbeziehung, sich abnutzen kann. Trotzdem bin ich immer noch überwältigt, wenn ich Gottes Gegenwart so zu spüren bekomme wie gerade an diesem Ort, der nur schwer auf einer Landkarte zu finden ist. Aber was kümmert Gott sich schon um Landkarten? Wenn er jemandem begegnen will, dann kann er das sicher tun, wo immer er will. Und mir kommt es so vor, als ob er mir gerade in diesem Dörfchen nahe sein wollte. Vielleicht haben mir aber auch die Schönheit der Musik und das Glück, das ich hier erlebe, ganz neu den Blick für Gott geöffnet? Ich habe oft gehört, dass leidende Menschen eher nach Gott fragen als glückliche und zufriedene. Aber mir scheint, dass Gott unabhängig von Glück oder Leid jederzeit nach seinen Menschen Ausschau hält. Jedenfalls könnte es ja sein, dass Gott mir zu Hause, oder wo ich mich sonst gerade aufhalte, genauso begegnen will wie hier in dieser Kirche? Nur, dass ich es nicht richtig mitbekomme, warum auch immer? Jedenfalls nehme ich mir fest vor, meine Augen und Ohren für ihn offen zu halten. So berührt werden wie eben möchte ich gerne öfter!

Doch auf diesem Weg liegen Freude und Frust nur wenige Schritte auseinander. Wir haben Itziar kaum hinter uns gelassen, da meldet sich mein Knie wieder. Über drei Kilometer geht es steil bergab nach Deba. Eben habe ich mich noch ganz in der Gegenwart Gottes aufgehoben gefühlt, aber jetzt könnte ich schon wieder fluchen wie ein alter Kutscher. Ich bin heilfroh, dass wir die letzte Treppe hinunter in den Ort nicht nehmen müssen. Hier gibt es nämlich einen Fahrstuhl, mitten auf der Straße, der die Höhe von einem etwa vierstöckigen Haus überwindet und uns hinunter in die Nähe der Foruen Plaza bringt. Hier genehmigen wir uns erst mal eine Cola, und Doris bestellt sich ihren ersten spanischen Rotwein.

Die Touristen-Information, wo wir unseren Schlüssel für die Herberge abholen können, öffnet erst um fünf. Bis dahin vertrödeln wir die Zeit am Strand in der Sonne.

In der Touri-Info herrscht reger Betrieb. An dem einzigen Schalter wartet bereits eine lange Schlange von Pilgern und wir befürchten, dass wir kein Bett in der Herberge mehr abbekommen. Die ist dann auch tatsächlich rappelvoll. Es gibt zwei dreistöckige Betten und ein zweistöckiges, insgesamt also acht Schlafmöglichkeiten, in einem Raum von maximal zwölf Quadratmetern. Hier werden wir also übernachten, zusammen mit unseren Kanadiern Rachel und Jean-Paul, mit Christian aus Aschaffenburg, mit dem sehr gesprächigen Hans, mit Ingo, der in Griechenland losgelaufen ist und bis zum Atlasgebirge will und für den der Jakobsweg bloß eine kleine Zwischenepisode ist, und mit Philipp aus Frankreich, der seine Isomatte auf dem Boden ausrollt. Wir sind ziemlich skeptisch, wie das gehen soll, zumal im Zimmer auch noch ein Gartentisch und zwei Plastikstühle stehen, es bloß einen winzigen Vorraum mit Wäscheleinen und Schleuder gibt und ein einziges Bad mit Klo und Dusche. Nach unserem gestrigen blauen Zimmerchen ist das hier ziemlich gewöhnungsbedürftig. Aber alles klappt hervorragend. Alle sind sehr diszipliniert, niemand drängelt vor der Badezimmertür und jeder hält seine Sachen zusammen. Ingo und Christian sitzen auf den Stufen vor dem Eingang und rauchen. Philipp wäscht Wäsche, Rachel und Jean-Paul sind irgendwohin verschwunden und Hans thront auf einem der weißen Plastikstühle und legt lautstark seine Pilgerphilosophie dar: Wer wandert, ist selbst schuld, schließlich gibt es ja noch Busse. Hier haben wir also unseren ersten richtigen Buspilger. Doris, Pit und ich können seine Meinung nicht teilen und gehen, anstatt zu diskutieren, lieber essen.

