Tatort Bodensee

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Es war ein strahlend schöner Montagmorgen, als Horst, der erst noch die Kinder zur Schule gefahren hatte, mit seinem Wagen bei der Anschlussstelle Heilbronn-Untergruppenbach auf die A 81 einbog. Nichts, aber auch gar nichts konnte ihm jetzt noch seine Urlaubslaune verderben. Was gab es Schöneres, als einen Teil seiner respektablen Überstunden, die sich innerhalb des letzten Jahres bei der Arbeit in der Polizeidirektion Heilbronn angesammelt hatten, bei herrlichem Sommerwetter am Bodensee abzufeiern? Tauchen, grillen, einen guten Freund wiedersehen, ordentlich einen draufmachen, ganz Mensch – und nicht in tausend Zwängen steckender Polizist – sein dürfen: einfach herrlich!

Den Kollegen, oder vielmehr: den Freund Thomas Grundler kannte er schon seit Urzeiten. Damals, als sie beide gemeinsam auf der Polizeifachhochschule in Villingen-Schwenningen die ersten Stufen zur Kommissarausbildung absolviert hatten – du meine Güte: Das war nun auch schon wieder gut und gerne 15 Jahre her! Und seitdem hatten sie sich immer wieder getroffen und den Kontakt gehalten, obwohl der eine von ihnen, Horst, von Sigmaringen über Tübingen und Ulm schließlich in Heilbronn gelandet war, und es Thomas endlich geschafft hatte, in den äußersten Süden, in seine Heimat am Bodensee nach Konstanz versetzt zu werden. Der wohnte in Meersburg, wo er auch aufgewachsen war, und fuhr jeden Tag mit der Autofähre über den See nach Konstanz in die Direktion. »So fängt jeder Tag eigentlich schon an wie ein richtiger Urlaubstag – besser kann man es gar nicht erwischen –, und bis ich wieder zu Hause bin, habe ich durch die Rückfahrt mit der Fähre schon längst alles abgestreift und komme heim: dorthin, wo andere Urlaub machen! Nein, keine zehn Pferde und keine noch so verlockende Polizeikarriere bringen mich jemals wieder vom See weg – lieber bleibe ich das, was ich bin, und ärgere mich jeden Tag über unsere Karrierehengste, als diese Mühle auf mich zu nehmen«, hatte Thomas mehr als einmal ein eindeutiges Bekenntnis zum Bodensee und seinem Wohnort Meersburg abgegeben und Horst hatte jedesmal eigentlich nur zustimmend nicken können.

Auch er genoss seit Jahren immer wieder die Stimmung am See, wobei er die alte Reichsstadt Überlingen als Standort favorisierte, die sich gerade in den letzten Jahren mächtig nach vorne entwickelt hatte. Und so war zwischen den beiden mehr als einmal ein freundschaftlich-deftiger Disput über die Frage ausgebrochen, welche Stadt am See denn nun die schönere und liebenswertere sei: Meersburg mit der alten Burg, den romantischen engen und steilen Gassen und dem großen Hafen oder Überlingen mit der größten Promenade am See und seiner verwinkelten Altstadt mit den vielen Lokalen und wunderschönen Strandbädern. Ein solcher verbaler Schlagabtausch würde mit Sicherheit auch dieses Mal zwischen den beiden geführt werden, darin war sich Horst jetzt schon sicher. Doch wie auch immer: Auch Horst hatte – sehr zur Verwunderung seines Kollegen – mittlerweile seine ideale Heimat gefunden. Dass dies ausgerechnet Heilbronn sein sollte, die zweitgrößte Stadt von Württemberg, hatte Thomas anfangs mit schallendem Gelächter quittiert – später dann, nach einigen Besuchen und manchem Glas Lemberger auf der jährlich im September stattfindenden Präsentation der Unterländer Weingüter in der Heilbronner Innenstadt (Slogan: »Deutschlands schönstes Weindorf«) oder in einer der vielen Besenwirtschaften im Umland, war die Ironie einem anerkennenden Gesichtsausdruck gewichen – zumindest, wenn man auf das Thema Unterländer Wein zu sprechen kam.

