Kornblumenjahre

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3. Kapitel

Überlingen, Bodensee, 12. Januar 1923

»Ach, Sophie!« Seufzend legte Johanna den Kopf an die Schulter ihrer Tante, die ihr viel mehr Freundin als Tante war, vielleicht auch, weil Sophie nur wenige Jahre älter war als sie selbst. »Ich langweile mich. Ich schäme mich dafür, aber ich langweile mich ganz furchtbar.«

Sophie strich Johanna über das dunkle Haar. Beide Frauen saßen dick eingepackt nebeneinander auf der Bank in der Küche, auf der sie schon so oft ihre Sorgen und Nöte miteinander geteilt hatten.

»Aber du musst dich doch nicht schämen, meine Liebe«, sagte Sophie sanft. »Du hast Schwangersein schon immer als unerträglichen Zustand empfunden, das war bei Susanne und Robert auch so.« Sie deutete lächelnd auf Johannas gewölbten Leib. »Außerdem ist es ganz normal, dass du dich langweilst, nach allem, was du im Krieg erlebt hast. Wer kann schon von sich sagen, von den Russen gefangen genommen worden und schließlich aus Russland geflohen zu sein? Und an der Front warst du auch noch, im Lazarett. Kein Wunder, dass dir das Leben hier furchtbar eintönig erscheint. Es ist ja auch trostlos.«

Sie umfasste den Raum mit einer Handbewegung. »Was haben wir denn? Jahrelanger Krieg, jahrelanges Sterben – und was hat es uns gebracht? Nichts als Verzicht und Entbehrungen. Es ist kalt, wir haben nichts zu essen, wir haben keine Hoffnung und alle hassen die Franzosen.«

Sophie hatte sich regelrecht in Rage geredet und schluchzte nun trocken auf.

»Sophie!« Erschrocken zog Johanna die Freundin an sich. »Der Franzosenhass macht dir zu schaffen, nicht wahr? Es geht dir gar nicht um all die Entbehrungen, die wir hinnehmen müssen.«

Sophie nickte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen, verbarg sie ihr Gesicht schutzsuchend an Johannas Schulter.

»Du hoffst immer noch, ihn wiederzufinden?«

Wieder nickte Sophie. Sie hatte wenige Wochen vor Ausbruch des Krieges einen französischen Journalisten kennengelernt, der über den aufstrebenden Grafen Zeppelin berichten sollte und deshalb in Friedrichshafen weilte. Die beiden hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt und schnell beschlossen zu heiraten. Doch dann wurde der österreichische Thronfolger in Sarajewo ermordet, und die ganze Welt veränderte sich. In der Verzweiflung des Abschieds hatten Sophie und Pierre miteinander geschlafen, Raphael, Sophies heute siebenjähriger Sohn, war gezeugt worden, dann musste Pierre abreisen, und Sophie hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Sie hatte sich als Lazarettschwester an die Westfront gemeldet, um ihm nahe zu sein, wenn er auch auf der anderen Seite kämpfte und nun plötzlich Feind war. Nach dem Krieg wartete sie Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr darauf, dass er käme, um sie und seinen Sohn, von dem er freilich nichts wusste, zu holen. Doch Pierre kam nicht. Und als Sophie nach Frankreich fuhr um ihn zu suchen, fand sie ihn nicht. Sie wurde immer trauriger, dann wütend, dann verbittert, schließlich siegte die Angst. Die Angst um den Menschen, den sie mehr liebte als ihr Leben. Dass er eine andere Frau geheiratet und sie vergessen haben könnte, konnte, wollte sie sich nicht vorstellen. Die Alternative aber war noch schlimmer: Sophie glaubte inzwischen fest, dass Pierre gefallen war und Raphael keinen Vater mehr hatte, Halbwaise war. Dennoch: Jetzt, wo die Franzosen im Ruhrgebiet einmarschierten, wuchs die Hoffnung, dass er vielleicht doch noch am Leben sein könnte. Sie wagte den Gedanken eigentlich gar nicht zu denken, verbot ihn sich, doch er ließ sich nicht beiseiteschieben. Und noch etwas quälte sie: der Franzosenhass. Auch Raphael hatte das eine oder andere Mal schon einen franzosenfeindlichen Satz fallen lassen, und Sophie hatte an sich halten müssen, um ihren ahnungslosen Sohn nicht anzuschreien. So hatte sie die Kommentare ignoriert, denn auch wenn sie ihn nur sanft zurechtgewiesen hätte und Raphael hätte in der Schule erwähnt, dass seine Mutter franzosenfeindliche Kommentare nicht dulde, wäre das gefährlich gewesen. Franzosenhass gehörte zum guten Ton in diesen Tagen, vor allem, seit die Feinde aus dem Westen das Ruhrgebiet besetzt hatten, um die Deutschen zur Einhaltung der Reparationszahlungen zu zwingen.