In der Stadt ist der Bär los. Die Bars sind rappelvoll und auf der Plaza toben Väter und Großväter mit ihren Kindern und Enkeln. Normales Leben in Spanien. Die Menschen kommen erst in der Abendkühle aus ihren Häusern. Es geht alles sehr laut und familiär zu. Und mittendrin sitzen wir, fühlen uns sauwohl und freuen uns schon auf morgen …

6. TAG DEBA – MARKINA

Trotz vier starker Schnarcher, aber dank Ohropax, haben wir prima geschlafen. Ich fühle mich ausgeruht und voller Tatendrang. Trotzdem entscheide ich mich dafür, mit dem Bus zu fahren, um mein Knie zu schonen. Ingo hat die gleiche Idee, wenn auch aus anderen Gründen.

Nach einem fröhlichen Frühstück in einer kleinen Bäckerei machen Doris und Pit sich bei strahlendem Sonnenschein auf den Weg über die Berge. Christian hat sich ihnen angeschlossen. Es macht ihm einfach keinen Spaß, die Schönheiten des Weges allein zu genießen. Außerdem fühlt er sich schlapp und unmotiviert. In den ersten Tagen hat er sich wohl etwas übernommen. Jetzt ist er froh, sich bei uns anhängen zu können.

Christian macht einen angenehmen und unaufdringlichen Eindruck. Gestern Abend, als alle schon in ihren Schlafsäcken steckten, Licht aus und Tür zu, da hat er still auf seinem Bett im ersten Stock gesessen, eine Stirnlampe in seine karamellfarbenen, verstrubbelten Jungenhaare geklemmt, und Tagebuch geschrieben. Von meinem Bett aus habe ich ihm ein bisschen dabei zugesehen und mich gefragt, was einen so jungen Bengel auf den Jakobsweg treibt. Na ja, so jung ist er auch nicht mehr, immerhin 27 Jahre alt. Aber er könnte unser Sohn sein. Also, was macht er hier, anstatt zu studieren, zu arbeiten, eine Familie zu gründen oder sonstwie an seinem Leben zu bauen, so, wie andere Leute es in seinem Alter tun? Solche Geschichten finde ich total interessant. Aber Christian ist keiner, der unaufgefordert vor allen und jedem seine Motive darlegt. So neugierig ich auch bin, diese zurückhaltende Art finde ich sehr sympathisch. Pit und Doris finden das vermutlich auch – jedenfalls haben sie nichts dagegen, dass Christian heute mit ihnen wandert.

Während die drei zusammen aus Deba herausmarschieren, machen Ingo und ich uns auf den Weg zum Busbahnhof. Wir haben Zeit und vertreiben sie uns, indem wir uns unsere Lebensgeschichten erzählen. Spannend! Ingo hat sich irgendwo in Griechenland zwischen Ziegen und Eseln niedergelassen und lebt dort recht alternativ. Er ist wegen eines schweren Unfalls, den er vor Jahren hatte und der ihn beinahe das Leben gekostet hätte, Frührentner und hat deswegen Zeit, sich in aller Ruhe die Welt anzusehen. Er sieht auch genau so aus, wie ich mir einen Weltenbummler vorstelle: mager, mit spitzer Nase, langen Haaren und abgerissener Kleidung, ein bisschen wie mein Lieblingsschriftsteller T. C. Boyle. So einem möchte man nicht unbedingt im Dunkeln begegnen. Aber das sind natürlich Vorurteile. Erst beim näheren Hinsehen merkt man, wie einer wirklich ist. Ingo jedenfalls ist nett und aufgeschlossen und interessant. Es macht Spaß, sich mit ihm zu unterhalten, und wir entdecken viele Gemeinsamkeiten. Er schwärmt genauso von seinem Sohn wie ich von meinen Kindern.

