Tatort Bodensee

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8

Thomas drosselte den Außenborder und spähte angestrengt auf eine fiktive Landmarke hinter sich. »Da ungefähr müsste es sein. Ich denke, ich habe die Stelle ziemlich genau getroffen. Also dann, gib mir bitte mal den Anker rüber.« Im selben Moment stellte er den Motor ab, griff nach dem winzigen Anker, den Horst vorsorglich bereits aufgeklappt hatte, und warf ihn über Bord. Schon beeindruckend, in welcher Windeseile sich das Nylonseil, an dem der Anker befestigt war, in die Tiefe abrollte. Meter um Meter verschwanden unter dem Boot in der vom Auge undurchdringbaren Tiefe des Sees. Horst begann zu frösteln. Warum nur hatte er sich auf dieses Abenteuer eingelassen? Hätte er doch damals dankend abgelehnt, als ihm Thomas beim Lehrgang in Wertheim den Vorschlag zum gemeinsamen Bodensee-Wracktauchen im Juli gemacht hatte!

Wieder zog sich ein leichter bohrender Schmerz durch seinen Kopf und schien ihn wie mit einer Schraubzwinge zusammenzupressen. Immer noch die Nachwirkungen der vergangenen, allzu kurzen Nacht mit ihren allzu vielen Gläsern Weißherbst! Aber ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Augen zu und durch! Tatsächlich kniff er einen Moment lang die Augen zu, was Thomas, dem die gequälte Miene seines Gegenübers nicht verborgen geblieben war, zu der sorgenvollen Frage veranlasste: »Alles in Ordnung mit dir, Hotte? Du siehst irgendwie nicht gut aus!«

»Danke für die Blumen«, knurrte der sich ertappt fühlende Horst zurück. »Too much wine and too much song – aber ansonsten bin ich fit wie ein Turnschuh!«

»Na, hoffentlich! Du weißt, 40 Meter bei der Temperatur sind kein Pappenstiel – und außerdem ist es stockdunkel da unten. Da solltest du schon deine fünf Sinne beisammen haben! Wenn nicht, dann drehen wir lieber um und kommen in zwei oder drei Tagen noch mal. Bevor jetzt aus falsch verstandenem Heldenmut irgendein Blödsinn passiert … Also ich habe nämlich keine Lust, dich nachher in die Druckkammer nach Überlingen verfrachten zu müssen!«

»Blödsinn«, brummelte Horst und wies mit einer raschen Kinnbewegung auf den linken Unterarm von Thomas. »Wenn einer wie du tauchen kann, obwohl er die Krätze hat, dann wird’s bei mir mindestens genauso gut gehen!«

Augenblicklich zog Thomas seine Rechte vom Unterarm, an dem er sich, durch den Tauchanzug hindurch, heftig gekratzt hatte. »Ist schon nicht so tragisch! Ich weiß auch nicht, was da los ist, wahrscheinlich hab ich tatsächlich was Falsches gegessen: irgendwelche ungewaschenen gespritzten Erdbeeren oder so!«

»Und das als WKDler«, grinste Horst. »Das passt ja wie die Faust aufs Auge!«

»Mach dich nur lustig über mich. Also: Hast du deine Flasche schon aufgedreht? Okay, wie viel Luft ist drin?«

Horst warf einen prüfenden Blick auf seinen Druckanzeiger, dann nickte er zufrieden. »220 bar, kann man nicht meckern. Das müsste eigentlich reichen für einmal runter und einmal rauf. Also – alles klar. Und bei dir?«

Thomas runzelte die Stirn, drehte noch einmal am Ventil seiner Pressluftflasche und drückte anschließend auf die Luftdusche seines Mundstücks. Wieder starrte er auf seinen Druckanzeiger. »Komisch, irgendwie haben es die Jungs von der Tauchbasis mit mir diesesmal nicht so gut gemeint. 170 bar nur! Da müssen wir uns sputen! Ich sag’s ja: so eine Doppelflasche, die wär hier schon viel eher das Richtige. Aber gut, jetzt ist es halt, wie’s ist, und das heißt wirklich: Rein ins Wasser und ruckzuck runter an der Ankerleine. Aber mehr als zehn Minuten Grundzeit sollten wir nicht riskieren, was meinst du?«