»Irgendwann wirst du es Raphael sagen müssen«, unterbrach Johanna ihre Gedanken.

»Das kann ich nicht«, wehrte Sophie erschrocken ab. »Wie sollte er damit klarkommen? Jetzt, wo alle Welt die Franzosen hasst?«

»Das wird sich auch wieder ändern«, versuchte Johanna zu beruhigen.

Sophie schloss ihre Hand fest um das winzige silberne Notizbüchlein, in dem ein Foto Pierres steckte, dem sie ihre intimsten Gedanken anvertraute und das sie an einem hellblauen Seidenband stets um den Hals trug. »Glaubst du wirklich?«

»Aber natürlich. Denk doch nur daran, wie oft die Welt sich allein in den letzten zehn Jahren verändert hat.«

»Da hast du natürlich recht.« Ein Hauch von Hoffnung glomm in Sophies Augen. Doch sie ahnte nicht, wie ex­trem ihr Leben und auch das von Raphael, wie extrem ihrer aller Leben sich noch verändern würde. Sie hatten schon so viel hinter sich. Und noch so viel vor sich.

4. Kapitel

Essen, Ruhrgebiet, 12. Januar 1923

»Ich werde dort nicht hingehen.« Siegfried ließ wieder etwas von seiner alten Kraft und seinem alten Feuer erkennen, als er in der kleinen, düsteren Wohnung, die er mit Luise bewohnte, auf den Tisch hieb und ihr seine Entscheidung mitteilte. »Ich werde dort genauso wenig erscheinen wie unsere Direktoren!« Leicht hob er das Kinn, und Luise sah plötzlich wieder den Mann vor sich, in den sie sich einst verliebt hatte. Sie fühlte, dass ihr Herz unwillkürlich schneller schlug, als sie die Woge seiner Entrüstung einatmete. Als sie wieder sein Feuer spürte und sein Leuchten. Schüchtern und doch kraftvoll wie ein Schneeglöckchen durch hartgefrorenen Boden bohrte sich die Hoffnung durch den Winter ihres Gemüts. Es war der 12. Januar 1923, ein ausnehmend kalter Tag. Die französischen Behörden hatten die Direktoren der Krupp-, Stinnes- und Thyssenwerke zu einer gemeinsamen Konferenz eingeladen, an der von deutscher Seite allerdings niemand teilnahm. Auch die Arbeiter dachten nicht daran, den Franzosen ihre Mitarbeit zuzusagen oder ihnen gar die Informationen zu geben, auf die sie hofften.

»Sie wollen, dass wir ihnen Auskunft geben.« Siegfried spie auf den Boden, und Luise, so sehr sie sich über seinen wiedererwachten Kampfgeist freute, zuckte angesichts dieser groben Geste zusammen. Früher war er beides gewesen: mutiger Kämpfer und Kavalier. Jetzt war er ein Kämpfer mit verrohten Gesten, aber wenigstens, dachte Luise, kämpft er wieder und badet nicht mehr nur in Selbstmitleid.

Siegfried hielt Wort. Und er hielt Stand und wich keinen Deut von seinem Vorhaben, seiner Haltung und seiner Überzeugung ab. Auch nicht, als er nach der Mittagspause auf dem Weg zur Arbeit die Krupp-Statue auf dem Marktplatz passierte und drei Männer aus dem französischen Panzer sprangen, der dort stationiert war. Groß, drohend und breit kamen sie dem humpelnden Mann entgegen. Einer zog eine Peitsche hervor und hieb damit genau auf den Stumpf. Siegfried erblasste vor Schmerz und Wut, aber er verzog keine Miene.