Pünktlich zur Busabfahrtszeit stößt Hans zu uns. Er bezahlt beim Fahrer drei Tickets und lässt sich das Geld nicht von uns zurückgeben. Mit dem Bus zu fahren ist hier spottbillig. Trotzdem ist es nicht selbstverständlich, dass Hans uns einlädt.

Meinem Magen bekommt die Schaukelei auf den engen, gewundenen Straßen nicht besonders gut, und ich bin froh, eine Plastiktüte griffbereit zu haben. Auch Ingo geht es schlecht. Er hat wegen einer Allergie Tabletten geschluckt, die auf ihn wie eine Droge wirken. Beruhigend, dass er erst mal sitzt. Nur Hans ist mopsfidel und erzählt Geschichten. In Markina angekommen, trennen wir uns von ihm und machen uns zu zweit auf den Weg zu unserer Unterkunft.

 

Gestern haben wir telefonisch ein Zimmer in einem kleinen Hostal gebucht, und das gilt es jetzt zu finden. Es soll irgendwo neben oder bei oder in der Nähe einer Feuerwehr liegen. Ingo und ich müssen viel herumfragen. Ingo versteht ein bisschen Spanisch, aber er ist mir keine große Hilfe. Ich muss aufpassen, dass er nicht mitten auf der Straße umfällt. Der Ärmste scheint im Moment sowieso vom Pech verfolgt zu sein. Er ist beklaut worden und hat jetzt nur noch 12 Euro in der Tasche. Wir überreden unsere Wirtin, ihm ein Zimmer für genau diesen Betrag zu überlassen. Er ist sehr erleichtert und lässt sich erst mal von mir ins Bett schicken.

Ich richte mich ein Stockwerk höher in unserem Dreibettzimmer ein. Der Blick aus dem Fenster ist wieder mal berauschend: vor mir erstrecken sich Wiesen und Berge und der blaue Himmel. Aber zum Herumsitzen bin ich nicht hergekommen. Ich mache mich auf den Weg, den Ort zu erkunden, und besichtige die Kirche San Miguel de Aretxinaga, die äußerlich unscheinbar, innen aber recht kurios ist. Das Gebäude ist um einen megalithischen Altar, der aus drei gigantischen Felsblöcken besteht, herumgebaut worden. Ich bin fasziniert und verarbeite meine Eindrücke in Ruhe auf einer Steinbank vor der Kirche. Neben mir plätschert ein kleiner Fluss, Spaziergänger kommen schwatzend vorüber,Vögel zwitschern. Es geht mir gut, und ich genieße das Alleinsein. Als ich genug davon habe, schlendere ich zur Marienkirche, die nur wenige Straßen weit entfernt liegt. Hier habe ich mich mit Doris und Pit verabredet, denn genau hier führt ihr Weg in den Ort hinein. Ich gehe ihnen ein Stück entgegen, kehre um, setze mich vor das überdachte Portal der Kirche und lutsche Karamellbonbons. Leiser Nieselregen geht nieder. Die ersten Wanderer kommen den Weg herunter. Pit und Doris sind nicht unter ihnen. Allmählich wird mir die Zeit lang. Mir tut nichts, aber auch gar nichts weh, und ich frage mich, was ich hier mache. Wollte ich nicht unterwegs sein? Stattdessen sitze ich hier und warte. Na, wird schon nicht mehr lange dauern.

Fast zwei Dutzend Wanderer haben sich auf riesigen Steinblöcken vor der Kirche niedergelassen und halten unter Schirmen ihr Picknick ab. Eine halbe Stunde später kommt ein Bus und lädt sie ein. Aha, auch Buspilger, aber doch anders als Hans. Diese hier sind wenigstens gelaufen und lassen sich jetzt nur zu ihrem sorgfältig vorgebuchten Hotel bringen, wo es warme Duschen und ein deftiges Abendbrotbuffet gibt. Na, sollen sie doch. Ich jedenfalls hätte große Lust, meinen Rucksack aus dem Hostal zu holen und mich auf den Weg zum Kloster Cenarruza zu machen. Es liegt nur acht Kilometer entfernt und nimmt Pilger für eine Nacht auf. Noch ist es früh, und ich bin völlig unausgelastet, aber natürlich kann ich jetzt nicht einfach abhauen. Schließlich bin ich mit Doris und Pit verabredet. Und wenn man zusammen unterwegs ist, kann man nicht frei entscheiden und tun und lassen, was man will. Dabei bin ich wirklich froh, dass Pit mitgekommen ist, und Doris auch. Wir haben so viel Spaß miteinander, und das gemeinsame Erleben festigt unsere Beziehung. Also, manchmal ist Freisein erstrebenswert und toll, aber manchmal eben auch nicht. Jetzt gerade wäre es toll. Aber natürlich halte ich aus.

