Leo - Wismeldas Rache

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Z serii: Leo #2
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2. Kapitel

In meiner alten Schule hatte es auch so einen Jungen wie Franz gegeben. Er hieß Herbert und war eine Klasse über mir. Auch er war viel größer und stärker gewesen und ich war ihm immer ausgewichen. Er hatte mich wahrscheinlich gar nie bemerkt, so unauffällig gab ich mich. Aber einigen anderen Kindern nahm er das Jausengeld und ihre Handys weg, wer sich weigerte, das Geld herauszurücken, der bekam die Nase blutig geschlagen. Die ganze Schule hatte Angst vor ihm und eines Tages kam die Polizei, denn er hatte, so hieß es, auch noch andere schlimme Dinge gemacht. Dann wurde er in ein Erziehungsheim gesteckt. Ich und viele andere waren sehr froh darüber. Aber mein Papa sagte, er fände das gar nicht gut, denn bestimmt gäbe es einen Grund für das Verhalten von Herbert und er bräuchte sicher viel mehr Unterstützung, als er in dem Heim bekäme. Es sei meist ein Hilferuf, wenn jemand solche Dinge täte.

Ich habe das damals nicht ganz verstanden, aber jetzt fiel mir das wieder ein. Ob das bei Franz auch so war? Brauchte er unsere Hilfe? Nein, das konnte nicht sein, ich hatte keine Lust, mir vorzustellen, Franz helfen zu müssen. Am liebsten wäre es mir gewesen, ich könnte mich für ihn unsichtbar machen. Wenn sogar Georg sich lieber zurückhält, um Streit zu vermeiden, dann sagt das eigentlich schon alles. Normalerweise versucht Georg, jeden zu provozieren. Aber er ficht seine Schlachten mit Worten aus. Er ist sehr redegewandt und das kann ganz leicht zu einem Streitgespräch mit ihm führen. Aber Georg würde niemandem etwas zuleide tun und er unterscheidet sehr genau zwischen Recht und Unrecht.

Wenn er mit jemandem ein Wortgefecht austrägt, dann nur, weil es derjenige verdient hat. Seine Fäuste lässt er dabei in der Hosentasche, obwohl ich glaube, er könnte, wenn er wollte, denn er ist recht groß und stark.

So zitterte ich der nächsten Pause entgegen und dachte insgeheim, es wäre viel schöner, wieder in meiner alten Schule zu sein, auch wenn ich dort auf meine Freunde hätte verzichten müssen. Hier war ich offenbar ganz unverschuldet sofort in den Fokus des rauflustigsten Jungen der ganzen Schule geraten.

Frau Kleinschuster erzählte und erzählte und ich hörte nicht zu. Es ging wohl um die Klassenlehrereinteilung und den Stundenplan der ersten Woche. Aber mein Herz pochte wie wild, weil ich mir stattdessen ausmalte, was dieser Franz alles anstellen würde, um mich zu piesacken, und auch für Leo würde es meiner Meinung nach nicht gut ausgehen können. Schließlich war sie jetzt ein Mensch und hatte ihre Zauberkräfte, die sie als Elfe irgendwann einmal besessen hatte, verloren. Das war ihr aber anscheinend gar nicht richtig bewusst.

Als es zur zweiten Pause läutete und Frau Kleinschuster eilig zur Klassentür hinauslief, machte mein Herz einen richtigen Plumps, bevor es wieder wie wild zu pochen begann. Ich saß auf meinem Platz mit gesenktem Kopf und starrte auf den Tisch vor mir, der etliche Kratzer und Scharten aufwies, die ich nun aufs Genaueste betrachtete, nur um mich ein wenig abzulenken. Da war ein großes, sehr krakeliges L eingeritzt und daneben ein Smiley. Außerdem stand da: Franz ist ein Depp.

Ich erstarrte, stand da wirklich Franz ist ein Depp? Die Schrift verschwamm vor meinen Augen und ich las nun: Sei nicht so ein Angsthase, Felix! Alles wird gut.