»Einem Mitglied der Besatzungsmacht haben Sie Platz zu machen und zu grüßen!«, bellte der französische Offizier. »Haben Sie mich verstanden?«

Siegfried hob den Blick, starrte dem Mann trotzig in die Augen und spuckte aus, wie er das schon in seiner Küche getan hatte.

Plötzlich wurde er von hinten gepackt und zu Boden geworfen. Der Offizier trat mit dem Stiefel nach ihm und schlug ihm mit der Peitsche ins Gesicht. Die Stelle brannte, aber noch heißer brannte die Scham, die in Siegfried emporstieg.

»Der Besatzungsmacht haben Sie sich zu beugen und den Befehlen Folge zu leisten!«, brüllte der Offizier mit zornrotem Gesicht.

Siegfried antwortete nicht. Auch wenn er vor Angst zitterte und einen neuen Schlag mit der Peitsche fürchtete, blieb sein Stolz doch ungebrochen.

Der Offizier trat ihm mit aller Gewalt in die Nieren und er krümmte sich vor Schmerz.

»Sie sind verhaftet!«, bellte der Franzose. »Man wird Ihnen schon noch Manieren beibringen.«

Er drehte Siegfried den Arm auf den Rücken, zog ihn zu sich herauf und führte ihn ab.

5. Kapitel

Deauville, Frankreich, 12. Januar 1923

Michelle Didier wurde ihrer Mutter, Madame Legrand, immer ähnlicher. Hatte sie früher die strengen Ansichten ihrer Mutter verurteilt und war ein freidenkender und geradliniger Mensch gewesen, so hatten die letzten Jahre sie verbittern lassen und sie zu einer ewig nörgelnden und unzufriedenen Person gemacht.

Schuld daran war sicher das Bewusstsein, dass ihr Mann Pierre sie nicht liebte und sie nur aus Mitleid geheiratet hatte. Dass er in jeder Minute, die er mit ihr zusammen verbrachte, eigentlich an diese Deutsche, diese Sophie, dachte.

Michelle war ein sehr romantisches Mädchen gewesen, das an die große Liebe glaubte, und eine ganze Zeit lang hatte sie Pierre für diese große Liebe gehalten. Aber gab es eine große Liebe ohne Gegenliebe? So hatte Michelle es sich in ihren Träumen jedenfalls nicht vorgestellt! Als Pierre ihr kurz vor seinem Heiratsantrag gestanden hatte, dass er eigentlich eine andere Frau liebe und dass er sie nur heirate, weil ihre Mutter die Verlobung schon öffentlich verkündet hatte und er ihr die Schande ersparen wolle, war sie tief verletzt gewesen und hatte den Antrag stolz abgelehnt. Sie wollte, dass er sie aus Liebe und nicht aus Mitleid heiratete.

Schließlich aber hatte sie festgestellt, dass sie ohne ihn nicht leben konnte, und sich entschlossen, den Antrag anzunehmen. Sie würde ihm eine gute Frau sein und ihn, dessen war sie sich sicher, im Lauf der Zeit dazu bringen, diese Deutsche zu vergessen und sie, Michelle, von ganzem Herzen zu lieben.

 