Logisch, dass Horst seinem Beinamen »Lemberger

trocken«, den Thomas ihm bei einem der Heilbronner Weindorf-Besuche nach dem sechsten Viertele verpasst hatte, auch dieses Mal alle Ehre angedeihen ließ: Einen ganzen Karton Lemberger Kabinett trocken hatte er in den Kofferraum gepackt – und zwar was »Gescheites«, einen 1996er Heilbronner Staufenberg! Dazu noch eine Flasche aus seinem Geheimfach, von dessen Existenz nicht einmal Claudia den Schimmer einer Ahnung besaß: einen 97er Lem­berger Spätlese trocken aus dem Holzfass vom Grafen Neipperg aus Schwaigern! In dessen Kellerei hatte er sich vor einigen Wochen in einem Anflug von Wahnwitz (so zumindest würde es Claudia mit Sicherheit formulieren, hätte sie Kenntnis von dem »Vorfall«) einen 6er-Karton besorgt, die (einzelne!) Flasche um den stolzen Preis von 30 Mark. Für Claudias 40. Geburtstag im nächsten Sommer waren die paar Fläschchen eigentlich bestimmt, als Extra-Überraschung sozusagen, streng tabu bis dahin: andererseits … man sollte schon mal vorher eine Flasche probiert haben, ob der Inhalt den Erwartungen auch tatsächlich entsprechen würde, hatte er insgeheim für sich beschlossen und so eine Flasche mit auf die Reise an den Bodensee genommen. Hoffentlich hielt der Wein seinen Erwartungen stand, denn sonst konnte er sich den Kommentar seines Freundes jetzt schon lebhaft vorstellen, der in etwa lauten würde, dass man um diesen Preis beim Aldi gleich einen ganzen Karton bekommen könne und dass der – ehrlich gesagt – auch nicht unbedingt um 150 Mark schlechter schmecken würde … Nein – gleich bei seiner Ankunft würde er ihn an einem schönen Plätzchen lagern, frühestens nach drei Tagen öffnen und ihm dann noch einen ganzen weiteren Tag Zeit geben, sein Aroma zu entfalten. Ach ja, die Vorfreude war doch wieder mal die schönste Freude …

Auf dem Spätzleshighway zwischen Böblingen und Herrenberg war wieder mal die Hölle los – glücklicherweise aber in Richtung Stuttgart, und nicht auf der Strecke ans Schwäbische Meer (Horst freute sich schon da­rauf – da würde der Thomas als eingefleischter Badener wieder toben, wenn man seinen Bodensee zum Schwäbischen Meer umfunktionierte!).

In der Nähe von Bad Dürrheim klingelte Horsts Handy. Er nahm den Fuß vom Gaspedal, drückte die grüne Taste und meldete sich, wie immer mit schlechtem Gewissen, denn das telefonieren während der Fahrt war ja eigentlich gerade für ihn als Polizeibeamten tabu – außerdem ärgerte er sich immer wieder über die Idioten mit ihrem fast unkalkulierbaren Fahrstil, wenn sie mit einer Hand am Handy und mit der anderen am Steuer klebten.

Der Gesprächsteilnehmer am anderen Ende war so gut wie überhaupt nicht zu verstehen, aus dem Hörer kam Horst eine Salve von zerhackten Wortfetzen, metallischen Sphärenklängen und verrauschten Orkanböen entgegen. Er zog sein Fahrzeug deshalb, nachdem er einen LKW überholt hatte, auf die rechte Fahrspur herüber und drosselte weiter das Tempo. »Moment noch«, rief er ins Mi­krofon. »Bei mir ist noch der Zerhacker an, wird gleich besser, einen Augenblick bitte.«

Allmählich wurde das Kauderwelsch verständlicher, die verzerrte metallische Stimme entpuppte sich als die des Kollegen und Freundes Michael Protnik, der offensichtlich aus Leibeskräften in den Hörer hineinbrüllte: »Hallo, hallo! Hotte – verstehst du mich? Hotte, hallo, Hotte!«

Typisch Protnik; wenn schon, dann immer gleich hoch zehn! Horst schmunzelte in sich hinein: Eigentlich brauchte der gar kein Telefon, der hätte – bei dieser Lautstärke – seine Nachricht auch mit dem Wind herüberbrüllen können!

»Sputnik, hallo, Sputnik! Halt mal ganz kurz die Luft an! Ich versteh dich ja jetzt! Hallo – Sputnik, hier ist der Horst, was gibt’s denn?«

»Na endlich! Diese Scheißdinger! Den ganzen Tag klingeln sie und terrorisieren einen, und wenn man sie dann selber mal braucht, dann versteht man nix! Hallo, Horst!« Die Lautstärke von Protnik hätte noch immer mühelos dafür ausgereicht, auch ohne Mikrofon einen Wettbewerb gegen die Rolling Stones überlegen zu gewinnen.

