Kornblumenjahre

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

12. Kapitel

Überlingen, Bodensee, 23. Januar 1923

Raphael riss verzweifelt die Haustür auf und sah sich gehetzt in der Dunkelheit um. Er konnte nichts erkennen. »Hilfe!«, brüllte er aus Leibeskräften. »Hilfe, meine Mutter ist getötet worden!«

Nichts regte sich in der finsteren Nacht, und die Gestalten, die sich hinter Büschen verbargen, gaben sich Mühe, nicht gehört zu werden. Sie hielten erschrocken den Atem an. Was schrie der Junge da? Sophie tot? Das hatten sie nicht gewollt, sie hatten sie doch nur warnen wollen!

Raphael raste durch den Garten und die Straße hinunter. Sein Ziel war das Haus von Doktor Schilling. Wenn jemand seine Mutter noch retten konnte, dann er.

Der Junge war jetzt erstaunlich klar im Kopf und wusste, was er zu tun hatte. Getrieben wurde er von der Angst, dass es zu lange gedauert haben könnte, bis er sich von seinem Schreck erholt hatte, und dass er nun schuld wäre, wenn seine Mutter es nicht schaffte.

Nachdem der Stein sie getroffen hatte, hatte er zunächst geschrien wie am Spieß und sich dann verzweifelt weinend über sie geworfen. »Mutter!«, hatte er immer wieder gerufen. »Mutter!«

Er wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis er auf die Idee gekommen war, Hilfe zu holen. Denn er hatte Angst gehabt, sie alleine zu lassen. Andererseits erleichterte ihn der Gedanke, die drohende Stille des Hauses zu verlassen. Die lastende Verantwortung einem anderen zu übergeben.

Als Raphael verschwunden war, kamen die zusammengekauerten Gestalten vor dem Haus zusammen und tuschelten aufgeregt. »Dass der Stein sie getroffen hat«, jammerte Elsa Kleinschmitt, »war ja nun wirklich nicht abzusehen. Was muss sie denn genau da stehen, wo er hinfliegt!«

»Ob der Junge recht hat, und seine Mutter wirklich tot ist?«, fragte Dorothea Haberstett ängstlich.

»Unsinn, wahrscheinlich ist sie nur ohnmächtig«, mischte sich Trudchen, die Frau des Bäckers, ein.

»Aber was sollen wir denn nun tun?«, fragte Dorothea verzweifelt. »Wenn sie wirklich stirbt, dann haben Sie sie umgebracht.« Sie blickte Elsa Kleinschmitt vorwurfsvoll an.

»Ich?«, fragte die empört. »Nun erlauben Sie mal, wir waren alle daran beteiligt.«

»Aber Sie haben den Stein geschmissen«, beharrte Dorothea.

»Ja«, stimmte Trudchen zu. »Außerdem sind Sie ja erst auf die Idee gekommen, wir sollten Sophie einen Denkzettel verpassen. Ohne Sie hätten wir das Ganze doch nicht einmal angefangen.«

»So«, schnaubte Elsa, »feige seid ihr auch noch. Jetzt mir die ganze Schuld in die Schuhe schieben! Aber als ich euch erzählt habe, dass Raphaels Vater Franzose ist, da kannte eure Empörung keine Grenzen. Ihr wart es, die …«

»Woher wissen Sie das denn überhaupt so genau?«, fragte Dorothea Haberstett. »Ich glaube kaum, dass Sophie ausgerechnet Sie ins Vertrauen gezogen hat.«

»Ich weiß es aus absolut sicherer Quelle. Sozusagen aus erster Hand. Ich …«

»Was ist denn hier los?«, rief eine tiefe Stimme von der Gartentür her. »Wer ist da?«

Die drei Frauen zuckten zusammen.

»Der Schuldirektor«, flüsterte Dorothea Haberstett entsetzt, »er ist zurück.«

»Schnell weg!«, zischte Elsa Kleinschmitt. »Er darf uns nicht erkennen. Durch das hintere Gartentor!«

Sie rafften ihre Röcke und rannten, so schnell sie konnten, davon.