Horst warf zur Sicherheit nochmals einen Blick auf die Deko-Tabelle, die er, Tauchcomputer hin oder her, grundsätzlich bei jedem Tauchgang mit sich führte. Dann nickte er zustimmend. »Seh ich genauso! Rein-runter-rauf-raus! Aber auf sechs Meter und auf drei Meter machen wir jeweils fünf Minuten Sicherheitsstopp – und wenn’s uns auch noch so friert. Einverstanden?«

Auch Thomas nickte. »Ist in Ordnung! Also dann: Haube auf, Handschuhe an, Flasche drauf und runter! Ich bin ja wirklich gespannt, was du sagst, wenn wir wieder oben sind! Jede Wette, dass du das mindestens genauso klasse finden wirst wie das Tauchen in irgendeinem Korallenmeer. Diesen Kick, den kriegst du nämlich nur hier, und nicht in irgendeiner lauwarmen Badewanne!«

Das mit dem Kick sollte sich wenig später als absolut zutreffend erweisen, das mit der Wette war eine ganz andere Sache …

9

Schon kurz nach dem Hineinspringen fühlte Horst die eisige Kälte, die sich um ihn herum ausbreitete und die ihn regelrecht zu erdrücken schien. Dazu kam bereits nach fünf oder sechs Metern absolute Dunkelheit, das grünlich-braune Dämmerlicht kurz unter der Wasseroberfläche war schnell einem merkwürdig gräulichen Blau gewichen, bevor er von völliger Dunkelheit umgeben war. In Anbetracht der Tatsache, dass sie mit ihrem begrenzten Luftvorrat beschlossen hatten, zügig abzutauchen, hatte sich Horst zwei Kilogramm Blei mehr als üblich in die Seitentaschen seines Jackets gesteckt.

Verdammt! Wo war denn eigentlich die Ankerleine, an der sie abgetaucht waren, und vor allem: Wo war Thomas? Horst schaltete die Lampe an, doch das Licht des Scheinwerfers reichte schätzungsweise gerade einmal drei Meter weit. Die zahllosen Schwebteilchen schienen das Licht geradezu aufzufressen, und so fühlte er sich wie gefangen in einem undurchdringbaren schwarzen Käfig, in dessen enger Mitte ein trübes grüngelbes Irrlicht tanzte!

12, 13, 14, 15 Meter: der Tiefenmesser auf seinem Tauchcomputer am Handgelenk bestätigte Horsts Eindruck.

Er sank schnell, so schnell, dass er ständig damit beschäftigt war, gegen den sich permanent aufbauenden Druck in den Ohren anzupressen. Die unangenehme klamme Kälte machte den Ohren zusätzlich zu schaffen, aber jetzt bloß nicht verkrampfen und bloß nicht in Panik geraten!

Leichter gesagt als getan! Und immer noch: Wo um alles in der Welt war Thomas? Er knipste die Lampe aus und spähte angestrengt in die ihn umgebende angsteinflößende Dunkelheit. Keine Spur von seinem Kollegen! Weit und breit kein Lebenszeichen, nichts … Vielleicht wäre es besser, Luft ins Jacket zu pumpen und einfach noch mal hoch an die Oberfläche zu steigen. Und dann von oben noch einmal kontrolliert mit dem Abstieg zu beginnen, dann aber wirklich direkt und unmittelbar an der Ankerleine. Quatsch, verwarf er augenblicklich diesen Gedanken. Bis er jetzt oben wäre und die Luft herausgeblasen hätte, um dann wieder nach unten zu sinken, also das wären mindestens drei Minuten, die er dann auf Thomas verloren hätte. Und das bei dessen sowieso schon knappem Luftvorrat und bei ihrer maximalen Grundzeit von zehn Minuten. Womöglich mussten sie das Wrack am Grund erst einmal suchen, da bliebe ja dann nicht einmal mehr … Da, war da nicht grade eben eine Art Blitz ganz schwach durchs Wasser geschossen?

Augenblicklich verwarf er seine Gedankengänge und konzentrierte sich auf die Stelle, an der er gemeint hatte, den Lichtblitze gesehen zu haben. Aber da war nichts mehr außer tiefer schwarzer Dunkelheit! Halt! Doch! Wieder ein Blitz und jetzt, eine Sekunde später, zuckte der nächste durch das Wasser! Das musste Thomas sein, der jetzt seinen Blinker für Nachttauchgänge eingeschaltet hatte. Dessen Blitzlicht war so stark, dass es sogar die undurchdringlich scheinende Dunkelheit zu durchschneiden vermochte – wenngleich auch immer nur für Se­kun­den­bruch­teile, aber andererseits lange genug, um ihm den Weg zu seinem Tauchpartner zu weisen.