»Hallo, Michael! Na – was gibt’s denn?« Da vorne war ein Parkplatz. Am besten er hielt dort kurz an und telefonierte von hier aus in aller Ruhe mit Protnik, bevor die Verbindung wieder schlechter wurde und der Kollege sich von Neuem genötigt fühlte, seine Phonstärke ins nicht mehr Messbare zu steigern. Schließlich saß Horst ja kein Termin im Nacken, das war ja gerade das Schöne an diesen paar freien Tagen.

»Ich bin jetzt da, das hab ich dir bloß sagen wollen – grade angekommen«, ganz allmählich reduzierte sich Prot­niks Lautstärke nun auf einigermaßen verzerrungsfreien Normalstandard. Dennoch verstand Horst nicht die Bohne!

»Wie angekommen, wo angekommen?« Typisch Prot­nik! Der Kerl schaffte es einfach nicht, sich klar und eindeutig auszudrücken! Jedes Mal dasselbe, wenn man mit dem telefonierte: ein einziges Versteckspiel Marke »Rate-mal-wo-ich-bin-ich-weiß-es-schon-aber-du-nicht«! Das war dem Freund und Kollegen bei der Ulmer Kripo selbst in hundert Jahren anscheinend nicht abzugewöhnen!

»Weißt du doch! Du hast mir doch selber den Tipp gegeben da im Januar!« Ein leichter Vorwurf schien durch das Handy an Horsts Ohr zu dringen. Mimose!

»Protnik! Januar ist vor gut und gerne einem halben Jahr gewesen! Jetzt haben wir Juli! Was hab ich dir denn damals empfohlen?«

»Na, den Wildenstein natürlich! Deine Lieblingsburg im Donautal! Schon wieder vergessen, Herr Alzheimer?«

Ach so! Ja, natürlich! Den Tipp hatte er seinem alten Kollegen vor einiger Zeit gegeben. Wenn er mal ein paar Tage Zeit hätte, dann solle er sein Fahrrad aufs Auto schnallen und einen Abstecher ins Donautal zwischen Tuttlingen und Sigmaringen machen und dort dann auf Horsts Lieb­lings­burg, der imposanten Festung Wilden­stein, hoch über dem Donautal in der dort eingerichteten Jugendherberge übernachten. Das war es, was Protnik jetzt also offenbar auch umgesetzt hatte. »Du bist jetzt also auf dem Wildenstein? Heißt das, du hast grade ein paar Tage Urlaub?«

»Ja, was glaubst du denn? Wie ist das bei euch in Heilbronn: Kann man da etwa während der Dienstzeit einen Trip ins Grüne machen, oder wie? Klar – eine ganze Woche hab ich mittlerweile freie Tage und die feiere ich jetzt hier im Donautal ab!«

 

»Ist ja prima!« Horst hatte sich dafür entschieden, die Spitze in der Antwort seines Kollegen schlichtweg zu überhören. »Da können wir uns ja mal treffen, oder? Ich hab nämlich auch gerade ein paar Tage frei! Was meinst du?«

»Na ja«, die Begeisterung am anderen Ende des Gesprächs schien sich in engen Grenzen zu halten. »Also vom Wildenstein nach Heilbronn, das dürften ja fast 200 Kilometer sein – und dann noch am Stuttgarter Dreieck vorbei … Ich weiß nicht … Einerseits: Wiedersehen würde ich dich ja schon mal wieder gerne, aber wo ich doch jetzt das Fahrrad dabeihabe und ich doch eigentlich eine Art Aktivurlaub …«

Horst unterbrach den qualvollen Entscheidungs­fin­dungs­prozess seines ehemaligen Mitarbeiters, mit dem er vor Jahren in Ulm zusammengearbeitet hatte und mit dem ihn seither eine herzliche Freundschaft verband: »Quatsch: nix ist mit Heilbronn! Ich bin nämlich grade auf dem Weg an den Bodensee – gar nicht weit weg von dir. Ich habe da nämlich einen Wohnwagen in Nußdorf bekommen, da bleibe ich die ganze Woche. Das sind vom Wildenstein«, Horst überlegte kurz, »schätzungsweise 35, maximal 40 Kilometer, das wäre doch machbar, eventuell sogar mit dem Rad.« Die Tatsache, dass es dann vom Bodensee wieder zurück auf den rauen Heuberg immerhin gut und gerne stattliche 400 Höhenmeter zu bewältigen galt, ließ Horst vorsichtshalber lieber einmal unerwähnt. »Und der Thomas, den kennst du doch auch, der Thomas Grundler, der kommt auch dazu, na, wär das was? Da hätten wir sturmfreie Bude und könnten kräftig einen draufmachen, was meinst du?«