Doch Pierre vergaß Sophie nicht. Zwar sprach er nie von ihr, denn er wusste, was sich gehörte, aber Michelle spürte, dass Sophie zwischen ihr und Pierre stand und dass das vermutlich auch immer so sein würde. Sie versuchte, seine Liebe zu gewinnen, opferte sich regelrecht für ihn auf. Doch je mehr sie sich selbst aufgab, desto mehr zog er sich von ihr zurück. Und Michelle dachte verzweifelt, wie leicht es diese Sophie doch hatte. Eine Liebe, die nie über den Zustand der ersten aufregenden Phase hinauskam, ließ sich leicht glorifizieren, schließlich hatten die beiden keinen Alltag miteinander geteilt, sich nie aneinander gewöhnt. Kein Wunder, dass ihm Sophie da nur in den leuchtendsten Farben in Erinnerung geblieben war. Sie, Michelle, hingegen teilte sein Leben. Sie bemühte sich zwar immer, schön und gepflegt zu sein, aber er hatte sie nun auch mal verschwitzt gesehen, nachdem sie ihm die Kinder geboren hatte. Er sah sie hustend und krank während einer Grippe, er wusste, wie sie morgens nach dem Aufwachen aussah. Sie kam nicht auf die Idee, dass solche Momente Liebe stärken konnten. Und dass es Momente waren, die die gegenseitige Zuneigung vertieften, selbst wenn es sich nicht um die große Liebe handelte. Michelle dachte, sie müsse immer schön und gut gelaunt sein, um mit Sophie konkurrieren zu können, und sie begann, sich eine Maske zuzulegen, die das Einzige verdeckte, was Pierre an ihr gemocht hatte: ihre Natürlichkeit. Sie achtete darauf, vor ihm aufzustehen, um ihm geschminkt entgegenzutreten, und ihr Umgang miteinander wurde beherrscht von ihrem oberflächlichen, scheinbar gut gelaunten Geplauder. Was Pierre, den menschliche Tiefe anzog wie nichts anderes, immer weiter von ihr forttrieb.

Michelle war verzweifelt und sehnte sich nach dem Rat und den tröstenden Armen ihrer Mutter. Doch die Mutter war für sie unerreichbar geworden, denn Pierre und Michelle hatten unmittelbar nach ihrer Hochzeit den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen, da sie ihnen nicht verzeihen konnten, was sie ihnen angetan hatten. Sie verkündeten die Verlobung der beiden öffentlich, bevor sie selbst etwas davon wussten. Pierre, als Mann der guten Manieren, sah danach keinen anderen Weg mehr, als Michelle tatsächlich zu heiraten. Vor allem er war es gewesen, der darauf drängte, den Kontakt zu den Eltern abzubrechen, denn ihn hatte man zu etwas gezwungen, was er nicht wollte. Michelle hingegen war zwar zunächst ärgerlich auf ihre Mutter gewesen, hatte sich dann aber schnell damit abgefunden, denn es brachte ihr den Mann, den sie liebte.

Als Michelle Pierre zwei Kinder geschenkt hatte, einen Jungen und ein Mädchen, dachte sie, nun müsse alles gut sein und Pierre würde sich ihr endlich ganz zuwenden.

Aber Pierre änderte sich nicht. Er liebte seine Kinder zärtlich, doch er distanzierte sich unmerklich nur noch mehr von Michelle, weil er dem Band entgehen wollte, das die Kinder automatisch zwischen ihnen knüpften. Und weil er Michelles Oberflächlichkeit nicht ertragen konnte.

Eines Tages brach Michelle zusammen. Sie konnte nicht immer nur Liebe geben, ohne auch nur das kleinste bisschen zurückzubekommen. Sie fühlte sich gedemütigt und ungeliebt, wurde hysterisch und brach beim geringsten Anlass in Tränen aus.

Pierre hielt diese ständig weinende Frau, die er nicht liebte, noch weniger aus als die, die eine Maske und ein ständiges Lächeln zur Schau trug, und floh, so oft es ging, von zu Hause. Er machte lange Spaziergänge und dachte an Sophie, seine Sophie.

Vier Jahre, nachdem sie begonnen hatte, war die Ehe zwischen Michelle und Pierre völlig am Ende.

»Geh doch zu deiner Sophie!«, keifte Michelle.

»Michelle«, sagte Pierre gereizt, »ich würde dich nie verlassen, das weißt du doch.« Es klang gelangweilt, resigniert, ein unendlich oft wiederholter Satz.

»Du hast mich schon längst verlassen.«

»Das stimmt nicht«, erwiderte Pierre und faltete ärgerlich seine Zeitung zusammen. »Ich lebe seit über vier Jahren mit und bei dir.«

Michelle ließ nicht locker. »Du weißt genau, wie ich es meine.«

Pierre schwieg, denn sie hatte recht. Aber so gesehen, hatte er sie nicht verlassen, weil er nie wirklich bei ihr gewesen war. Er hatte sich immer große Mühe gegeben, Sophie zu vergessen und sich ganz auf Michelle einzulassen, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen.