Ich rieb mir die Augen und schaute zu Leo, doch die saß gar nicht mehr neben mir. Als ich voller Verwirrung wieder auf die Tischplatte vor mir starrte, entdeckte ich nur Kratzer, Schrammen und das große L. Aber ich hatte keine Zeit, mich weiterhin zu wundern, denn Georg, Wendel und Benni tauchten jetzt neben mir auf. „Da kommt er“, raunte Georg mir zu und wirklich, der Franz war direkt auf dem Weg zu uns.

Ich beobachtete die gespannten Blicke der anderen, die das Geschehen rund um die Neuen mit unverhohlenem Interesse verfolgten.

„Wohin hat sie sich denn verkrochen, deine schlaue Freundin?“, richtete Franz prompt das Wort an mich.

Ich zuckte mit den Schultern, denn meine Stimme versagte ihren Dienst.

„Mach dir nicht in die Hose vor Angst, du hast mich doch noch gar nicht von meiner schrecklichen Seite kennengelernt, aber das kommt noch, keine Sorge“, prahlte Franz.

Ich nickte verzweifelt, und obwohl meine drei Freunde um mich herumstanden, fühlte ich mich kein bisschen sicherer.

Das gab Franz so richtig Auftrieb. „Warte nur, nach der letzten Stunde kannst du mit meinen Fäusten Kontakt aufnehmen“, behauptete er großspurig.

Jetzt platzte Georg der Kragen. „Da haben wir auch noch ein Wörtchen mitzureden, vier gegen einen ist zwar unfair und eigentlich nicht mein Stil, aber wenn du Felix und Leo nicht in Ruhe lässt, bleibt uns keine Wahl.“

„Ich nehm es mit euch allen auf.“ Franz hielt Georg seine Rechte unter die Nase. „Die da bedeutet Friedhof und die da“, jetzt zeigte er seine linke Faust, „Krankenhaus. Ihr könnt es euch aussuchen.“

„Ja, du bist wirklich stark und wunderbar, wir zittern vor Angst und im Zuge der Gleichberechtigung von Männern und Frauen machst du sicher mit deinen Fäusten auch vor einem Mädchen nicht halt, oder?“

Wo war Leo denn so plötzlich hergekommen?

Franz zögerte kurz, möglicherweise hatte er doch ein paar Skrupel gegenüber einem Mädchen, als er aber in Leonores freches Gesicht sah und ihren herausfordernden Blick bemerkte, waren seine Zweifel wie weggeblasen.

Auch diesmal beendete das Läuten die Streiterei und Frau Kleinschusters Auftauchen löste die kleine Versammlung rund um mich und Leo herum wieder auf.

Der erste Schultag nach den Ferien ist ja immer recht kurz, denn wir Schüler können uns nur langsam wieder an die Regeln und das Stillsitzen, die der Schulalltag mit sich bringt, gewöhnen. Daher war dies nun die letzte Stunde für diesen Tag und ihr könnt euch bestimmt denken, dass ich auch von dieser nicht viel mitbekommen habe, weil mir das sprichwörtliche Grauen im Nacken saß. Als dann zum letzten Mal an diesem Schultag die Glocke bimmelte, krampfte sich mein Magen zusammen, mir war richtig schlecht. Wie sollte ich das Folgende bloß überstehen?

„Du bist käsebleich“, stellte Leo neben mir fest.

Langsam verließen wir die Klasse, dicht gefolgt von Georg, Wendel und Benni. Als wir durch das Schultor ins Freie traten, gesellte sich auch Anna zu uns, Leo war in der zweiten Pause kurz bei ihr gewesen und hatte ihr von der Aktion, die Franz zuvor geliefert hatte, erzählt, so wusste sie schon Bescheid. Franz und sein Kumpan Jo waren vorerst nirgends zu sehen.

„Gemeinsam sind wir stark“, machte mir Georg Mut. „Wir gehen jetzt einfach mal los, so als wäre nichts, und dann werden wir weitersehen“, bestimmte er.