»Na ja, wenn du aber schon mit dem Grundler was ausgemacht hast. Also – ich weiß nicht so recht.« Oh Gott, das beleidigte Mimöschen in Protnik war wieder zutage getreten. Typisch Sputnik: er oder keiner! Dabei hatten sie sich bei ihren gelegentlichen Zusammentreffen bei irgendwelchen Fortbildungsveranstaltungen immer hervorragend verstanden – alle drei! Aber einzig und allein mit Thomas Grundler etwas ausgemacht und ihn, Protnik, nicht davon unterrichtet zu haben, das war anscheinend schon wieder gleichbedeutend mit einer Überdosis für das oft und mit Inbrunst zur Schwermut neigende Gemüt des Ulmer Kollegen.

Horst versuchte es mit einem Köder, der normalerweise ziehen musste: »Also komm, jetzt tu nicht so und gib dir einen Ruck! Ich hab zwar nur Lemberger dabei, aber extra für dich könnte ich mir vorstellen, dass ich noch ein paar Flaschen Hefeweizen besorgen könnte. Ein richtig schön gekühltes Meckatzer Löwenbräu, na – wie wäre das?!« Horst wusste genau, allein beim Stichwort Hefeweizen und erst recht bei der Erwähnung von Protniks Weizenbier-Lieblingsmarke, die er zu seinem größten Bedauern nur am Bodensee und im Oberland, aber eben nicht in Ulm zu trinken bekam, würde dessen Widerstand schmelzen wie ein Schneemann im Backofen. Genauso war es.

»Na ja – ich weiß nicht. Ich überleg’s mir mal. Okay.« Die Annäherung kam zögerlich, aber unaufhaltsam. »Also: vielleicht könnte ich es einrichten, sagen wir am Mittwoch. Also Mittwoch könnte eventuell klappen!«

Blödmann! Als ob der an seinen freien Tagen so von Terminen zugedeckt wäre wie ein Börsenmakler! Aber gut, irgendwie versuchte halt jeder auf seine Weise, das Gesicht zu wahren. »Klasse, Protnik, also abgemacht! Ich ruf dich heute Abend noch mal an und erklär dir, wo du mich dann finden kannst. Toll! Also dann bis Mittwoch und grüß mir meine Lieblingsburg! Sag dem Herbergsvater übrigens einen schönen Gruß von mir, ich müsse unbedingt mal wieder vorbeigucken, ich habe schon regelrechte Entzugserscheinungen – vielleicht klappt’s ja sogar auf der Rückreise am Sonntag!«

Das Wiedersehen mit der Burg Wildenstein lag in der Tat in greifbarer Nähe, und es sollte viel schneller stattfinden, als Horst es zu diesem Zeitpunkt ahnen konnte.

3

Kaum war Horst wieder vom Parkplatz auf den Spätzleshighway eingebogen und hatte sein Fahrzeug beschleunigt, da klingelte das Handy von Neuem. »Scheiß­dinger!«, entfuhr es Horst, der mit der immer mehr um sich grei­fenden Handy-Manie und dem Überall-und-jederzeit-er­reich­bar-sein-können-und-müssen so seine Probleme hatte. »Nirgendwo hat man mehr seine Ruhe!« Missmutig drückte er die grüne Taste an seinem Mobiltelefon. »Meyer!« bellte er unwirsch ins Mikrofon.