Im selben Moment verspürte Horst einen leichten Widerstand an seinen Flossen und gleich danach sank er rücklings auf den Boden. Anscheinend war der »Sinkflug« zu Ende und er war nun auf dem Grund des Sees angekommen. Hastig tastete Horst nach seiner Lampe und schaltete sie ein. Igitt – was war das denn?! Offensichtlich lag er hier in fast 40 Metern Tiefe mitten im zentimeterdicken Schlick, den er mit jeder Fuß- oder Handbewegung zusätzlich aufwirbelte. Eine Wolke aus Sediment und Schwebteilchen, die das bisschen Sicht, das der See überhaupt bloß zuließ, vollends zunichtemachte! Na bravo: ein wunderschöner Tauchgang! Da lag er also nun auf 40 Meter Tiefe im Schmodder, umgeben von Wolken eiskalten-schlammigen Wassers!

In diesem Moment erreichte ihn der Strahl einer Lampe: Unmittelbar vor seiner Maske tauchte der Kopf von Thomas auf. Er sah ihm forschend in die Augen, klar, Horst gab wahrscheinlich nach seiner Landung im Schlammbad einen derart jammervollen Anblick ab, dass die Vermutung nahelag, irgendetwas sei mit ihm nicht in Ordnung. Wie ein Maikäfer rücklings auf dem Misthaufen, schoss es ihm durch den Kopf und trotz der Kälte und der unangenehmen Dunkelheit musste er bei dieser Vorstellung lächeln.

Thomas presste die Spitzen von Daumen und Zeigefinger aufeinander und symbolisierte damit ein O, das international gebräuchliche Unterwasserzeichen für die Frage »Ist alles okay – ist alles in Ordnung?« Horst nickte und tat es seinem Tauchpartner nach. Das war die Antwort: »Alles okay.« Und den Umständen entsprechend war es ja auch so, obwohl er sich an schönere Tauchgänge erinnern konnte.

Horst griff mit der Rechten an den Inflatorschlauch seines Jackets und ließ mit zwei kräftigen Stößen Pressluft in die Weste strömen. Bei dem gewaltigen Druck in dieser Tiefe konnte das im Sinne einer besseren Tarierung auf gar keinen Fall schaden. Dann stieß er sich mit derselben Hand leicht vom Untergrund ab: ekelhaft, wie er dabei mit dem Handschuh in den morastigen Schlick einsank. Aber immerhin, er »stand« dank dieses Manövers nun wieder senkrecht im Wasser. Vorsichtig schwenkte er die Lampe ringsum. Tatsächlich, da war ja die Ankerleine, an der sie abgetaucht waren. Sie hatten es also geschafft, exakt unter ihrem Boot hinunterzudriften. Immerhin!

Thomas hob den Zeigefinger und deutete damit auf seinen Blinker, der nach wie vor eingeschaltet war und seine weithin sichtbaren Blitzsignale aussandte. Dann deutete er auf die Ankerleine und schwamm auf sie zu. Aha – das war klasse und das war absolut richtig gedacht, angesichts dieser eingeschränkten Sicht war es auch das einzig sinnvolle: Thomas befestigte den Blinker an der Ankerleine. Es wäre ihnen also nun dank der regelmäßigen, strahlend hellen Blitze ein Leichtes, ihre Auftauchstelle wiederzufinden, selbst wenn die Sicht noch so bescheiden wäre. Horst nickte anerkennend. Erfahrung hatte Thomas, und zwar nicht zu knapp! Eine solche Umsicht zeichnete einen guten Taucher aus und trennte auch in dieser Hinsicht die Spreu vom Weizen: Donnerwetter – wieder etwas gelernt!

 

Thomas hatte den Blinker mit zwei, drei raschen Handbewegungen an der Leine festgemacht und warf einen prüfenden Blick auf seinen Tauchcomputer. An der linken Hand spreizte er darauf Daumen, Zeige- und Mittelfinger ab: drei Minuten waren also schon vergangen. Horst signalisierte »verstanden«. Viel Zeit blieb also nicht mehr, um die »Jura« zu inspizieren. Wo war das Wrack denn überhaupt? Suchend schaute er sich um, langsam den Lichtkegel seiner Lampe verfolgend, der einen fast aussichts­losen Kampf mit der sie umgebenden gnadenlosen Dunkelheit auszufechten schien. Thomas gab ihm ein Zeichen und winkte mit dem Lichtstrahl seiner Lampe (Das war die ganz eindeutig wesentlich stärkere! Schon wieder also an der falschen Stelle gespart!) nach rechts vorne.