Zusammen verließen wir also den Schulhof und marschierten in Richtung Dorf. An der unübersichtlichsten Stelle, der Wegbiegung bei der Kirche, die auf einer kleinen Anhöhe thront, lauerten Franz und Jo. Wir hatten sie zuerst nicht gesehen, weil rund um den Friedhof, der hinter der Kirche liegt und von einer hohen Mauer umgeben ist, viele Bäume gepflanzt sind und die beiden sich dort verborgen hatten. Nun sprangen sie hervor wie Kistenteufel und schrien, was das Zeug hielt.

„Stehen geblieben, ihr müsst Weggeld zahlen, sonst gibt es kein Weiterkommen! Wer nicht zahlt, wird vermöbelt!“, brüllte Franz und Jo grinste boshaft.

„Das ist jetzt aber nicht euer Ernst, ihr wollt wirklich zu zweit gegen uns sechs antreten?“, rief Georg.

„Vier, wenn’s hoch hergeht, die Mädchen zählen nicht“, erwiderte Franz, Jo nickte bestätigend und tippte auf seinem Mobiltelefon herum.

Wendel, Benni und ich kramten schon in unseren Taschen nach etwas Geld, das wir diesen Räubern geben wollten, nur um unsere Ruhe zu haben und hier wegzukommen. Nicht so Georg, er pflegte wieder einmal die Tradition der geschliffenen Rede.

„Vom Standpunkt der Logik ist euer Vorhaben von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Anna und Leo nicht in eure fragwürdige Berechnung mit einzubeziehen, weil sie Mädchen sind, ist nicht nur menschlich ein Fehler, sondern auch strategisch.“

„Hä? Was soll die Klugscheißerei? Du hörst dich selbst so gerne reden, Georg, weißt du, das nervt ungeheuer! Lassen wir doch stattdessen unsere Fäuste sprechen, das ist viel mehr nach meinem Geschmack.“ Mit diesen Worten machte Franz einige schnelle Schritte nach vorne, holte mit der Rechten aus und traf ... ins Leere, denn Georg war geschickt ausgewichen.

Franz ließ sich jedoch nicht verdrießen und holte erneut aus, diesmal war Georg nicht schnell genug, der Schlag traf ihn seitlich, oberhalb der Magengrube. Er keuchte erschrocken auf, um sich anschließend vor Schmerz zusammenzukrümmen. Wir anderen waren bis jetzt starr vor Schreck dumm herumgestanden und hatten uns nicht gerührt, aber nun kam Bewegung in unsere Beine, die scheinbar ein Eigenleben entwickelt hatten, und Benni, Wendel und ich rannten los. Wir dachten in diesem Augenblick nicht daran, wie feige das war, wie unfair und wie blöd. Es war einfach der Fluchtinstinkt, der uns loslaufen ließ. Erst als Prinz Edmund hinter der Friedhofsmauer hervortrottete und uns, wie ich fand, sehr vorwurfsvoll anblickte, wurde mir und meinen beiden Freunden bewusst, was zu tun wir da gerade im Begriff waren.

Peinlich berührt blieben wir stehen. Der riesige schwarze Hund kam auf mich zu, hob seinen dicken, schweren Kopf und schnaubte in mein Ohr. Ich könnte schwören, es klang wie: „Schäm dich!“

Wir machten auf dem Absatz kehrt und kamen keine Minute zu früh zurück. Der Kampf war in der Zwischenzeit weitergegangen, Georg lag am Boden, hielt sich den Bauch und heulte, Jo hielt Anna fest, indem er ihre Arme auf dem Rücken fixierte, und Leo und Franz führten ... ja, was war das eigentlich, was die beiden da aufführten? Es sah aus wie ein Volkstanz. Franz stellte das rechte Bein vor, Leo das linke, dann holte Franz aus und Leo duckte sich. Franz stellte das linke Bein vor und holte aus, Leo schob ihr rechtes Bein nach vorn und duckte sich von Neuem. Und so umtänzelten sich die beiden, ohne dass Franz einen Schlag landen konnte. Deshalb war er ziemlich wütend.