»Dort hinten!«, rief Sebastian. Johanna und er waren zeitgleich mit dem alten Schuldirektor in Überlingen angekommen. Sie hatten sich an der Einfahrt getroffen. Sebastian deutete in die Dunkelheit. »Dort hinten bewegt sich etwas!« Er rannte los. Friedrich Seiler folgte ihm.

»Ich sehe nach, ob drinnen alles in Ordnung ist«, rief Johanna ihnen nach. Im Haus brannten alle Lichter und die Eingangstür stand sperrangelweit offen.

Johanna wurde immer mulmiger zumute und eine kalte Angst packte sie. War jemand eingebrochen? Was, wenn noch einer der Einbrecher im Haus war? Und was – ihr stockte der Atem – was war mit Sophie und Raphael?

Sie stürzte hinein und trug erst Robert und dann Susanne hastig ins Kinderzimmer. Sie wollte verhindern, dass sie aufwachten. Dann eilte sie, aufs Äußerste beunruhigt, wieder nach unten, wobei sie versuchte, sich so leise wie möglich zu verhalten. Sie stand eine Weile regungslos im Flur und lauschte. Es war totenstill.

»Sophie?«, rief sie ängstlich. »Raphael?«

Keine Antwort.

Johanna atmete erleichtert auf, als sie kurze Zeit später Sebastian und Friedrich auf die Haustür zukommen sah.

»Habt ihr sie noch erwischt?«, fragte sie.

»Nein.« Sebastian ließ sich außer Atem auf einem Stuhl nieder. »Sie waren schon weg. Ist hier alles in Ordnung?«

»Nein«, erwiderte Johanna. »Die Tür stand offen und ich kann Sophie und Raphael nirgends finden.«

»Hast du schon im Wohnzimmer nachgesehen?«, wollte Friedrich wissen.

Johanna schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht zugeben, dass sie sich nicht getraut hatte. »Nein«, sagte sie, »das wollte ich gerade tun.«

Sie ging auf die Tür zu, und ihr Herz hämmerte heftig, als sie bemerkte, dass sie nur angelehnt war. Das Wohnzimmer war beheizt und die Tür zum Flur aufgrund des Kohlemangels immer geschlossen. Das war eine eiserne Regel, an die sich selbst die Kinder hielten. Ausnahmslos.

Johanna atmete tief ein, schob die Tür ganz auf – und stieß einen gellenden Schrei aus.

Sophie lag bewusstlos vor dem Sofa auf dem Boden, um sie herum war alles voller Blut.

»Sophie!«, Johanna vergaß ihre Angst und sank neben ihr nieder. »Meine Güte, Sophie, was ist denn geschehen?«

Auch Friedrich kniete sich neben seine Tochter und suchte nach ihrem Puls.

»Was ist mit ihr?«, fragte Sebastian von der Tür her.

»Sie ist bewusstlos, glaube ich«, erwiderte Johanna.

In diesem Moment entdeckte Sebastian den Stein, der, mit Papier umwickelt, einige Meter von Sophie entfernt auf dem Fußboden lag. Er hob ihn auf, löste das Papier und las.

»Das ist ja unglaublich!«, schnaubte er dann.

»Was steht denn da drauf?«, fragte Johanna, ohne den Blick von Sophie zu wenden.

»Lies selbst, ich gehe den Arzt holen.« Sebastian gab Johanna den Zettel und verschwand.

In der Tür begegnete er Raphael und Doktor Schilling.

»Ein Glück, dass Sie kommen, Herr Dr. Schilling!«, rief Sebastian erleichtert. »Gerade wollte ich Sie holen.«

»Was ist denn geschehen?«, fragte der Arzt ratlos. »Der Junge sagt immer nur, dass seine Mutter tot sei! Aber das kann doch nicht sein!«

Sebastian schüttelte den Kopf und zog Raphael an sich. Schutzsuchend schmiegte der Junge sich an ihn. »Tot ist Sophie Gott sei Dank nicht. Aber was geschehen ist, weiß ich auch nicht. Wir sind eben erst nach Hause gekommen. Sehen Sie selbst.«

Er ließ den Arzt an sich vorbei ins Zimmer treten. Dann streichelte er Raphael das verzweifelte kleine Gesicht. »Keine Angst, mein Junge«, sagte er leise, »deine Mutter ist nicht tot. Sie ist nur ohnmächtig.«

»Doch, sie ist tot, ich weiß es«, schluchzte Raphael verstört.