Und tatsächlich: In einer Entfernung von vielleicht drei, vier Metern schimmerte das Heck eines in den Schlick gesunkenen hölzernen Schiffes auf. Beinahe machte es den Eindruck, als sei es erst gestern verunglückt, wie es da unmittelbar vor Horsts Augen lag. Konnte es sich bei diesem Schiff tatsächlich um die vor fast 140 Jahren gesunkene »Jura« handeln? Kaum zu glauben, aber Thomas hatte ihm ja schon bei einer ihrer letzten Unterhaltungen erzählt, wie unversehrt der alte Raddampfer im Grunde noch war – einmal abgesehen von den Beschädigungen, die ihm unachtsam geworfene Anker oder Souvenirjäger zugefügt hatten. Das hing ganz eindeutig mit der Kälte im See und der hier auf dieser Tiefe herrschenden ewigen Dunkelheit zusammen: ideale Kon­ser­vierungsvoraussetzungen für das Wrack der »Jura«.

Vorsichtig paddelte Horst am Rumpf des fast eben auf seinem Kiel stehenden Schiffes entlang, fasziniert von

dem schemenhaft-unheimlichen Anblick, der sich ihm im Schein der Lampe darbot. Hier musste der Bug des Wracks kommen. Tatsächlich: Sogar Schnitzereien waren im Holz noch zu erkennen! Zufrieden lächelnd blickte Horst sich um und deutete mit der ausgestreckten Hand auf seine Entdeckung. Ob Thomas diese Schnitzereien bei seinen früheren Tauchgängen an die »Jura« auch schon aufgefallen waren? Thomas! Wo war Thomas! Horst drehte sich um und ließ den Strahl seiner Lampe am Schiffsrumpf entlangwandern, so gut das bei diesen Sichtverhältnissen eben möglich war.

Innerlich fluchend machte er kehrt. Vor lauter Spannung und Konzentration auf sich selbst hatte er seinen Tauchpartner aus den Augen verloren! Und das in dieser Tiefe und bei diesen schauderhaften Bedingungen! Eigentlich unverzeihlich, bodenlos leichtsinnig und dumm, denn wie sollte man einander helfen, wenn keiner auf den anderen achtgab. Und in dieser Tiefe konnte verdammt schnell verdammt viel Unangenehmes passieren! Andererseits passte das doch ganz und gar nicht zu dem sonst so vorsichtigen und erfahrenen Thomas, ihn alleine vorneweg schwimmen zu lassen und ihn nicht ständig im Blickwinkel zu behalten. Aber wo war Thomas?!

Mit beunruhigender Regelmäßigkeit zuckten die Blitze des vorhin an der Ankerleine festgemachten Blinkers durch das schwarze Wasser, fast wie die Blinklichter eines Notarztwagens. Horst schauderte. Ein Blick auf den Computer signalisierte ihm, dass ihnen noch maximal eine Minute Grundzeit blieb, spätestens dann war es höchste Zeit, wieder aufzutauchen. Aber wo verdammt noch mal war Thomas? Thomas!!

Wie ein stummer Schrei fraß sich der Name seines Kollegen in Horsts allmählich von beklemmender Panik gemartertem Gehirn fest. Thomas – wo war Thomas? Weshalb hatte der ihn einsam und alleine hier in der gnadenlosen, eiskalten und schwarzen Tiefe zurückgelassen – mutterseelenallein? So verlassen und derart preisgegeben, wie Horst sich fühlte, konnte sich kein zweiter Mensch im gesamten Universum vorkommen!

Von äußerster Panik vorwärtsgetrieben, bewegte er sich mit hektischen Paddelbewegungen auf die Richtung zu, aus der die vom Blinker ausgesandten grellen Lichtsi­gnale in die Dunkelheit zuckten.

Wo aber war Thomas? Was war mit Thomas passiert? Thomas!!!!!!!!!

10

»Tut mir leid! Wirklich!« Der Arzt schien tatsächlich geknickt und deprimiert, als er Horst am Tag danach die niederschmetternde Wahrheit zu offenbaren hatte. Immerhin hatte es der Professor höchstpersönlich für nötig erachtet, Horst im Druckkammerzentrum für verunglückte Taucher des Kreiskrankenhauses Überlingen die bittere Erkenntnis mitzuteilen: Exitus!