»Hallo, Horst, gut dass ich dich erreicht habe! Hier ist der Thomas!«

»Ach, du bist es! Na dann ist alles halb so wild!« Horsts schlechte Laune war augenblicklich verflogen. »Ich dachte schon, irgend so ein Depp auf der Direktion meint wieder, er müsse unbedingt etwas wissen, das nicht bis nächste Woche Zeit hat, aber das natürlich auch noch in der übernächsten Woche zu klären wäre. Na gut: Also wenn ich richtig schätze, dann müsste ich in einer guten halben Stunde bei dir sein können. Ich bin nämlich grade schon hinter Geisingen auf der Höhe Hegaublick, und da vorne seh ich ein bisschen was vom See und sogar den Säntis. Meine Güte, ist das ein Panorama heute!« Die Sicht über die Hegauvulkane hinüber zum See und auf die Österreicher und Schweizer Alpen war tatsächlich atemberaubend schön! Das war es, so musste Urlaub im wahrsten Sinn des Wortes aussehen, so musste es sich auch anfühlen: strahlender Sonnenschein und eine wunderschöne Alpensicht, wie man sie nur an einer Handvoll Tagen im Jahr genießen konnte. In Horst machte sich eine euphorische Urlaubsstimmung breit, so wie fast immer, wenn er dem Ziel seiner langersehnten Ferien nahe kam. Die Frage, die sich danach stellte, war freilich immer wieder dieselbe: Hoffentlich hielten die nächsten Tage auch das, was die Ouvertüre in Aussicht gestellt hatte. Und eine solche Wetterlage mit Alpensicht bedeutete Föhn – oft genug schlug dann das Wetter in den kommenden 24 Stunden ins Gegenteil um – oft genug, aber doch sicher nicht diesesmal – oder?

Doch schon kam der erste Dämpfer: »Du, schön, das freut mich für dich! Aber heute wird’s leider nichts mit unserem Treffen! Ich hab da grade einen saublöden Fall am Hals und ich seh keine Chance, da heute noch ein paar Stunden freimachen zu können!« Die Stimme am Handy klang nicht unbedingt verärgert, sondern eher ziemlich deprimiert. Eigentlich ganz und gar nicht die Art, wie er Thomas Grundler kannte.

Für einen kurzen Moment stieg in Horst Enttäuschung auf – man sollte den Tag nun mal nicht vor dem Abend loben! »Schade – ich hatte mich schon gefreut, dich mal wieder in der PD zu besuchen, aber was nicht ist, können wir im Lauf der Woche ja vielleicht noch hinbekommen. Also gut, dann fahr ich eben erst mal nach Nußdorf und bring den Wohnwagen auf Vordermann.« Vielleicht auch kein Fehler, erst mal in Ruhe das Terrain zu sondieren, einzukaufen und sich zu entspannen: einfach so in der Sonne zu liegen, mal schnell mit dem Fahrrad (in Frieders Wohnwagen wurde zum Glück eines aufbewahrt) nach Überlingen ins Ostbad zu fahren und es sich dort gut gehen zu lassen. Und morgen war dann ja auch noch ein Tag – zum Tauchen … »Aber das mit dem Tauchen morgen klappt doch, oder? Ich hab extra meine Flasche dabei – die hab ich gestern noch füllen lassen: mit eins a Heilbronner Luft, da werde ich tauchen wie ein Weltmeister!«

Die Antwort kam zögerlich: »Na ja, ich hoffe schon, dass das klappt! Ich ruf dich heute Abend noch mal an, okay?«

Das war aber alles andere als beruhigend! »Okay – Dienst ist schließlich Dienst, was soll man da machen? Mach dir keine Gedanken, ist alles halb so wild!« So ein Mist! Da war alles so wunderschön geplant gewesen und jetzt zerplatzte die ganze Geschichte womöglich wie eine Seifenblase!

Offenbar war ihm die Enttäuschung durch das Handy hindurch anzuhören gewesen. »Glaub bloß nicht, dass mir das recht ist, Horst! Aber ich hab da grade eine elende Geschichte auf dem Schreibtisch, ich sag’s dir, da vergeht einem allmählich das Lachen! Ich kann jetzt am Handy nicht darüber reden, aber ich hoffe, ich bin morgen dann wesentlich weiter und kann endlich einen Knopf an die Chose machen. Also, wie gesagt – ich ruf dich heute Abend an. Tschüss!« Und schon hatte Thomas aufgelegt.

Verwundert starrte Horst einen Moment lang sein Handy an: So knapp und gehetzt hatte er seinen Kollegen noch nie erlebt! Weder privat noch bei dem einen oder anderen Fall, in dem sie schon zusammengearbeitet hatten, er – Horst – von der Heilbronner Mordkommission aus und Thomas Grundler als Hauptkommissar beim Wirtschaftskontroll­dienst der Polizeidirektion Konstanz.