»Nein, ich verspreche es dir.«

Raphael sah ihn zweifelnd an. »Sagst du das nicht nur, um mich zu beruhigen?«

»Du weißt, dass ich dich nie anlügen würde«, erwiderte er und sah ihm in die Augen.

»Darf ich sie sehen?«

Sebastian trat einen Schritt zur Seite, um Raphael an sich vorbeigehen zu lassen, und legte ihm die Hand auf die Schulter, während der Junge auf seine Mutter starrte.

Dr. Schilling untersuchte sie. »Sie ist bewusstlos«, stellte er fest. »Wohl durch einen Schlag. Hier ist ja auch die Wunde.« Er verarztete Sophies blutende Schläfe. »Das Blut ist nicht schlimm«, sagte er beruhigend zu Raphael. »Es ist nur eine Platzwunde. Mehr Sorgen macht mir der Schlag, den sie abbekommen haben muss.«

»Das hier lag ein paar Meter von ihr entfernt.« Sebastian hob den Stein auf und reichte ihn dem Arzt.

Dr. Schilling nickte schwer, sagte dann aber mit einem warnenden Blick auf Raphael: »Wir unterhalten uns später darüber. Aber das könnte durchaus die Wunde verursacht haben.«

Er wandte sich an Raphael, der noch immer verschreckt auf seine Mutter starrte. »Das hast du gut gemacht, mein Junge«, lobte er. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Deiner Mutter ist nichts Schlimmes passiert, sie wird bald aufwachen.«

»Darf ich solange bei ihr sein?«

»Ich fände es besser, wenn du dich etwas ausruhen würdest. Schließlich ist es schon sehr spät und du hast viel durchgemacht heute Abend.«

»Aber Mutter …«

»Ich werde bei ihr bleiben, und wenn sie aufwacht, werde ich dich rufen«, versprach der Großvater.

Raphael zögerte. »Versprochen?«, fragte er schließlich.

»Versprochen«, sagte der alte Schuldirektor.

»Soll ich mit dir nach oben gehen?«, bot Johanna an.

Raphael schüttelte den Kopf. »Nein. Ich gehe doch alleine ins Bett, seit ich zur Schule gehe.«

Johanna lächelte. »Aber wenn du etwas brauchst, dann rufst du uns, ja?«

»Ja.«

»Armer Junge«, brummte Friedrich, als Raphael gegangen war. »Das war eine schreckliche Nacht für ihn.«

In diesem Augenblick schlug Sophie die Augen auf und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf sie.

»Was ist geschehen?«, flüsterte Sophie.

»Pst«, machte Johanna sanft. »Nicht reden, das strengt dich noch zu sehr an.«

»Ich habe Durst.«

Johanna sah Dr. Schilling fragend an. »Darf sie etwas trinken?«

»Sie können ihr mit einem Waschlappen die Lippen benetzen.«

Johanna nickte und stand auf, um den Waschlappen zu holen.

Dr. Schilling setzte sich neben Sophie. »Wie geht es Ihnen?«

 

»Mein Kopf …«

»Ist Ihnen übel?«

»Ich glaube schon.«

»Sie haben wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Sie müssen in der nächsten Zeit das Bett hüten.«

»Aber was ist denn passiert?«

»Erinnern Sie sich an gar nichts?«

Sophie schien angestrengt nachzudenken.

»Zwingen Sie die Erinnerung nicht herbei«, riet Dr. Schilling, »Sie brauchen Ruhe.«

»Doch, ich erinnere mich. Es war unheimlich. Ich hörte Geräusche. Dann klirrte das Fenster … Raphael …«, sie fuhr auf und sank gleich darauf mit einem Stöhnen wieder zurück auf den Boden. »Was ist mit meinem Sohn?«

»Raphael schläft. Es geht ihm gut«, versicherte Sebastian.