»Da war nichts mehr zu machen – überhaupt nichts mehr! Ihr Kollege war schon tot, als er an die Oberfläche geschwemmt worden ist!«

Horst fasste sich mit beiden Händen an den Kopf: Er konnte einfach nicht glauben, was er da gerade eben gehört hatte! Exitus! Aus! Schluss! Vorbei! Thomas war tot! Gestorben bei einem Tauchgang, auf dem er, Horst, ihn begleitet hatte! Unmöglich! Ein Unding! Das konnte nicht, das durfte einfach nicht wahr sein!

»Und der Herr Dr. Bär hat auch schon angerufen! Auch ihm habe ich natürlich nichts Besseres mitteilen können.« Rastlos wanderten die Augen des Chefarztes zwischen Horst, dem Fenster und der mittlerweile sperrangelweit offen stehenden Tür der Druckkammer hin und her. Dort hatte er sofort nach seiner Ankunft mit dem Notarztwagen vorsichtshalber die letzten 24 Stunden verbringen müssen, dort hatte man seinen Körper wieder auf die Druck­ver­hält­nisse in der Tiefe konditioniert und den Druck dann ganz allmählich vermindert. Er hatte gewaltiges Glück gehabt – das hatten ihm die behandelnden Ärzte mehr als nur einmal kopfschüttelnd versichert. Aus dieser Tiefe nach einer Grundzeit von knapp zehn Minuten so blitzschnell an die Oberfläche durchzuschießen: Das hätte leicht mit einer schweren bleibenden inneren Verletzung, Querschnittslähmung oder gar mit dem Exitus enden können!

Exitus! Das Wort schoss blitzartig wie eine Harpune durch sein Gehirn, um wenig später in einem grellen Blitz in seinem Kopf zu explodieren. Ihm wurde schwindlig. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich mit den Händen an der Lehne des vor ihm stehenden Stuhles festklammern. Die Bilder würden ihm zeitlebens nicht mehr aus dem Kopf gehen. Während man ihm Infusionen angelegt und ihn für die Zeit in der Druckkammer vorbereitet hatte, konnte Horst neben sich die Liege erkennen, auf der ein nach wie vor lebloser Körper, gespickt mit Infusionen, Pflastern und Reanimationsgeräten, von hektisch sich bewegenden Ärzten und Schwestern umringt war: Thomas! Keiner hatte ihm in den letzten Stunden die Frage beantwortet, was denn mit seinem Freund geschehen war, ob er noch lebte, weshalb man nicht erst einmal ihn in der Druckkammer behandelt hatte, ob es denn tatsächlich so schlimm um ihn stünde, wie es den furchtbaren Anschein hatte.

Und jetzt dies – wie ein Blitz aus heiterem Himmel die endgültige Diagnose: Es war aus, vorbei. Thomas war gestorben, sie hatten ihm nicht mehr helfen können! Thomas war tot!

Schauernd wandte er sich ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um sich auf die Worte des Professors zu konzentrieren. Was hatte der da gerade von irgendeinem ihm unbekannten Anrufer gesprochen? »Wie, der Herr Bär? Welcher Herr Bär?« Irritiert stierte er den Professor an.

»Na, der Landrat!« Genauso indigniert glotzte der ganz offensichtlich schwer gestresste Mediziner nun zurück. Sicher, auch für einen wie ihn, der ja jeden Tag schon rein berufsmäßig irgendwie im Clinch mit dem Tod zu liegen hatte, war so eine Geschichte alles andere als leicht zu verdauen. Wozu war man schließlich – zu Recht – stolz auf die Druckkammer im Überlinger Krankenhaus? Um wie viele Lichtjahre würde es nun die Statistik wieder zurückwerfen, wenn man einen Exitus während des laufenden Betriebs zu verzeichnen hatte. Während eines Betriebs, der doch schon so viele Leben gerettet hatte – wie auch immer und zu welchem Preis auch immer (was sowohl die Frage nach der künftigen Lebensqualität des so geretteten, eventuell im Rollstuhl sitzenden Notfallpatienten genauso aufwarf wie die hartnäckige, ständig wiederkehrende Frage der Krankenkassen nach Kosten und Effizienz einer solchen Einrichtung). Klar, dass die verantwortlichen und auf ihre Druckkammer wie erwähnt stolzen Ärzte alles andere als erbaut darüber waren, dass nach langer Zeit mal wieder einer ihrer Patienten »über den Jordan gegangen war«!