 

Leo hingegen lachte fröhlich und rief: „Fang mich doch, wenn du kannst, aber dafür musst du anscheinend noch üben.“

Anna fauchte Jo an: „Aua, du tust mir weh, lass mich los, damit ich dir eine scheuern kann!“ Aber ihr Aufpasser lachte nur und rührte sich nicht.

Sie alle waren dermaßen abgelenkt, dass niemand uns kommen sah. Ich lief zu Georg und half ihm auf, Wendel und Benni packten Jo, sodass er Anna loslassen musste, die sich sofort lautstark beschwerte.

„Na, das wurde aber auch Zeit! Ihr rennt einfach weg, hallo, geht’s noch?“

Aber das Beste war, dass Franz, der immer noch verbissen versuchte, Leo zu verprügeln, zur Salzsäule erstarrte, als Prinz Edmund auf ihn zukam. Es gibt Menschen, die hatten noch nie ein Haustier oder sie mögen einfach keine Tiere. Sie haben Angst vor Hunden, Katzen, Pferden, Mäusen, Vögeln, allem, was läuft, fliegt, bellt, miaut und knurrt. Franz war offenbar so jemand. Er kannte Prinz Edmund nicht, hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen und ich muss zugeben, wenn man nicht weiß, wie lieb er ist, kommt er ganz schön Furcht einflößend rüber.

Die große schwarze Dogge stand einfach nur da und schaute Franz an, ruhig und lange, seine Lefzen zitterten möglicherweise ein bisschen, vielleicht sah man seine großen, spitzen Reißzähne für einen kurzen Moment, vielleicht knurrte er ein wenig, was es auch war, es ging unheimlich schnell und zeigte Wirkung.

Franz und Jo gaben Fersengeld. Sie sprinteten den Kirchhang hinunter, über die Fußballwiese auf den Wald zu und hinter ihnen lief langsam und majestätisch Prinz Edmund. Es war ein wunderbarer Anblick.

***

Gwendolyn saß am Ufer des Baches und hielt ihre Hand ins Wasser. Ein Fisch schwamm neugierig heran, und erst als die Elfe ihre Finger bewegte, tauchte er ab und versteckte sich unter einem Stein.

Rainer, der kleine Fuchs und Gwendolyns bester Freund, saß neben ihr und beobachtete die Szene. Eigentlich hatte er nach diesem Manöver des Fisches mit dem hellen Lachen seiner Freundin gerechnet, aber die Elfe schwieg und blickte ernst und gedankenverloren ins Wasser, so als hätte sie den Fisch gar nicht bemerkt. Zart stupste der Fuchs sie mit seiner Nase an. Als darauf keine Reaktion erfolgte, versuchte er es ein zweites Mal, nun ein wenig fester. Auch das schien Gwendolyn nicht zu bemerken. Rainer nahm einen kleinen Anlauf, und gerade als er zum Sprung ansetzte, erhob sich das Elfenmädchen. Der Fuchs konnte nicht mehr bremsen und landete mit einem lauten Platsch im Wasser. Prustend, spuckend und völlig durchnässt krabbelte er zurück ans Ufer.

„Was ist denn mit dir los, Rainer? Ist es für ein Bad nicht ein wenig kühl?“, fragte Gwendolyn mit leiser, trauriger Stimme.

Rainer seufzte. „Ja, meine Liebe, ein Bad war eigentlich auch nicht geplant. Ich wollte dich lediglich aus deinen düsteren Gedanken holen.“

„Ach, Rainer, du bist lieb, aber du kannst mir nicht helfen. Geh nach Hause, ich muss nachdenken, dabei brauche ich meine Ruhe.“


*

3. Kapitel

Das war also der Start ins Schuljahr mit meinen Freunden und mit Leo.