»Gott sei Dank!« Sophie atmete auf. »Was geschah, nachdem das Fenster zerbrochen ist?«, fragte sie. »Ich erinnere mich nicht.«

»Das wissen wir auch nicht«, sagte Dr. Schilling und warf den anderen einen warnenden Blick zu.

»Hat Raphael denn nichts gesagt?«

In diesem Moment kam Johanna mit dem Waschlappen zurück und benetzte Sophie die Lippen.

Sophie leckte das Wasser gierig ab.

»Hat Raphael nichts erzählt?«, wiederholte Sophie.

»Nein.«

»Nun ja, er schlief auch, als … Waren es Einbrecher?«

»Wir wissen es wirklich nicht, Kind«, sagte Friedrich fest.

»Wir werden Sie jetzt hinauf in Ihr Zimmer tragen, Sophie«, mischte sich der Arzt ins Gespräch. »Sie brauchen dringend Ruhe.«

»Aber …«, protestierte Sophie.

»Keine Widerrede. Morgen ist noch genug Zeit, um über alles zu reden.«

Sophie lächelte schwach. »Also gut.«

»Wenn ich darf, schicke ich Raphael vorher noch mal zu dir«, mischte Sebastian sich ein. »Wir haben ihm versprochen, ihm gleich Bescheid zu sagen, wenn du aufwachst.«

»Natürlich«, erwiderte Sophie lächelnd.

Erst als die Männer mit Sophie das Zimmer verlassen hatten, um sie nach oben zu tragen, kam Johanna dazu, den Zettel zu lesen, mit dem der Stein umwickelt gewesen war.

Sie setzte sich aufs Sofa und strich ihn glatt.

Er war in Blockschrift beschrieben, und der Schreiber hatte sich offensichtlich große Mühe gegeben, seine Handschrift zu verstellen.

Sophie, wir wissen, daß Sie sich vor dem Krieg mit einem dieser Franzosen eingelassen haben und daß Raphael ein französischer Bastard ist.

Wir wollen Sie warnen, Sophie. Wir betrachten das als Landesverrat. Sollten wir Sie erwischen, daß Sie wieder mit einem dieser Männer anbandeln, wird es Ihnen und Ihrem Sohn schlecht ergehen.

Johanna holte tief Luft, um das kalte Grauen zu vertreiben, das sich ihrer beim Lesen bemächtigt hatte. Ein anonymer Brief, wie feige! Sophie durfte nichts davon erfahren und Raphael auch nicht. Nicht jetzt. Sebastian kam ins Zimmer und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du hast ihn also gelesen.«

»Ja«, sagte Johanna, ohne aufzusehen. »Wie scheußlich. Was sollen wir nur tun?«

Sebastian setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. Eine selten vertraute Geste, denn sie waren sich fremd geworden in den letzten Jahren. »Ach, Johanna«, sagte er verzweifelt. »Ich weiß es nicht.«

Johanna genoss es, endlich einmal wieder in Sebastians Armen zu liegen. Es war so lange her! Gleichzeitig spürte sie eine seltsame Befangenheit ihrem Mann gegenüber. Als sei er ein Fremder. »Meinst du, wir sollten zur Polizei gehen?«, fragte sie und löste sich leicht von ihm.

»Auf gar keinen Fall. Das würde die beiden nur noch mehr in Gefahr bringen. Niemand weiter darf erfahren, dass Raphael Halbfranzose ist.«

»Was sollen wir Sophie denn sagen? Sie hat doch mitbekommen, dass das ein Überfall war.«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Wir könnten ihr die halbe Wahrheit sagen. Dass ein Stein durchs Fenster flog und sie am Kopf traf. Von dem Brief braucht sie vorerst nichts zu wissen.«

»Ja, das wäre eine Möglichkeit«, erwiderte Sebastian nachdenklich. »Aber sie ist nicht dumm, und wenn sie wieder ganz gesund ist, wird sie anfangen, sich zu wundern. Außerdem …«

»Ja?«

»Nun, ich mache mir Sorgen, dass das hier vielleicht nur der Anfang war. Der Franzosenhass wächst immer mehr, und wenn irgendjemand weiß, dass Raphaels Vater Franzose ist, dann werden es bald noch mehr wissen.«

»Du meinst, dass Sophie und Raphael ernsthaft in Gefahr sind?«, fragte Johanna erschrocken.