»Welcher Landrat?« Soweit Horst sich in der Kommunalpolitik des Landkreises Friedrichshafen auskannte, und zu diesem gehörte schließlich auch die Stadt Überlingen, hörte der Landrat des Bodenseekreises auf einen ganz anderen Namen.

Mit einer unwirschen Bewegung des rechten Armes schien der Chefarzt Horsts Frage regelrecht vom Tisch zu wischen. »Na, der Dr. Bär eben – der Landrat von Konstanz! Wer denn auch sonst?!« Missmutig fixierte er sein Gegenüber durch die dicke Hornbrille hindurch.

»Aber der ist doch dafür gar nicht zuständig, woher weiß denn der schon …«

»Was heißt hier: nicht zuständig? Schließlich ist der Unfall – rein theoretisch – in der Schweiz passiert und ein Beamter aus dem Landkreis Konstanz war das Opfer! Wir sind doch hier nicht in einer Bananenrepublik, sondern in einem modernen telekommunikativen Rechtsstaat, hören Sie mal! Da weiß man so was eben ganz einfach! Da hat man das schlichtweg zu wissen!« Zornesfalten zerfurchten nun die Stirn des Mediziners. »Und glauben Sie bloß nicht, dass diese Geschichte so mir-nichts-dir-nichts im Sande verlaufen wird! Das ist eine internationale Affäre, die noch nicht einmal innerhalb der Europäischen Gemeinschaft geregelt werden kann. Denn der Unfall ist schließlich auf Schweizer Boden passiert, und das macht die Sache besonders delikat!«

Horst konnte – trotz seines momentanen Gemütszustandes – einfach nicht anders: »Na ja, Schweizer Boden würde ich nicht direkt sagen, eher schon Schweizer Wasser …«

Der Professor fixierte ihn mit einem bösen Blick: »Also ich an Ihrer Stelle würde mir mehr Gedanken über eine ordentliche Erklärung der ganzen Chose machen, als mein bisschen Gehirnschmalz auf solch eine saudumme Re­plik zu verwenden! Jetzt sagen Sie doch endlich mal: Was ist da unten denn eigentlich passiert?«

»Wenn ich das nur wüsste!« Horst war dem Wahnsinn nahe; es war ein regelrechter Albtraum, dem er sich seit Stunden wehrlos ausgesetzt fühlte. Und wenn er ehrlich war, wusste er nicht mehr aus noch ein. »Ich kann Ihnen nur so viel sagen, dass wir zusammen ordnungsgemäß abge­taucht sind, alles war vorher durchgecheckt, alle Systeme waren in Ordnung. Wir haben nichts übertrieben, haben uns am Grund völlig kontrolliert und normal verhalten, Thomas war sowieso ein absolut umsichtiger und erfahrener Taucher …«

Der Professor schnaubte wütend: »Erfahrener Taucher! Wenn ich das schon höre … Wie viele ›erfahrene Taucher‹ vom Teufelstisch habe ich schon hinterher auseinan­der­nehmen müssen? Und jedes Mal dasselbe: Selbstüberschätzung, Panik, Exitus …!«

Jetzt stieg auch in Horst allmählich die Galle hoch! Nein, derartige Legenden würde er seinem toten Freund nicht anhängen lassen! »Reden Sie keinen Blödsinn, ja! Sie waren schließlich nicht dabei! Also noch mal: Da war nichts und da gab es auch nicht den Hauch eines Fehlverhaltens! Mir ist die ganze Geschichte mehr als schleierhaft!«

Horst wurde schwindlig, wenn er auch nur ansatzweise an die zurückliegenden fünf Horrorstunden dachte: Als er panikartig zurück zum Ankerseil geschwommen war, hatte er schemenartig zuckende Bewegungen im Wasser wahrgenommen. Das musste Thomas sein! Doch durch das aufgrund der hektischen Flossenschläge heftig durcheinandergewirbelte Sediment war eine klare Sicht selbst auf gerade mal drei Meter Entfernung unmöglich geworden. Thomas! Was war mit ihm geschehen?! Wieso bewegte er sich derart merkwürdig und wieso baumelte da unter ihm … Nein! Was er da sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren! Weshalb um alles in der Welt hatte Thomas denn sein Mundstück herausgenommen und es offenbar auch nicht einmal in der Hand behalten?