Nach der kleinen Jagd mit Prinz Edmund über Wald und Wiese waren Franz und Jo übrigens eine Zeit lang ziemlich zahm. Wie lange jener Ausflug gedauert hat, haben wir leider nie erfahren, aber Leo meinte, ihr Prinz sei ein sehr ausdauernder Läufer.

Leider hatte dieses Abenteuer auch eine Schattenseite. Bei Franz war eine große Wut auf diesen grässlichen schwarzen Köter, wie er Prinz Edmund nannte, entstanden. Sein Herz sann auf Rache und das Gefühl, in der Öffentlichkeit gedemütigt worden zu sein, konnte er nicht ertragen. So wuchs die Blume des Hasses langsam und stetig in seiner Seele und wurde größer und größer. Prinz Edmund aber, der wie wir davon nichts ahnte, begleitete uns arglos jeden Tag bis vor das Schultor und wartete dort, bis der Unterricht aus war, um dann neben uns her nach Hause zu trotten. Das war für mich eine große Erleichterung, denn wie ihr vielleicht schon bemerkt habt, bin ich nicht besonders mutig. In Prinz Edmunds Begleitung fühlte ich mich viel sicherer und war froh, Ruhe vor den bösen Jungs zu haben.

Als der Schulalltag dann so richtig eingekehrt war und unsere Freundin Leo festgestellt hatte, dass es im Unterricht mitunter ziemlich langweilig sein konnte, ertappte ich sie immer öfter dabei, wie sie aus dem Fenster guckte, ihre großen dunkelgrünen Augen in die Ferne richtete und mit ihren Gedanken offenbar ganz woanders war. Anna hatte Leo eingebläut, nicht so vorlaut zu sein und sich nicht durch Bemerkungen über Dinge, die kein Mensch wissen konnte, zu verraten.

Aber natürlich konnte Leo ganz oft ihren Mund nicht halten und es kam immer wieder zu sehr schrägen Situationen. Besonders im Geschichtsunterricht wartete sie mit interessanten Details aus dem Leben längst verstorbener Monarchen und Feldherren auf oder sie berichtete von Personen, die in keinem Geschichtsbuch standen, laut Leo aber irgendwann gelebt haben sollen zu Zeiten, als ihre Eltern oder Großeltern noch kleine Elfchen gewesen waren. Das regte unseren alten Geschichtslehrer ziemlich auf.

Herr Weixelbaum, so heißt er, ist nicht wie Frau Kleinschuster davon überzeugt, dass in jedem Kind und überhaupt in jedem Menschen ein guter Kern steckt, mag er auch noch so verborgen sein. Vielmehr ist er ein Mann, der sich selbst sehr ernst nimmt und das auch von seinen Schülern erwartet. Leos Bemerkungen waren für ihn daher immer ein Angriff auf seine Kompetenz und auf seine Autorität. Er war bald davon überzeugt, dass sie ein sehr vorlautes, freches Mädchen war, das es darauf anlegte, ihn vor der Klasse lächerlich zu machen.

Eines schönen Tages im Oktober, der Herbst war inzwischen eingekehrt und der alte Ahornbaum vor dem Fenster unseres Klassenzimmers hatte leuchtend gelbe, rote und braune Blätter bekommen, die im milden goldenen Licht der Herbstsonne ab und an langsam zu Boden segelten, nahm Herr Weixelbaum gerade römische Geschichte mit uns durch.

„Leonore, wie ich sehe, interessiert dich das herbstliche Blätterspiel vor dem Fenster viel mehr als mein Unterricht. Du bist doch sonst auch immer so gut darin, mich über Details aus der Vergangenheit zu belehren, sodass ich oft schon dachte, du müsstest, um all das zu wissen, bereits einige Hundert Jahre alt sein.“ Er lachte kurz und trocken über seinen eigenen Witz. „Nun sag mir bitte, was weißt du über die frühen Siedlungen der Römer hier in der näheren Umgebung. Und nenne mir die bekannteste. Ich sprach übrigens in der letzten Stunde darüber, wenn du aufgepasst hast, wirst du dich daran erinnern.“ Leo wandte langsam ihren Kopf, es schien, als könnte sie sich nur schwer vom Anblick des alten Baumes vor dem Fenster lösen. Abwesend blickten ihre großen Augen in das immer ein wenig boshaft wirkende Gesicht des alten Lehrers.