Ich denke schon, die Zeit geht nie mehr vorüber, da hupt plötzlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Auto, und jemand ruft meinen Namen. Es ist Pit, der mir aus dem heruntergelassenen Fenster zuwinkt. Mir bleibt fast das Herz stehen vor Schreck. Was ist passiert? Wo ist Doris, und warum sitzt Pit in einem Auto? In Sekundenbruchteilen malt mir meine Fantasie die schrecklichsten Bilder vor Augen. Aber es ist alles in Ordnung. Aufgekratzt erzählt Pit von ihrer Traumwanderung. Christian, Doris und er konnten von der Höhe aus die Feuerwehr ausmachen, neben der unser Hostal liegt, und wanderten zielgerichtet und ohne Umweg über die Marienkirche darauf zu. Als sie mich im Zimmer nicht antrafen, wollte Pit zum vereinbarten Treffpunkt laufen, um mich dort aufzugabeln. Aber unsere freundliche Wirtin bot ihm an, ihn mit dem Auto zu fahren, damit er nach seiner Wanderung nicht noch zusätzliche Kilometer schrubben müsse. Total nett! Gleichzeitig frage ich mich aber auch, weshalb Pit und Doris und Christian nicht so gelaufen sind, wie wir es vereinbart hatten. Warum konnten sie unseren Plan ändern, ich aber nicht, obwohl sie mir damit einen gehörigen Schrecken eingejagt haben, den ich nur mühsam überwinde? Ärger steigt in mir hoch, mehr auf mich als auf sie, weil ich wieder einmal meine Entscheidung von anderen abhängig gemacht habe. War das nun richtig oder nicht? Ich verschweige meine zwiespältigen Gedanken, während Pit von den berauschen den Aussichten schwärmt und überhaupt von diesem ganzen schönen Tag. Ich habe den Eindruck, zu kurz gekommen zu sein. Aber ich beschwere mich nicht und schweige. Gemeinsam fahren wir zurück zur Herberge.

Auch Rachel und Jean-Paul treffen ein, und nachdem die müden Wanderer geduscht haben und Socken und T-Shirts frisch gewaschen auf dem Wäscheständer hängen, machen wir uns alle gemeinsam auf den Weg zur nächsten Bar. In Ingos Kasse herrscht zwar gähnende Leere, aber wir laden ihn ein, und so ist auch er mit dabei. Zu siebt speisen wir bei laufenden Fernsehern und süffigem spanischen Wein.

Zurück in unserem Zimmer schieben Pit und ich unsere Betten zusammen. Arm in Arm schlafen wir ein. Auch wenn ich heute abtrünnig werden wollte, auch wenn ich mich um einen schönen Tag betrogen fühle und voller Neid bin auf die Freiheit, die Pit, Doris und Christian sich herausgenommen haben: Jetzt bin ich doch sehr froh, dass wir zusammen sind.

7. TAG MARKINA – MENDATA

In der Nacht hat es geregnet, und es regnet immer noch, als wir aufbrechen. Wir verabschieden uns von Ingo, der nach Bilbao trampen will, um dort seinen Sohn zu treffen. Ohne dass er es sieht, legen wir ihm einen Fünf-Euro-Schein auf seinen Rucksack, damit er den Bus nehmen und vielleicht noch irgendwo einen Kaffee trinken kann. Rachel und Jean-Paul, die Frühaufsteher, sind längst fort. Christian schließt sich uns an.