Vor lauter Grübeln wäre Horst nun beinahe an der Abzweigung in Richtung Überlingen vorbeigefahren. Mit einem ärgerlichen Fluch lenkte er sein Auto im letzten Moment nach rechts, begleitet von wütendem Hupen des nachfolgenden Wagens, der gerade Gas gegeben hatte und nun durch Horsts überstürztes Lenkmanöver zu einem heftigen Tritt auf die Bremse genötigt wurde. Doch der Kriminalkommissar aus Heilbronn machte keine Anstalten, in eines der berühmt-berüchtigten bundesdeutschen Autobahnduelle mithilfe eindeutig-zweideutiger Zeichensprache einzusteigen; dafür war er im Augenblick viel zu sehr mit dem gerade beendeten Telefongespräch und Thomas Grundlers deprimiertem Tonfall beschäftigt.

4

Der Tag im Strandbad Ost von Überlingen war traumhaft schön verlaufen. Urlaub, wie er idealer fast nicht sein konnte, nur – ganz ehrlich – zu zweit, also mit Claudia, wäre alles doch noch viel schöner gewesen. Das gestand sich Horst ehrlicherweise ein, wie er da alleine auf dem Rasen liegend dem bunten Treiben um sich herum im Ostbad zuschaute. Vor allem die Pärchen oder die Familien mit Kindern erinnerten ihn nachdrücklich immer wieder daran, dass er zum Single halt doch nicht geschaffen, sondern in Wirklichkeit – aller ärgerlichen Beteuerungen dann und wann zum Trotz – ein ausgesprochener Familienmensch war, dem allein zu Hause oder im Urlaub recht schnell die Decke selbst da auf den Kopf fiel, wo – wie im Strandbad – gar keine Decke vorhanden war.

Dennoch, bei solch schönem Wetter am See, auf dem penibel kurz gemähten saftig-grünen Rasen seines Lieb­lings­bades in Überlingen war sich Horst wieder mal bombensicher: Nirgendwo konnte Urlaub schöner sein als am Bodensee – sofern natürlich das Wetter mitmachte. Kein unangenehm schmeckendes Salzwasser im Mund, kein lästiger Sand, der sich in alle Poren setzte, eine picobello gepflegte Anlage mit Süßwasserdusche, Rasen, ein schönes Baderestaurant mit Currywürstchen, Schnitzel, Pom­mes und Hefeweizen: Herz, was willst du mehr?

Beschwingt radelte Horst am Abend die paar Meter zurück nach Nußdorf zum Wohnwagen, der sich ihm bei seiner Ankunft am Vormittag schon in angenehm gutem Zustand präsentiert hatte. Der Landwirt, auf dessen Platz Frieders mobiles Feriendomizil abgestellt war, war bereits von seinem bevorstehenden Eintreffen unterrichtet gewesen und hatte ihn schon erwartet. Schnell war der Koffer ausgepackt und der noch benötigte Proviant besorgt gewesen, sodass einem gemütlichen Abend am See eigentlich nichts mehr im Wege stand.

Horst beschloss, sich zunächst einmal sommer-ausgehfertig umzuziehen: weiße Jeans, gelbes Polo T-Shirt und die Wildledermokassins – genau der richtige Dress, um noch ein oder zwei Stunden auf der Überlinger Uferpromenade entlangzubummeln und sich dort hinterher noch im »Faulen Pelz« ein oder zwei Spätburgunder-Weißherbst zu gönnen. Einen vielleicht vom Überlinger Spitalweingut und den anderen – mal sehen, was auf der Karte stand – entweder vom markgräflichen Weingut auf der Birnau oder aber einen Hagnauer von der dortigen Winzergenossenschaft. So ein richtig schöner gemütlicher Absacker mit einem kühlen, erfrischenden Weißherbst vor sich und die an der Promenade auf- und abflanierenden Menschen – das gehörte für ihn einfach zu einem Sommerurlaub in Überlingen dazu, wie das Wasser zum Bodensee.

Während er so gemütlich im »Faulen Pelz« saß, dessen an die Fassade gemalten Wahlspruch »Faul ist und bleibt der Pelz« er bei jedem Besuch aufs Neue wieder mit einem zufriedenen Lächeln quittierte, blätterte er im neuen »Bodensee-Magazin«, das er vorher am Kiosk an der Uferpromenade erstanden hatte. Mal schauen, welche Angebote in der näheren Umgebung er noch nicht kannte und wohin man vielleicht mal an einem nicht ganz so schönen und sonnigen Tag einen lohnenswerten Ausflug unternehmen konnte. Der Rahmen war ja mittlerweile ganz schön weit gespannt: fast hundert Kilometer im Umkreis, da gab es sicher noch manches zu entdecken, während er das Seeufer und das unmittelbare Bodensee-Hinterland halt doch schon fast flächendeckend abgegrast hatte.