„Die Römer, schon wieder die Römer. Was habt ihr Menschen nur mit diesen Römern?“, murmelte sie mit belegter Stimme.

Georg, der auf der anderen Seite neben Leo saß, machte mir hinter ihrem Rücken ein Zeichen, indem er seinen Zeigefinger vor seiner Stirn drehte, um mir zu signalisieren, er sei der Meinung, unsere Freundin wäre nun völlig verrückt geworden.

„Ich mag sie nicht wirklich, diese Römer, sie waren trotz der Errungenschaften, die für die damalige Zeit sicher großartig waren, in vielem noch sehr rückständig und vor allem ihre Mordlust finde ich besonders abstoßend. Gladiatorenkämpfe, sage ich da nur. Meine Großmutter hat mir viel über ihre Brutalität erzählt. Einige Römer kannte sie persönlich, sie ist nach eurer Zeitrechnung am selben Tag geboren wie Gaius Julius Cäsar, nämlich am 13. Juli im Jahr 100 vor Christus. Die Geschichten über die alten Römer ... das weiß man doch alles. Gibt es keine interessanteren Themen für Ihren Unterricht, ich beginne mich wirklich zu langweilen“, teilte sie unserem Lehrer mit.

Die Stille in der Klasse war nahezu unheimlich, Leo und Herr Weixelbaum hatten die volle Aufmerksamkeit aller. Der alte Lehrer schien zur Salzsäule erstarrt zu sein, er war, was wahrscheinlich in seiner Berufslaufbahn bisher noch nie passiert war, sprachlos. Er starrte Leo an, sie starrte zurück. Das schien eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis, wie könnte es anders sein, Georg auf den Plan trat.

„Na ja, langweilig finde ich den Unterricht von Herrn Weixelbaum nicht, aber die alten Römer sind wirklich ziemlich ...“ Weiter kam er nicht. Er hatte auf Risiko gespielt und die Rechnung ging scheinbar auf. Oder nicht?

„Ist jetzt etwa die Diskussionsrunde über den Lehrstoff eröffnet? Hat vielleicht sonst noch jemand ein paar Vorschläge, wie ich meinen Unterricht für die Herrschaften abwechslungsreicher gestalten könnte? Bitte, ich höre.“

Wendel meldete sich zum Erstaunen aller. „Bitte, ich ...“

Nun richtete sich der geballte Zorn des Lehrers auf den armen Wendel. „Du? Du hast Verbesserungsvorschläge? Das kann ich mir denken, du passt ohnehin nie auf in meinem Unterricht. Du wirst ja auch von den anderen Kollegen liebevoll Traummännlein genannt, aber nicht mit mir. Das gibt ein Nicht genügend für dich und für alle anderen auch.“

Die Pausenglocke schrillte und Herr Weixelbaum rauschte aus der Klasse.

„Ich wollte ihn doch nur fragen, ob ich aufs Klo kann“, jammerte Wendel.

„Dein Timing, das ist wieder typisch. Hast du keine Uhr? Sich in so einer Situation eine Minute vor dem Läuten zu melden ...“ Georg schüttelte den Kopf, er war richtig böse. Hastig rannte Wendel aus der Klasse.

„Was ist denn mit dir los, Leo?“, fragte ich sie derweil verstört. Sie antwortete mir nicht, sondern blickte schon wieder traurig aus dem Fenster. „Ich mach mir Sorgen um sie“, raunte ich Georg zu.

„Ich mach mir eher Sorgen um mich“, gab der laut zurück, „ein Nicht genügend, für das ich gar nix kann. Das ist zwar neu, aber hilft mir nicht wirklich weiter auf dem Weg zu meinem Schulabschluss.“

„Der eh noch in weiter Ferne liegt“, stellte ich fest.