»Siehst du«, triumphierte Michelle, »du weißt nicht, was du darauf sagen sollst, weil dir klar ist, dass ich recht habe.«

Pierre schwieg noch immer. »Ich habe dir nie etwas vorgemacht, Michelle«, sagte er schließlich leise. »Vom ersten Tag an habe ich dir gesagt, dass ich diese Frau liebe und dass ich dir nicht versprechen kann, sie je zu vergessen.«

»Oh doch, du hast mir etwas vorgemacht, Pierre.« Michelles Stimme wurde schrill. »Du hast mir erst gesagt, dass du diese andere liebst, als es schon zu spät war.«

»Jetzt mach aber mal einen Punkt!« Pierre knallte die Zeitung auf die Glasplatte des Korbtisches im Wintergarten, der eine herrliche Sicht auf den Strand von Deauville eröffnete. Die Tasse aus dem teuren Service fiel auf den harten Steinboden und zerbrach in tausend Stücke.

»Die schöne Tasse!«, rief Michelle hysterisch. »Kannst du nicht aufpassen!«

Pierre ignorierte den Vorwurf. »Für diese öffentliche Verlobung kann ich nichts«, sagte er stattdessen. »Die haben wir ganz allein deiner Mutter zu verdanken.«

»Das meine ich nicht. Ich meine die Zeit davor, bevor du wieder an die Front musstest. Du bist mit mir ausgegangen und hast mir den Hof gemacht. Ich habe mich in dich verliebt und Mutter dachte natürlich auch …«

Pierre riss der Geduldsfaden. »Willst du mir jetzt etwa auch noch die Schuld für diese Verlobung geben?«, brüllte er. »Willst du sagen, ich hätte deiner Mutter Anlass gegeben zu denken, dass wir uns über eine Überraschungsverlobung freuen würden?«

Michelle zuckte die Schultern. »Schließlich sind wir oft genug zusammen ausgegangen. Aber das meinte ich nicht, als ich sagte, es sei zu spät gewesen.«

»Was meintest du dann?«, fragte Pierre scharf.

»Ich habe es dir bereits gesagt. Du hattest mir Hoffnungen gemacht und ich hatte mich in dich verliebt.«

»Ich habe nie Anlass gegeben …«

»Oh doch.«

»Aber ich dachte damals, dass das alles ganz ungezwungen gewesen wäre. Schließlich hattest du ja selbst gesagt, dass du diese ständige Hofmacherei satthast.« Pierres Stimme klang nun leise, verzweifelt.

Michelle traten die Tränen in die Augen. Er wollte sie einfach nicht verstehen. Sie fühlte eine ungeheure Wut in sich aufsteigen. Wut auf Pierre, der sie nicht liebte, Wut auf Sophie, die an allem schuld zu sein schien, und vor allem Wut auf sich selbst, weil sie so schwach war und ihr schon wieder Tränen in den Augen standen. Sie musste sich zusammenreißen, sie würde nicht wieder vor ihm weinen. Diesmal nicht.

»Geh doch nach Deutschland«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Geh zu den Verrätern.«

»Wieso Verräter?«

»Nun, sie halten sich nicht im Mindesten an die Bedingungen des Versailler Vertrags. Mit ihren Kohlelieferungen sind sie ganz schön hinterher.«

»Sie können nicht anders, Michelle. Sie haben wahrscheinlich nichts mehr, was sie uns geben können.« Kalt fügte er hinzu: »Und seit wann interessierst du dich überhaupt für Politik? Es geht dir doch nur darum, Sophie eins auszuwischen.«

»Mein Gott, bist du gutgläubig!«, zischte Michelle. »Wahrscheinlich verherrlichst du das Land, weil deine Sophie eine Deutsche ist. Denk daran, was die Deutschen uns alles angetan haben im Krieg. Sie sind Banausen! Wilde!«

Pierre schwieg. An seiner Schläfe pochte eine Ader. Sie redet wie meine Mutter, dachte er angewidert. Ich hätte sie für klüger gehalten.