Horst hatte keine Chance, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen, denn im selben Moment schoss Thomas, wie von einer Rakete getrieben, in Richtung Oberfläche! Das durfte doch alles einfach nicht wahr sein! Horst fühlte sein Herz unter dem dicken Neoprenanzug heftig pochen. War das etwa die erste Stufe des Tiefenrausches? Verfolgten ihn üble Halluzinationen? War mit Thomas tatsächlich irgendetwas Schlimmes geschehen oder befand er sich selbst mittlerweile in Lebensgefahr, weil seine Sinne ihm Dinge vorspiegelten, die weitab von der Realität waren, ja sein mussten?! Hatte in Wirklichkeit also ihn der Tiefenrausch in seine tödliche Umklammerung genommen?

 

Unter Nichtbeachtung sämtlicher Dekotabellen und Sicherheitsmargen folgte Horst seinem Tauchpartner so schnell wie irgend möglich nach oben. An der Wasseroberfläche angekommen glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können. Tatsächlich: Hier trieb Thomas, mit dem Bauch nach oben, das Mundstück ausgespuckt (ganz offensichtlich war ihm unter Wasser schlecht geworden und er hatte sich übergeben müssen). Ein dünnes rotes Rinnsal floss aus seinem Mund, die Augen waren in panischem Entsetzen auf einen fiktiven Punkt am Himmel gerichtet, der Atem ging unregelmäßig, keuchend und stoßweise.

»Thomas, um Gottes willen, Thomas! Was ist denn um alles in der Welt passiert da unten?« Nur mühsam stieß Horst die Worte hervor, überwältigt vom dramatischen Geschehen der letzten fünf Minuten und selbst kurz vor einem Ohnmachtsanfall stehend!

Doch aus Thomas’ Mund kam keine Antwort mehr. Hektisch zerrte Horst am Jacket des Verunglückten – er musste ihn irgendwie ins Boot bekommen, aber wie um alles in der Welt? Übelkeit stieg in ihm auf, eine eiserne Kralle schien gnadenlos sein Gehirn zusammenzuquet­schen! Er war viel zu schnell aufgestiegen, das war klar, aber was tun jetzt? Bloß nicht ohnmächtig werden, alle Kräfte zusammennehmen, sich konzentrieren, dagegen ankämpfen, sonst hatten sie beide keine Chance mehr. Wo war das Boot eigentlich? Er schaute sich um – na, Gott sei Dank! Er löste seinen Griff von Thomas und schwamm mit wenigen Flossenschlägen hinüber. Aber wie hineinkommen? Das Boot neigte sich bedenklich, als er sich mit beiden Händen an der Seite festhielt. Jetzt hätte er Thomas gebraucht, wenn der sich an der gegenüberliegenden Seite festhalten könnte und so für das nötige Gegengewicht gesorgt hätte! Aber von Thomas war keine Hilfe zu erwarten – im Gegenteil. Ein rascher Blick zurück ließ Horst fast verzweifeln: Das rote Rinnsal aus dem Mund von Thomas hatte sich verstärkt, die Atmung war weder sicht- noch hörbar, es musste nun ganz rasch etwas passieren!

Krampfhaft schälte sich Horst aus seinem Jacket. Nur so konnte es gehen! Nur wenn er das Gewicht von Flasche und Blei abgestreift hatte, war er eventuell in der Lage, ins Boot zu klettern. Unter Aufbietung all seiner verbliebenen Kräfte und permanent gegen die ständig zunehmende Übelkeit ankämpfend zog er sich – unterstützt von heftigen Paddelbewegungen mit den Flossen – in das sich bedrohlich zur Seite neigende Boot. Vor Anstrengung keuchend blieb er einige Sekunden bäuchlings so auf dem Boden liegen. Schwarze Dunkelheit breitete sich in seinem Kopf aus. Nein, das durfte er nicht zulassen, er musste bei Bewusstsein bleiben, er musste jetzt schauen, wie er Thomas in das Boot hieven konnte. Irgendwie musste er es schaffen und dann versuchen, ans Ufer zu gelangen und Hilfe zu suchen. Hoffentlich kam er mit dem Motor zurecht! Aber jetzt galt es erst mal, Thomas aus dem Wasser zu bekommen!