»Ich fürchte, schon.«

»Mein Gott, Sebastian, was können wir tun?«

»Ich hielte es für das Beste, wenn sie für eine Weile untertauchen.«

»Sie sollen von hier fortgehen?« Johanna sah ihrem Mann erschrocken in die Augen. Der Gedanke, Sophie, ihre inzwischen einzige Vertraute, nicht mehr täglich um sich zu haben, bereitete ihr regelrecht körperliche Schmerzen.

»Das wäre am sichersten.«

»Aber … wohin?«

»Ich weiß es nicht, Johanna.« Sebastian strich ihr nachdenklich über das dunkle Haar. Wieder eine seltsam vertraute Geste aus der Vergangenheit. »Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht hat sie selbst eine Idee. Du musst mit ihr reden, sobald sie sich erholt hat.«

»Ja«, versprach Johanna leise. »Ja, das werde ich tun.«

13. Kapitel

München, Bayern, 23. Januar 1923

Das Altstadthaus, in dem Lisbeths Eltern lebten, lag in einer Seitenstraße hinter dem Stachus. Marlene war immer noch eingeschüchtert, aber auch beeindruckt, als sie darauf zusteuerten. Hochherrschaftlich erhob es sich über der Straße, es gab einen kleinen Vorgarten, der durch ein eisernes Gitter vom Bürgersteig abgetrennt war. Natürlich blühten zu dieser kalten Jahreszeit keine Blumen darin, aber dennoch wirkte er malerisch und romantisch. Durch diesen Vorgarten führte Lisbeth die Freundin, öffnete die geschnitzte Eingangstür und ging Marlene voran in den ersten Stock, die Beletage. Der Bursche folgte schnaufend mit dem Gepäck.

Ein Dienstmädchen öffnete. Lisbeth zeigte Marlene gleich ihr Zimmer, und wieder staunte Marlene: Es war ganz in Hellblau gehalten. Auf dem Bett lag ein hellblau geblümter Überwurf, hellblaue Samtvorhänge umrahmten das Fenster, ein Sessel, der mit dem gleichen Stoff bezogen war, stand in der Ecke. Das ganze Zimmer strahlte Frische, Wohlstand und Behaglichkeit aus. Marlene war selbst ein Kind aus begütertem Hause gewesen, aber der Reichtum war lang schon verblichen. Das Haus ihrer Eltern am Konstanzer Ufer war inzwischen fast heruntergekommen, es wirkte immer ein wenig trist und grau. Da fühlte sich Marlene im Überlinger Haus ihrer Schwester Johanna wesentlich wohler, auch wenn das lang nicht so prachtvoll war wie das Konstanzer Domizil der Familie. Ihr fiel auf, dass sie gar nicht wusste, was Lisbeths Vater beruflich machte – und es hatte sie auch nie interessiert. Angesichts all dieser Pracht in diesen schwierigen Zeiten fragte sie sich aber dennoch – ­­wenn auch nur flüchtig –, wie Lisbeths Vater seiner Familie diesen Luxus ermöglichen konnte.

»Zieh dich schnell um und lass uns mit Mama etwas essen«, unterbrach Lisbeth Marlenes Gedanken und klatschte in die Hände. »Umso schneller können wir los.«

»Los?« Marlene wandte sich erstaunt zu ihrer Freundin um.

»Ach, das hab ich dir ja noch gar nicht erzählt vor lauter Aufregung«, plapperte Lisbeth. »Wir treffen meine Freunde, Harald wird auch da sein, dann lernst du ihn endlich kennen! Ich kann es kaum mehr erwarten.« Ihre Wangen waren gerötet, das blonde aufgesteckte Haar leicht zerzaust. Man sah Lisbeth die Aufregung deutlich an.