Es regnet ununterbrochen und gleichmäßig stark, weshalb wir von Bolibar bis Munitibar schweigend und im Gänsemarsch auf der Landstraße laufen. Heute kommen wir aus unseren Regencapes nicht heraus. Wir sehen aus wie Gartenzwerge mit unseren Zipfelmützen und weit ausladenden Umhängen, die der Wind bauscht. Richtig eklig ist es, wenn sie wie ein Soufflé zusammenfallen und eisig und regentriefend gegen unsere Beine klatschen. Doris’ Hose ist nass bis zu den Oberschenkeln. Pit und ich haben, um genau das zu vermeiden, unsere Wanderhosen auf Shortlänge kurz gezippt. Was man nicht anhat, das kann auch nicht nass werden. Wir mit unseren knallroten Umhängen nehmen Doris und Christian in ihren tarngrünen Capes in unsere Mitte. Pit geht voran, ich bilde das Schlusslicht. So können uns vorüberrauschende Autos leichter durch die dichte, graue Wetterwand erkennen.

Munitibar ist ein Ort mit höchstens drei verwinkelten Straßen. In einer finden wir eine Bar mit niedriger, holzverkleideter Decke und einem winzigen Gastraum, in dem die Tische sich so dicht aneinanderdrängen, dass man kaum weiß, wie man Platz für seinen Stuhl finden soll. Über der Theke hängen riesige Schinken, und aus der offenen Küche riecht es herrlich nach gebratenem Fleisch, nach Gemüse, frischem Kaffee und Süßem. Alles ist sehr urig und ganz und gar nicht touristisch. In so ein Nest verirrt sich bestimmt niemals ein Urlauber, und die Pilger wandern vermutlich einfach daran vorbei. Aber wir sind erleichtert, endlich ein trockenes Plätzchen gefunden zu haben, und nicht nur das, nein, hier treffen wir auch wieder auf unsere »Pilgerfamilie«. Rachel, Jean-Paul und Philipp, der in Deba seine Isomatte in unserer engen Klause ausgerollt hat, sitzen fröhlich und trocken bei cafe con leche. Es gibt ein lautes Hallo, und die drei rutschen sofort zusammen. Wir schälen uns aus unseren Regencapes und quetschen uns neben unsere Freunde. Doris stützt ihre Unterarme entspannt auf die blütenweiße Papiertischdecke. Die ist sofort aufgeweicht bis auf die Tischplatte – so nass sind ihre Ärmel! Macht aber nichts. Die Ärmel werden hoch gekrempelt und das matschige Papier wird zur Seite geschoben.

Ob es mit einem Mittagessen klappt, ist nicht gewiss. Der Wirt erklärt uns, dass dies eine Gaststätte für die Arbeiter aus der Umgebung ist. Sie kommen jeden Mittag hierher, und deshalb weiß seine Frau genau, wie viel sie kochen muss. Mit unangemeldeten Gästen rechnet hier niemand. Aber cafe con leche gibt es natürlich. Und dann treffen nach und nach die spanischen Kunden ein. Aus der Küche werden Glasschüsseln mit dampfender Bohnensuppe hereingebracht, Platten mit Bergen von Salat, Kartoffeln, Pommes und Fisch, außerdem kühler Rotwein und Zitronensprudel, was zusammengemischt wunderbar spritzig und erfrischend schmeckt. Und siehe da, es ist wohl reichlich vorhanden, denn auch auf unserem Tisch türmen sich die Herrlichkeiten. Zum Nachtisch gibt es Flan im Blechnapf, einen süßen, braunen Karamellpudding, für den ich diesen Regenweg glatt noch einmal laufen würde, und zum Abschluss cafe solo, so schwarz und stark wie italienischer Espresso. Wir langen alle kräftig zu, albern herum, lachen und schwatzen und sind uns einig: Das Leben ist ein Fest!