Vom Boot aus gelang es ihm, wieder das Jacket von Thomas zu fassen. Doch an ein Anheben des Verunglückten war nicht zu denken. Horst spürte, wie seine Kräfte mehr und mehr schwanden – lange würde er nicht mehr durchhalten und Hilfe war weit und breit nicht in Sicht! Wenn doch bloß ein Boot in der Nähe wäre, das er auf ihre Notlage aufmerksam machen könnte! Im selben Moment drang ein merkwürdig gedämpftes Geräusch wie von weiter Ferne an sein Ohr. Irritiert drehte er sich in die Richtung, aus der er das Geräusch zu hören gemeint hatte. Irgendwie kam es ihm bekannt vor, aber seine erschöpften Sinne schienen ihm allmählich die Gefolgschaft zu versagen. Da! Wieder dieses Geräusch, von links unten, meinte er, könnte es gekommen sein! Halluzinationen – ganz offensichtlich! Horst senkte den Blick auf die Stelle, wo er das Klingeln vermutet hatte. Das Klingeln! Die Sporttasche! Und wieder hörte er es: Richtig, das kam aus seiner Sporttasche, das war sein Handy! Doch, er hatte es vorher eingepackt und offenbar vergessen auszuschalten. Gott sei Dank!

Mit zitternden, vor Kälte steifen Fingern öffnete er den Reißverschluss der Tasche und durchwühlte hektisch deren Inhalt. Da war es! Endlich! Wieder ein Klingeln, jetzt klar und deutlich zu hören. Mit einem energischen Ruck riss er das Telefon aus der Tasche und drückte den grünen Knopf. »Hilfe!« Es war mehr ein heiseres, fast unverständliches Krächzen, das er mühsam zwischen den Zähnen hervorstieß, als ein Hilferuf. War das überhaupt seine Stimme gewesen, die er da gerade gehört hatte?

»Hallo? Hallo – ist da jemand?!« Der Teilnehmer am anderen Ende schien nichts verstanden zu haben.

Horst versuchte, die mehr und mehr von ihm Besitz ergreifende Panik hinunterzuschlucken. Konzentration war jetzt alles. Er schloss die Augen, versuchte einen ruhigen Atemzug und murmelte leise, so leise, dass er es selbst kaum hören konnte: »Hilfe! Helfen Sie mir bitte!«

»Hallo! Hallo? Wer ist denn da am Telefon?«

Das war zu leise gewesen! Klar! Horst wurde schwindlig, aber es half alles nichts: Er musste sich jetzt zusammennehmen! Das war ihre letzte Chance! Also – ein neuerlicher Versuch – und diesesmal konnte er relativ deutlich eine Stimme hören, eine ihm fremde Stimme, gerade so, als ob jemand neben ihm stünde und in sein Mikrofon sprechen würde: »Hier ist Meyer, Horst Meyer! Hilfe! Helfen Sie mir bitte, wir sind in Seenot …«

Jetzt überschlug sich die Stimme des Gesprächsteilnehmers: »Horst! Was soll denn das! Mach keine Witze mit mir Horst! Komm, lass den Quatsch!«

Wie durch immer dichter werdende Nebelschwaden registrierte Horst den Tonfall und die ihm irgendwie bekannte Aussprache des anderen. Wo hatte er schon ein­mal … früher … schon lange her … Protnik! Das war Protnik! Protnik war am Telefon! Der ihm so vertraute Name elektrisierte ihn förmlich und verschaffte ihm ein letztes Mal die nötige Energie, um seinen Hilferuf abzusetzen. Jetzt nur nicht durchdrehen! Bleib ruhig und versuche, deutlich zu artikulieren: »Hallo, Michael«, raunte er heiser in den Hörer. »Michael, das ist kein Quatsch. Ich bin in Seenot! Thomas auch! Michael, wir brauchen Hilfe, drin­gend! … Sind getaucht …« Das Sprechen fiel ihm schwerer und schwerer. »Getaucht … Bodensee … Michael … Jura … von Schweiz aus … Michael … merk dir … Bottighofen … Tauchen … Dekounfall … Micha … schnell …«

Der Hörer fiel ihm aus der Hand und Horst sackte zusammen. Ein undurchdringlicher weißer Nebel breitete sich in seinem Kopf aus und Sekundenbruchteile später schoss er durch die unheimliche tiefe schwarze Dunkelheit des unendlichen Universums, ein Staubkorn im Weltall … Horst war in einer gnädigen tiefen Ohnmacht versunken …

»Horst, hallo, Horst, wo genau, sagst du, war das? Horst!!! Melde dich!! Horst!!!« Die Panik hatte nun auch Protnik am anderen Ende der Leitung ergriffen. Was um alles in der Welt war da passiert? Hoffentlich hatte er den fast unverständlich geflüsterten Ortsnamen richtig verstanden! Bottenhofen? Bottichkofen? »Horst! Sag doch einmal was! Horst!!!!!«