»Oh.« Marlene war etwas enttäuscht. Zwar brannte sie darauf, dem Verlobten ihrer Freundin vorgestellt zu werden, aber sie war stets etwas eifersüchtig, dass Lisbeth, die einst ihre beste, ihre einzige Freundin gewesen war, nun ein neues Leben hatte, zu dem sie, Marlene, nicht gehörte. Mit Freunden, die sie nicht kannte. Außerdem fühlte sie sich unwohl inmitten dieser Münchner, die alle so schick wirkten im Vergleich zu ihr. So schick und so stabil und so fesch. Fieberhaft ging Marlene im Geiste die Garderobe durch, die sie dabeihatte – um festzustellen, was sie eigentlich schon wusste: dass nichts Passendes dabei war. Egal, es würde schon irgendwie gehen.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. Auf keinen Fall sollte Lisbeth merken, was in ihr vorging. Und niemals würde sie sich erniedrigen und die Freundin um etwas Schickes zum Anziehen bitten. »Das ist ja wunderbar«, sagte sie deshalb nur. »Ich freue mich darauf.«

Sie wusste noch nicht, dass der Abend ihr Leben vollständig verändern würde.

14. Kapitel

90 Jahre später

Überlingen, Bodensee, August 2013

Nachdem Franziska ihre Augen für immer geschlossen hatte, war es minutenlang still im Zimmer. »Jetzt kam sie gar nicht mehr dazu, dir zu sagen, warum sie dich sehen wollte«, sagte Mia schließlich zu Zita. Es war das Einzige, was ihr einfiel, ansonsten herrschte in ihrem Kopf gähnende Leere, sie war noch nicht in der Lage, auch nur annähernd zu begreifen, was die Großtante ihnen da soeben eröffnet hatte.

Bevor Zita antworten konnte, ertönte ein markerschütternder Schrei. Erschrocken fuhren Mia und Zita zusammen. Melissa hatte den Schrei ausgestoßen, und nun starrte sie hasserfüllt auf die Tote. »Das hat sie mit Absicht getan!«, schrie sie, während ihr Tränen der Wut über die Wangen liefen. »Mit voller Absicht, aus purer Bosheit. Das ist so typisch!«

Mia hatte ihre sonst immer eher zurückhaltende und stille Mutter noch nie so aufgebracht erlebt.

»Mutter!« Mia versuchte, sie zu umarmen, aber Melissa riss sich los. Hilflos und mit hängenden Armen stand Mia vor ihr, als sie sagte: »Mutter, kein Mensch kann aus purer Bosheit sterben.«

»Sie schon«, beharrte Melissa.

»Mutter«, wiederholte Mia.

»Mutter«, äffte Melissa sie nach, warf die Hände in die Luft und brüllte: »Mutter, Mutter, Mutter!« Jedes »Mutter« kam ein bisschen lauter, ein bisschen zorniger.

Für Mia war es, als wolle die Mutter sie verhöhnen, und sie wandte sich mit Tränen in den Augen verletzt ab. Zita sah es und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Sie meint es nicht so«, sagte sie leise. »Ihre Welt ist völlig aus den Fugen geraten. Stell dir vor, du würdest plötzlich erfahren, dass deine Mutter eigentlich gar nicht deine Mutter ist.«

»Mutter, Mutter, Mutter«, tobte Melissa weiter. »Ich habe keine. Versteht ihr? Die Frau, die ich mein Leben lang für meine Mutter gehalten und innig geliebt habe, war gar nicht meine Mutter.« Ihre Stimme klang schrill, sie ließ sich auf dem harten Holzstuhl am Fenster nieder und barg das Gesicht in den Händen.

»Geh zu ihr.« Zita gab Mia einen leisen Schubs. »Sie braucht dich jetzt.«

Zögernd ging Mia auf ihre Mutter zu und legte ihr zaghaft eine Hand auf die Schulter. Melissa blickte auf, mit verquollenen Augen und einem Blick, der ganz leer war vor Unsicherheit und Verlorenheit. Langsam legte sie ihre Hand auf die ihrer Tochter. »Es tut mir leid, dass ich dich so angeschrien habe«, sagte sie leise.