Leider hat es auch nach dem Essen nicht aufgehört zu regnen. Deshalb entschließen sich die Kanadier, die heutige Etappe mit dem Bus zu Ende zu bringen, während wir anderen unerschrocken den Weg unter unsere Wanderschuhe nehmen. Es geht durch einen Wald mit wahren Matschwegen. Manche von ihnen sind zu reißenden Bächen angeschwollen und so breit, dass sie sich nicht mehr ohne Weiteres überspringen lassen. Ständig müssen wir vom Weg abweichen und uns durchs Unterholz schlagen. Mit Regencape ist das gar nicht einfach. Wir verfangen uns damit in Gestrüpp und Dornen. Eine Ziege, die einsam und verlassen an einen Baum angekettet im Regen ausharrt, schaut uns ziemlich betroffen und blöde hinterher. Philipp ist innerhalb von Minuten durchgeweicht wie eine Katze in der Regentonne. Er trägt Jeans, die sich sofort voll Wasser saugen und schwer und dunkel vor Nässe an seinen Beinen kleben. Auch sein Schuhwerk ist nicht gerade optimal; er hat nur ein paar leichte Turnschuhe an, die bei jedem Schritt quatschen, und ständig muss er stehen bleiben, um seine aufgeweichten Socken hochzuziehen. Wenn das mal keine Blasen gibt …

Aber auch in unsere Schuhe dringt allmählich die Feuchtigkeit. Doris’ Wanderstiefel quaken wie ein ganzes Froschorchester, sehr witzig! Pit ist der Einzige mit trockenen Füßen, aber auch der Einzige, der im Schlamm ausrutscht und sich auf den Hintern setzt. Nichts passiert, nicht mal seine Hose ist schmutzig geworden, denn geistesgegenwärtig hat er genau im richtigen Moment sein Regencape unter sich gezogen.

In Olabe-Zarrabenta verabschieden wir uns von Philipp, der heute noch bis Gernika marschieren will. Christian, Doris, Pit und ich dagegen biegen links ab Richtung Mendata, das hoch oben auf einem Berg liegt. Eineinhalb Kilometer geht es steil eine Straße durch einen tropfnassen Wald hinauf. Oben angekommen, hat der Regen sich endlich verzogen und der Himmel färbt sich allmählich blau. Unsere Herberge finden wir in einem Gebäude, in dem gleichzeitig das Fremdenverkehrsamt, ein Laden und eine Bar untergebracht sind. Zu unserem Schreck ist alles geöffnet außer der Herberge. Aber Pit und Christian treiben irgendwo die hospitaliera auf, und freundlicherweise öffnet sie für uns ausnahmsweise einmal am Montag die Herbergstüren. Doris und ich haben nicht einen Moment daran gezweifelt, dass die Männer das schon irgendwie regeln werden. Gemütlich lehnen wir uns an das Geländer vor dem Haus und halten unsere Gesichter in die Sonne.

Die Herberge ist riesig: 36 Betten in vier geräumigen Zimmern. Die ganze Pracht für uns allein, was für ein Luxus! Wir breiten uns mächtig aus und verteilen unsere nassen Sachen auf sämtlichen Bettstangen. Und dann the same procedure as every day: duschen, Wäsche waschen, Füße pflegen. Es gibt zwei saubere Badezimmer mit einer Menge Duschen und Toiletten und eine Heizung, die wir sofort so hoch wie möglich aufdrehen, um unsere quatschnassen Schuhe darunterzuschieben oder kopfüber daraufzustellen. Bis morgen müssen sie trocken sein. Doris’ Föhn wird heute als Sohlentrockner eingesetzt.

 

Nachdem wir unsere »Haushaltspflichten« abgearbeitet haben, machen wir es uns in unseren Schlafsäcken gemütlich. Jeder hängt seinen Gedanken nach, schreibt Tagebuch oder genießt einfach nur die Schlafsackwärme. Als wir anfangen, unsere restlichen Erdnussbestände aufzuknabbern, wird es höchste Zeit, sich endlich in der Bar nebenan um ein ordentliches Abendessen zu kümmern. Sich jetzt aus dem Schlafsack zu schälen ist eine echte Überwindung.