Michelle sah ihm seine Wut an und provozierte ihn bewusst. »Es ist schon ganz gut, dass unsere Truppen jetzt im Ruhrgebiet einmarschieren. Denen muss mal wieder gezeigt werden, wer hier das Sagen hat.«

Pierres Augen verengten sich. Sie weiß genau, dass mir die Besetzung des Ruhrgebietes nicht gefällt, dachte er. »Du wirst immer mehr wie deine Mutter«, sagte er kalt. »Du tust mir leid.« Damit drehte er sich um und verließ das Zimmer.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, sank Michelle auf einen der Korbsessel und ließ den lange zurückgehaltenen Tränen freien Lauf. Sie spürte, dass sie ihn nun ganz verloren hatte. Bisher hatte er sie zwar nicht geliebt, aber zumindest doch respektiert. Nun war auch das letzte bisschen Achtung verschwunden, und Michelle hatte niemanden mehr. Sie war ganz alleine auf der Welt.

6. Kapitel

Essen, Ruhrgebiet, 12. – 20. Januar 1923

Sie sperrten Siegfried in eine Zelle, in die bereits viele andere Männer eingesperrt waren, und ohne es zu wissen, hatte er die gleiche Empfindung wie seine Frau am Tag zuvor: dass die Luft brannte. Auch hier schlug die Empörung wellenartig hoch über den Köpfen der Inhaftierten zusammen, man badete darin, fühlte Patriotismus, Zusammengehörigkeit. Die meisten Männer waren wegen ähnlicher Vorkommnisse wie Siegfried festgenommen worden. Unter den Gefangenen waren auch viele höhere Beamte und Offiziere, die sich französischen Befehlen widersetzt hatten. Aufgeregt empfingen sie Siegfried, fragten ihn aus, was er denn getan habe, und nachdem er Bericht erstattet hatte, streckte ihm einer, der sich als Hannes Meinchen vorstellte, die Hand entgegen. »Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er. »Ich habe ein Hotel und mich selbstverständlich geweigert, einen französischen Offizier zu bedienen. Der meinte doch tatsächlich, er würde bei mir einen Kaffee bekommen.« Er lachte laut und siegesgewiss.

Siegfried grinste zurück. Der Mann wirkte distinguiert und selbstbewusst. Natürlich bediente er keinen französischen Offizier! Sicherlich war er hocherhobenen Hauptes in das Gefängnis geschritten und hatte nicht, wie Siegfried mit seinem Stummelbein, Mühe gehabt, das Gleichgewicht zu halten, um ihnen wenigstens diesen Triumph nicht zu gönnen: ihn stolpern und fallen zu sehen. Verschämt schob Siegfried sein gesundes Bein vor den Stumpf. Hannes Meinchen mit seinen wachen Augen bemerkte es sofort und deutete mit dem Kinn darauf. »Kriegsverletzung, nicht wahr?«

Siegfried zuckte zusammen. Es war lange her, dass ihn jemand auf sein fehlendes Bein angesprochen hatte. In der Familie schwieg man das Thema tot, weil man wusste, wie empfindlich Siegfried darauf reagierte. Das Totschweigen aber war für ihn nur ein weiterer Beweis dafür, dass sie ihn für seine Verstümmelung verachteten, ihn als Versager ansahen. Das Trauma saß tief und war an den Rändern verhärtet, hatte Schorf angesetzt, niemand, schon gar nicht die Familie, war in der Lage, diese Ränder, diesen Schorf zu durchdringen. Und keiner merkte, dass eben nur die Ränder des Traumas verhärtet waren und Siegfried innerlich stark blutete. Und blutete. Und blutete, ja drohte, in der Flut des Blutes zu ertrinken.

Und nun kam Hannes Meinchen einfach daher und sprach ihn darauf an. Als wäre es die normalste Sache der Welt. Siegfried wurde rot und warf hastig einen Blick in die Runde, es war ihm peinlich, dass der Hotelier so deutlich darauf hingewiesen hatte. Doch keiner beachtete sie. Die anderen hatten ihre Gespräche längst wieder aufgenommen, niemand zeigte mehr Interesse an dem Neuzugang.