„Na und? Ich bekomme zu Hause sicher wieder Ärger und das zieht dann diverse Verbote nach sich. Handyverbot, Computerverbot, Fernsehverbot. Das ist so ungerecht, und alles nur, weil ich meinen Mund nicht halten kann. Ich wollte eigentlich nur helfen.“ Missmutig stand Georg auf und verließ das Klassenzimmer.

Benni, der meistens sehr wenig sagt, dafür aber umso mehr denkt, stand plötzlich neben Leo und sprach sie an. „Du hast Heimweh, das ist ganz klar. Magst du nicht mit uns darüber reden?“

Leo sah ihn erstaunt an „Woher weißt du das?“, fragte sie, während bereits Tränen in ihren Augen schimmerten.

„So schwer ist das jetzt auch wieder nicht zu erraten.“ Benni schaute sie ernst an. „Ich habe eine große Familie, es ist manchmal megaanstrengend – für meine Eltern, für meine Geschwister, für mich, für uns alle. Die viele Arbeit, das Geld, das ständig fehlt, alle müssen zusammenhelfen, damit der Alltag klappt. Aber ich könnte keinen einzigen Tag ohne sie leben und ich will es auch nicht.“

Nun kullerten Leo die Tränen über die Wangen. „Ja, du hast recht, ich vermisse meine Familie so sehr, ich habe mir eure Welt ganz anders vorgestellt, ich dachte, alles wäre viel besser, spannender, schöner hier bei euch Menschen. Ich dachte, ich könnte ohne meine Familie auskommen, denn ihr seid für mich da, Agnes und Günther sind wie Eltern zu mir und Anna ist jetzt meine kleine Schwester, aber ich schaff es einfach nicht, ich kann nicht ...“ Damit vergrub sie ihr Gesicht in ihren Armen und schluchzte so herzzerreißend, dass wir gar nicht bemerkten, dass Franz wohl schon eine Weile hinter uns stand und uns belauschte.

„Das ist der Beweis“, brüllte er plötzlich, „schon lange habe ich den Verdacht, dass mit der da etwas nicht stimmt.“

 

Betreten schauten wir uns an, das war nun wirklich eine blöde Situation. Wir hatten gegen unsere sonstige Gewohnheit nicht aufgepasst und über Dinge geredet, die wir sonst nur in kleiner Runde besprachen.

„Du bist gar keine blöde Ausländerin, nein, du bist noch was viel Schlimmeres, du bist womöglich gar kein richtiger Mensch.“ Franz war völlig außer sich ob der Begeisterung über diese Erkenntnis.

Wieder einmal rettete die Glocke die Situation. Unser Mathelehrer stand schon in der Klasse und in diesem Fach konnte sich niemand ein negatives Auffallen oder eine schlechte Note leisten, Franz schon gar nicht.

„Das hier ist noch nicht geklärt“, raunte er Leo zu. „Ich werde herausfinden, wer oder was du wirklich bist, und wenn es das Letzte ist, was ich auf dieser Welt mache“, flüsterte er theatralisch. Dann lief er zu seinem Platz.

***

„Gevatter Dachs?“

Die schnarrende Stimme der Ratte riss den alten Dachs aus seinen Gedanken, die Notenläufe und musikalischen Abfolgen seiner Komposition, die mit ihrem fulminanten Crescendo der Höhepunkt seines kompositorischen Schaffens hätten werden können, waren ausgelöscht. Nur ein unangenehmer Summton in seinem linken Ohr, wie er in letzter Zeit häufiger auftrat, war zurückgeblieben.

Zornig starrte er dem Nachbarn entgegen. „Was soll die unerwünschte Störung?“, schimpfte er. „Ist es denn schon so weit? Ich bin noch gar nicht vorbereitet.“

„Folg mir“, war die kurze Antwort, „du wirst es nicht bereuen.“