»Schon gut«, erwiderte Mia. »Ich kann ja verstehen, dass dich das alles sehr mitnimmt. Mich ja auch.«

»Vielleicht hat sie ja gelogen«, mischte Zita sich ins Gespräch. »Vielleicht war das das giftige Erbe, das sie euch hinterlassen wollte. Dass ihr rätseln und euch quälen müsst. Ich … kannte sie nicht gut, muss aber leider sagen, dass ich das durchaus für möglich halte.«

»Kein Wunder, immerhin hat sie versucht, dich umzubringen«, murmelte Mia und starrte unverwandt auf ihre tote Großtante.

»Ich glaube, sie hat die Wahrheit gesagt«, erklärte Melissa.

»Warum?«, fragte Mia.

»Ich weiß nicht, es ist so ein unbestimmtes Gefühl. Ich habe mich schon immer gewundert, dass ich so viel jünger bin als meine Schwester, und die Antwort von … Mutter …, wenn ich sie danach fragte, war stets irgendwie ausweichend.«

»Du hast neulich gesagt, dass deine Schwester im Dritten Reich verschwunden ist. Und dass deine Tante Franziska irgendwas damit zu tun hat«, begann Zita nachdenklich.

»Ja«, sagte Melissa. »Ja, so hat man mir das erzählt.«

»Das ist merkwürdig«, fuhr Zita fort. »Ich weiß nicht, warum mir das erst jetzt wieder einfällt, aber Philippe hat mir erzählt, dass seine Urgroßmutter Sophie sich die Schuld an deinem und Johannas Schicksal gibt. Er hatte eigentlich vor, mit dir darüber zu sprechen, aber dann haben die Ereignisse sich überschlagen.«

»An meinem Schicksal?«, fragte Melissa erstaunt. »Was für ein Schicksal? Mir ist nie etwas wirklich Schlimmes widerfahren – naja, bis auf … die Tatsache, dass ich eine Mutter hatte, die anscheinend nicht meine Mutter war.«

 

»Das muss irgendwie zusammenhängen!«, rief Mia aufgeregt. »Und Großtante Franziska hat ja auch gesagt, dass Raphael noch etwas wissen könnte.«

»Das ist Philippes Opa«, ergänzte Zita. »Ich glaube auch, der Schlüssel liegt irgendwo in Frankreich. Wir müssen unbedingt mit Philippe sprechen.«

»Und die Kisten mit den Briefen und den Zetteln aus dem Notizbuch zu Ende durchsehen«, fuhr Mia fort. »Da gibt es noch ganz viel zu entdecken.« Sie machte eine kurze Pause, runzelte die Stirn und fuhr dann fort: »Was ist eigentlich mit diesem Onkel Siegfried? Tante Franziska hat gesagt, dass Sophie und Siegfrieds Frau ihn getötet haben? Warum, Mutter?«

Melissa schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe, offen gestanden, keine Ahnung.«

»Aber sagtest du nicht, du würdest dich an Onkel Siegfried erinnern? Dass er mit Tante Luise auf einem Gut in Ostpreußen lebte und nur ein Bein hatte?«

Melissa runzelte angestrengt die Stirn. »Ich habe keine lebendige Erinnerung an ihn«, sagte sie langsam.

»Wie meinst du das?«, wollte Mia wissen.

»Es ist ganz komisch, ich weiß ganz genau, dass es diesen Onkel Siegfried gab und dass er nur ein Bein hatte. Aber ich … erinnere mich nicht an ihn. Es ist ein bisschen so, als würde ich an die Handlung aus einem Buch denken.«

»Vielleicht hast du ihn ja nie wirklich kennengelernt, sondern immer nur von ihm erzählt bekommen«, vermutete Mia.

»Ja«, sagte Melissa nachdenklich. »Ja, das ist möglich. Es ist manchmal schon merkwürdig mit den Erinnerungen.«

»Ich glaube«, mischte sich Zita ein, »dass wir da noch ganz viel zu klären haben. Aber jetzt sollten wir erst einmal den Arzt über den Tod informieren.«

»Das stimmt«, pflichtete Mia ihr bei. »Es ist ein wenig skurril, dass wir all das am Totenbett der Großtante diskutieren. Aber die ganze Situation ist einfach so verworren. Und so leid es mir tut, ich kann nicht um sie trauern.«

»Nein«, sagte Melissa, »ich auch nicht.«