Hannes Meinchen war ein kluger Mann. Mit einem Blick erkannte er Siegfrieds Dilemma. »Sie sind ein Held«, sagte er leise. »Ein wahrer Held.«

Siegfried hob den flackernden Blick, sah Meinchen zaghaft ins Gesicht. Der nickte bekräftigend. »Ich meine das sehr ernst«, erklärte er und setzte sich auf eine der schmalen Pritschen. Siegfried ließ sich neben ihm nieder, dankbar, nicht der Erste zu sein, der sich setzte und damit seine Schwäche eingestand. Dass Meinchen so weit in ihn hineinblicken konnte, dass er auch das begriff und aus diesem Grund als Erster Platz genommen hatte, ahnte er nicht.

»Sie sind ein Held«, wiederholte Hannes Meinchen. »Nicht nur, weil Sie Ihr Bein im Krieg verloren, es geopfert haben für das Vaterland. Sondern auch, weil Sie dem Besatzer Widerstand geleistet haben. Wie wir alle hier.« Er machte eine vage Bewegung in den Raum, wo sich die anderen Gefangenen inzwischen ebenfalls auf den Pritschen niedergelassen hatten und die Ereignisse weiterhin eifrig diskutierten.

Meinchen wandte sich wieder zu Siegfried um und starrte ihm in die Augen. »Wer ein Held ist, hat Verantwortung«, erklärte er, »Verantwortung für unser Vaterland.«

 

»Wie meinen Sie das?«, fragte Siegfried. Ein klitzekleines Bläschen platzte in seinem Unterbewusstsein und setzte eine bittere Warnung frei. Doch die Warnung stieg nur als winzige Ahnung bis in sein Bewusstsein empor, er beachtete sie nicht, weil das, was er hier hörte, aufregend war. Weil es ihm eine Bedeutung gab. Weil es Balsam für die Wunden war, die nun schon seit Jahren einfach nicht heilen wollten.

Hannes Meinchen, der Kluge, wusste genau, was in Siegfried vorging. Die, die ihn gut kannten, sagten, er besitze ein außergewöhnliches psychologisches Gespür. Und sie sagten, dass er es verstehe, sein Gegenüber innerhalb kürzester Zeit intuitiv zu erfassen und es besser zu verstehen als der Betreffende sich selbst.

»Was machen Sie beruflich, Herr Seiler?«, fragte er höflich, obwohl er es wusste. Die Kleidung wies Siegfried ganz deutlich als Arbeiter der Krupp-Werke aus.

»Ich arbeite bei den Krupp-Werken«, sagte der auch erwartungsgemäß.

Hannes Meinchen nickte sehr langsam und sehr bedeutungsvoll.

»Kündigen Sie!«

»Wie bitte?«, Siegfried starrte ihn an.

»Sie verschleudern doch Ihre Fähigkeiten!« Meinchen musterte ihn eindringlich. »Ein Mann wie Sie ist doch kein Arbeiter! Sie sind ein gebildeter Mann, ein Offizier, das sehe ich Ihnen doch an.«

Hier pokerte Meinchen. Er wusste nicht, ob Siegfried tatsächlich aus gutem Hause war, vermutete es nur anhand seiner völlig dialektfreien Sprache. Aber selbst wenn er sich täuschen sollte, würden diese Worte das zerstörte Selbstbewusstsein dieses Mannes ungemein stärken. Und darauf kam es am Ende an.

»Da haben Sie recht«, bestätigte Siegfried. Und fügte dann, zutiefst geschmeichelt, hinzu: »Ich hätte nicht gedacht, dass man mir das so deutlich anmerkt.«

»Aber ich bitte Sie!«, rief Meinchen. »Das merkt man sofort! Darf ich fragen, was Sie gemacht haben, bevor Sie hierherkamen?«

»Nun«, erwiderte Siegfried, »nach meiner … Verwundung konnte ich nicht mehr ins Feld und da habe ich in Konstanz die Textilfirma meines Schwagers geleitet. Und als er aus dem Krieg zurückkam, bin ich … ich bin aus freien Stücken gegangen.«

Er brauchte nichts mehr hinzuzufügen. Hannes Meinchen begriff auch so, dass Siegfried nach der Rückkehr des Schwagers nicht hatte bleiben wollen, weil er sich dann wie ein Bittsteller vorgekommen wäre.