Den Hauptgang unseres heutigen Abendessens bilden zwei Flaschen Wein und für Pit und mich jeweils ein würzig duftender Zigarillo. Doris fallen fast die Augen aus dem Kopf. Wir kennen uns ein Vierteljahrhundert, aber rauchen hat sie uns noch nie gesehen. Was so ein Weg doch an den Tag bringt …

8. TAG MENDATA – BERMEO – BILBAO

Um acht Uhr weckt uns strahlender Sonnenschein. Ohne Frühstück machen wir uns auf den Weg Richtung Gernika, das etwa fünf Kilometer entfernt liegt. Es geht zuerst durch einen lichten, sonnendurchfluteten Wald. Die Wege sind noch matschig vom gestrigen Regen, aber mittlerweile einigermaßen begehbar. Von einer Höhe abwärts führt ein steiler Pfad über eine pitschnasse Wiese. Da unsere Schuhe über Nacht einigermaßen trocken geworden sind und wir daran auch nichts ändern wollen, entscheiden wir uns dafür, auf der Landstraße weiterzugehen. Schweigend und in großem Abstand laufen wir an der Leitplanke entlang. Doris sieht von hinten wie ein Lumpensammler aus. Es sind längst nicht alle Sachen trocken geworden, weshalb wir T-Shirts, Handtücher und Socken mit Sicherheitsnadeln an unsere Rucksäcke gehängt haben. Bei Doris baumelt noch eine Hose bis in Kniekehlenhöhe. Die Sonne wird zu Ende bringen, was Föhn und Heizung nicht geschafft haben.

Vor uns öffnet sich zwischen den Bäumen der Blick auf Gernika. Schritt für Schritt kommt es uns entgegen und verändert sein Bild. Wer mit dem Auto fährt, kann so etwas nicht erleben. Ruckzuck ist er von A nach B gelangt. Aber was dazwischen liegt, ist nur für wenige Momente zu sehen. Die Seele hat keine Zeit die Eindrücke zu verarbeiten, geschweige denn, dass sie sie genießen kann. Wir aber saugen jede neue Aussicht auf wie Durstige. Apropos Durst: Es wird allmählich Zeit für cafe con leche.

In Gernika steuere ich zuerst die nächste Apotheke an und kaufe Gummibandagen für meine Knie und Calcium- und Magnesiumtabletten für unsere Knochen und Muskeln. Danach genehmigen wir uns ein ausführliches Frühstück.

Gernika ist am 26. April 1937, also vor fast 71 Jahren, von der deutschen Legion Condor beinahe vollständig vernichtet worden, vordergründig, um unter dem Oberbefehl von General Franco in den Spanischen Bürgerkrieg einzugreifen. In unserem Wanderführer steht aber auch, dass die Deutschen ihr neues Kriegsgerät und ihre moderne Taktik des Luftkrieges ausprobieren wollten, als Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg. Kein Grund, besonders stolz auf unsere Nation zu sein. Pablo Picasso hat dieses entsetzliche Grauen in seinem berühmten Bild »Guernica« festgehalten. Anfang 2003 wurde in Gernika ein Friedensmuseum eröffnet, das die Geschichte der Bombardierung, die Menschenrechte und die baskischen Konflikte thematisiert. Wir hätten es gerne besichtigt. Aber für heute haben wir andere Pläne.

Vor der Reise haben Pit und ich in einem Merian-Heft über Nordspanien eine Abbildung der Einsiedelei San Juan de Gaztelugache bei Bermeo in der Nähe von Bilbao entdeckt: Eine kleine Kirche auf einem Felsen mitten im Meer, zu der mindestens 300 Stufen hinaufführen und die nur über eine gemauerte Brücke zu erreichen ist, die sich in riesigen Rundbögen über das Meer spannt und uns in ihrer Bauart an die Chinesische Mauer erinnert. Das Foto hat mich so fasziniert, dass ich mir vorgenommen habe: Sollte auch nur die geringste Chance bestehen, dann besuche ich diesen Ort. Und diese Chance ist jetzt da.