Jetzt begann die Sonne allmählich tiefer zu sinken und das gleißend-helle Licht, das diesen Tag so warm und strahlend gemacht hatte, ging allmählich in zarte Rottöne über. Es war ein Sonnenuntergang am Wasser wie aus dem Bilderbuch: die Sonne, die ihre letzten Strahlen nun glutrot an den mittlerweile von einigen Wolken strukturierten Himmel schickte, während sich auf dem Wasser ein kilo­meter­langer roter Teppich vom Ufer bis zur Sonne zu spannen schien. Eine Sicht, wie sie klarer nicht sein konnte: im Hintergrund die zum Greifen nahen Alpen, ein allmählich aufkommendes warmes Lüftchen, das den zahllosen Segelbooten draußen auf dem See ermöglichte, etwas schnellere Fahrt in Richtung Hafen aufzunehmen, ein orangefarbener Reflex am gegenüberliegenden Ufer bei der Mainau drüben, einige Sekunden später noch mal einer. Nein, halt, Horst setzte sich auf und blinzelte mit den Augen. Das konnte doch eigentlich gar nicht sein, oder doch? Das war kein Reflex, es war vielmehr das orangene Blinklicht der rings um das ganze Seeufer aufgestellten Sturmwarnleuchten. Horst zählte langsam mit: ungefähr alle anderthalb Sekunden ein Blitzlicht, das bedeutete Sturm­vor­warnung, also zunächst einmal eine Vorsichtsmeldung. Wären die Blitze im Abstand von weniger als einer Sekunde ausgesandt worden, hätten sie unmittelbare Sturmgefahr signalisiert, also die dringende Aufforderung an alle Boote auf dem See, sofort den nächsten Hafen anzusteuern. Auch die Kapitäne der Segelboote hatten die Warnlichter registriert – es war deutlich zu erkennen, wie die meisten von ihnen nun auch reagierten und schneller als ursprünglich geplant Kurs auf den Hafen und ihre Liegeplätze nahmen.

 

Eigentlich fast nicht vorstellbar, dass an diesem angenehm-milden Sommerabend von irgendwoher Sturm aufkommen sollte, doch Horst kannte »seinen« See in der Zwischenzeit gut genug, um zu wissen, dass Gewitter – gerade bei der momentan vorherrschenden Föhnwetterlage – von jetzt auf nachher praktisch wie aus heiterem Himmel von den Alpen herunter über den See jagen konnten, ohne dass man eine Viertelstunde zuvor als arglos auf dem Wasser dahinschippernder Segelbootslenker im Entferntesten an eine derart schnelle Änderung der Wetterverhältnisse geglaubt hätte. Aber genau diese tückische, sich blitzschnell ändernde Wetterlage war in der Vergangenheit schon so manchem Freizeitkapitän samt seinem Boot zum Verhängnis geworden, und nicht zuletzt aus je­-

nem Grund waren vor vielen Jahren schon die orangenen Sturm­warnleuchten rings um den gesamten See installiert worden.

»Na, was sagst du dazu? Würde man doch im Traum nicht für möglich halten, dass wir heute noch Sturm bekommen sollen!« Horst schreckte aus seinen Gedanken auf und blickte hoch. Er hatte vor lauter Sinnieren überhaupt nicht bemerkt, wie sich jemand seinem Tisch genähert hatte.

Um so verblüffter war er jetzt, nachdem er den vor ihm Stehenden erkannte. »Thomas! Was tust du denn da? Wie hast du mich denn gefunden?«

Thomas Grundler, ein sympathischer, leger gekleideter braun gebrannter Mann Anfang 40, lächelte leise. »Na – ich bitte dich! Wo muss man denn den Hotte schon suchen, wenn man ihn am Wohnwagen in Nußdorf nicht finden kann? Entweder im Ostbad – aber dazu war es meiner Meinung nach schon fast zu spät am Tag – oder aber im »Faulen Pelz« in Überlingen, wo er sich noch einen kleinen Absacker-Weißherbst gönnt! Andere Möglichkeiten sind um diese Uhrzeit bei diesem Wetter fast auszuschließen! Du siehst also, mein Lieber«, und nun zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht, »du bist ganz schön leicht auszurechnen mit deinen Gewohnheiten! Also gerate ja nie auf die andere Seite: Dich hätten wir nämlich unter Garantie blitzschnell geschnappt – wetten?!«