Meinchen nickte. »Männer wie Sie kann ich in meinem Hotel gut gebrauchen«, sagte er. »Ich suche einen Geschäftsführer.«

»Meinen Sie das ernst?« Siegfried dachte an Luise. Wenn das wahr würde, dann könnte sie endlich einmal wieder stolz auf ihn sein. Auf ihn, ihren Mann.

»Aber natürlich meine ich das ernst. Männer wie Sie sind viel zu wichtig, als dass sie ihre Kraft in Produktionshallen vergeuden dürften.« Meinchen schnaubte. »So schnell wie möglich fangen Sie bei mir an«, bestimmte er.

Siegfried strahlte. In seinem Glück merkte er nicht einmal, dass er gar nicht gefragt worden war.

»Noch was«, sagte Meinchen.

»Ja?«

»Wir müssen dafür sorgen, dass die Franzosen verschwinden. Auch dafür brauchen wir Männer wie Sie.«

»Ich werde weiterkämpfen«, versprach Siegfried entschlossen.

»Gut«, befand Meinchen. »Es gibt viel zu tun. Denn leider denken nicht alle so wie Sie. Es gibt Spitzel, die mit den Franzosen gemeinsame Sache machen. Und die müssen wir finden.«

Als Fritz Thyssen am 20. Januar verhaftet wurde, weil er sich der Anordnung widersetzte, der französischen Besatzungsbehörde Kohle zu liefern, war Siegfried schon wieder auf freiem Fuß. Es war der Tag, an dem er kündigen wollte. Er saß gerade bei Meinchen in dessen feinem Büro, als sie von der Verhaftung erfuhren. »Ich kann jetzt nicht kündigen«, sagte Siegfried. »Es würde wie ein Verrat wirken. Sie würden denken, ich sei aufseiten der Franzosen. Ich muss doch zu ihnen stehen.«

Meinchen sah ihn aufmerksam an und tippte mit seinem Füllfederhalter ungeduldig auf das Blatt Papier, das vor ihm lag. Tinte spritzte und hinterließ hässliche schwarze Flecken auf dem Dokument. Meinchen bemerkte es nicht, er hatte Siegfried fest im Visier. »Sie sind ein kluger Mann, Seiler, das hat mir schon von Anfang an an Ihnen gefallen. Und Sie haben recht, Sie können nicht kündigen. Sie bleiben dort. Und beobachten Ihre Leute. Wir müssen die undichten Stellen finden. Sie haben eine äußerst wichtige Rolle inne, Seiler.«

Obwohl er es selbst vorgeschlagen hatte, fühlte Siegfried Enttäuschung in sich aufsteigen. Er hatte Luise schon von seinem neuen Posten erzählt. Und auch davon, dass sie in eine neue Wohnung umziehen würden. Er hatte das Leuchten der Bewunderung in ihren Augen gesehen. Und nun sollte er ihr sagen müssen, dass er doch ein einfacher Arbeiter blieb?

Meinchen ahnte, was der Grund für die finstere Miene des anderen war. »Das Stellenangebot steht«, beruhigte er. »Und in die neue Wohnung können Sie gleich einziehen. Ich muss Sie nur bitten, das unauffällig zu tun und mit niemandem darüber zu sprechen. Wir müssen alles vermeiden, was Verdacht erregt. Die Sache ist zu wichtig, als dass wir irgendetwas riskieren könnten.«

»Selbstverständlich«, versicherte Siegfried erleichtert.

»Gut.« Endlich bemerkte Meinchen das Gekleckse auf seinem Blatt und legte den Füllfederhalter mit einer verärgerten Bewegung rasch beiseite.

»Sie begreifen doch, dass der Posten, den Sie bekleiden, im Moment viel wichtiger ist als der des Geschäftsführers? So dringend ich Sie hier sofort brauchen könnte?«

Siegfried nickte.

»Gut«, wiederholte Meinchen. »Dann lassen Sie uns ans Werk gehen.«