Am Bahnhof von Gernika trennen wir uns von Christian. Er steigt in den Zug nach Bilbao, um sich die Stadt anzuschauen und für uns vier ein Zimmer in der Jugendherberge zu reservieren. Pit, Doris und ich nehmen den Zug nach Bermeo. Eine liebliche Landschaft zieht an unserem Fenster vorüber, und innerhalb einer knappen Stunde sind wir am Ziel. Vor zwei Tagen, kurz hinter Deba, haben wir das Meer verlassen. Jetzt sehen wir es endlich wieder. Bermeo hat eine hübsche kleine Altstadt, die sich aber nur Doris anschaut. Pit und ich wollen zur Einsiedelei. Nur liegt die noch ca. acht Kilometer von Bermeo entfernt. Na toll! Busse fahren keine, weil es noch zu früh im Jahr ist. Die Touristen kommen erst irgendwann Mitte Mai. Acht Kilometer Fußweg würden uns nicht schrecken. Aber der halbe Tag ist bereits vorbei, und wir wollen ja auch noch Zeit auf der Einsiedelei verbringen. Und den Weg zurück müssten wir auch noch laufen. Nein, so wird das nichts. Aber wo wir nun schon mal so weit gekommen sind, wollen wir auch nicht aufgeben. Wir entschließen uns, ein Taxi zu nehmen, von denen einige am Rand der Plaza parken. Forsch geht Pit auf einen Fahrer zu und versucht mit Händen und Füßen, ihm unser Anliegen zu vermitteln. Der gute Mann stellt sich erst stur, und es dauert eine ganze Weile, bis er endlich mit ein paar Brocken Englisch herausrückt, die die Unterhaltung wesentlich voranbringen. Die Fahrt hin und zurück soll für uns beide 24 Euro kosten. Das ist im Vergleich zu den Bahnpreisen horrend hoch. Aber wir sind uns sicher: Diese 24 Euro sind gut angelegtes Geld.

Unser Taxifahrer entpuppt sich als sehr freundlicher Mensch. Redselig erklärt er uns die ganze Umgebung, ohne dass wir ein einziges Wort verstehen, was ihn aber nicht im Mindesten stört. Auf einem Parkplatz mitten in der Landschaft setzt er uns aus, zeigt erst auf seine Uhr und streckt dann vier Finger in die Höhe. Abholzeit vier Uhr – glauben wir wenigstens. Unser Fahrer möchte unsere Rucksäcke in seinem Kofferraum verstauen. Aber so weit reicht unser Vertrauen dann doch nicht. In Erinnerung an Ingo und seine Verlusterfahrungen behalten wir unser Gepäck lieber bei uns. »Agua« (Wasser), sage ich und tippe erklärend auf meinen Rucksack. Kopfschüttelnd nimmt der Taxifahrer unsere Entscheidung hin, klettert in seinen Wagen und lässt uns allein zurück. Was, wenn er nicht wiederkommt? Pit winkt ab. »Er wird schon. Und bis dahin machen wir es uns richtig schön.« Wir sind jetzt eine Woche unterwegs. Aber dies sind die ersten Stunden, die wir ganz und gar für uns allein haben.

Hand in Hand steigen wir die steilen Serpentinen zum Meer hinunter. Schon von der Straße aus sehen wir die kleine, im Sonnenlicht strahlend weiße Kapelle hoch oben auf dem Berg im Meer. Es ist ein Traum und viel schöner als auf allen Fotos: Schroffe Felsen, türkisblaues Meer, und wo der Wind und die Strömung die Wellen gegen die Klippen werfen, branden sie weiß und schaumig empor. Meterdicke Mauern, die sich unerschütterlich dem Ansturm des Meeres entgegenstellen und sich den Berg hinaufwinden, begleitet von gelb und weiß gesprenkelten Blumenteppichen zwischen bizarren Steinen. Die Luft flirrt vor Sonnenhitze, über dem Wasser steht rauchiger Dunst, ein kühler Meereswind streichelt unsere Haut. Die Stufen herunter kommen uns ein paar Leute entgegen. Oben bei der Kirche ist niemand mehr. Wir sind ganz allein. Nur Salamander quirlen zu Hunderten glitzergrün in den Fugen und Ritzen der Mauern oder liegen starr und sonnenverliebt auf glatten Steinen.