Ebenfalls lachend hob Horst abwehrend die Hände: »Hab ich auch gar nicht vor. Ich tauge, glaub ich, nicht so sonderlich gut zum Al Capone. Außerdem müsste ich dann ja Zigarren rauchen – wär nix für mich und meine Lunge! Aber komm«, er beugte sich vor und zog einladend einen Stuhl an den Tisch, »setz dich endlich hin! Ist ja eine tolle Überraschung, dass es doch noch geklappt hat mit uns beiden. Prima! Dann können wir ja doch noch einen draufmachen heute Abend!«

Thomas Grundler ließ sich bedächtig auf dem ihm angebotenen Stuhl nieder. Er warf den Kopf in den Nacken, streckte die Beine aus und ließ einen lang gezogenen Seufzer hören. »Brrr – tut das gut. Endlich mal ein bisschen Entspannung.« Er beugte sich vor und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf Horsts noch halb volles Weinglas. »Darf ich mal? Ich hab’s wirklich dringend nötig!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sich Thomas das Glas und nahm einen ausgiebigen Schluck von dem kühlen Weißherbst zu sich. »Ahhh – fantastisch! So schnell geht’s einem besser, wenn das richtige Getränk auf dem Tisch steht! Hallo!« Mit diesem Ruf drehte er sich in Richtung der Kellnerin, die gerade am Nebentisch bediente, und deutete mit dem Zeigefinger auf das Glas. »Noch zwei, bitte – vom selben!« Er setzte das Weinglas ab und rieb sich mit der einen Hand heftig den linken Unterarm, dann den Unterschenkel. »Verdammt, da juckt was furchtbar. Mir scheint, ich hab die Krätze! Da guck mal hin!«

In der Tat war der Arm, den Thomas gerade so heftig gerieben hatte, krebsrot geworden – eine ungesunde Farbe, die sich durch das Kratzen mit den Fingernägeln nun noch verstärkte.

Horst schüttelte den Kopf. »Dann lass doch die Krat­zerei sein und hol dir eine Salbe aus der Apotheke. Das ist sicher irgendeine Allergie, da hast du vielleicht was gegessen, das du nicht verträgst, und da machst du es mit Kratzen nur noch schlimmer. Es ist schließlich Sommer, da schwirren jede Menge Pollen durch die Luft, da ist man empfindlicher gegen irgendwelches Zeugs als im Winter!« Horst als jahrzehntelanger Heuschnupfenkandidat wusste haargenau, wovon er sprach. Gott sei Dank war die Heuschnupfensaison bei ihm für dieses Jahr aber vorüber: sie dauerte alljährlich – man konnte regelrecht die Uhr danach stellen – immer sechs Wochen, von Mitte Mai bis Ende Juni.

»Wahrscheinlich hast du recht«, nickte Thomas zustimmend. »Aber das ist grade erst gekommen, einfach so! Wird schon wieder verschwinden!« Sprach’s – und kratzte sich nun am Hinterkopf und danach intensiv am rechten Oberarm.

In Horst regte sich allmählich Unmut. »Mensch, hör bloß auf! Die Leute gucken schon! Das sieht ja aus, als ob du Flöhe hättest!«

Thomas verzog das Gesicht. »Du hast leicht reden, dich juckt’s ja nicht!«

»Und wie oft habt ihr alle über mich und meine Heu­schnupfenattacken gelästert und behauptet, das sei alles nur psychisch – ich solle mit Claudia zur Eheberatung oder so und schon würde der Schnupfen aufhören? Jetzt weißt du mal, wie das ist – von wegen psychisch!« Horst erinnerte sich an mehr als ein Beispiel, wo er am liebsten an die Decke gehüpft wäre, wenn die Kollegen auf irgendeinem Lehrgang im Sommer mal wieder über seine ständig laufende Nase gelacht und ihm hämisch grinsend den Gang zum Psychologen angeraten hatten.

Sein Gegenüber lächelte gequält. »Gar nicht mal so falsch mit der Psyche! Aber was ist denn nun mit dem Wein? Fräulein! Hallo!« Suchend blickte er sich um, bis er die Bedienung entdeckte. »Ja, genau! Denken Sie noch an unseren Weißherbst? Okay – wir sind nämlich grade am Verdursten!« In gespielter Verzweiflung die Augen rollend drehte er sich wieder zu Horst. »Ich sag’s dir, die Bedienungen am See sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren! Lauter Ausländer und von nichts eine Ahnung. Nur wenn’s ums Trinkgeld geht, da sind sie fit wie ein Turnschuh – fürchterlich!«