Leo - Die Geschichte einer ungewöhnlichen Elfe

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Z serii: Leo #1
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Kapitel 3

Mein Opa war ziemlich verwundert, als er uns kurz vor Mittag im Schuppen antraf, wo wir Werkzeug zusammentrugen. „Na, treibt euch der Hunger schon nach Hause?“, fragte er.

Mein Opa ist ein lieber Mensch, er würde nie schimpfen, wenn man sich ungefragt etwas von seinen Sachen borgt. Trotzdem war er natürlich neugierig. Wir erzählten also von unserem Plan, uns ein Spielhaus im Wald zu bauen. Wir sagten aber nicht genau wo und erwähnten natürlich auch das Elfenmädchen nicht.

Großvater war sofort begeistert, er berichtete, dass auch er selbst früher als Kind ein Baumhaus im Wald gebaut hätte, um dort mit seinen Freunden Cowboy und Indianer zu spielen.

Die Idee mit dem Baumhaus fanden wir prima. Es würde zwar schwieriger werden, ein solches zu bauen, aber es hatte so viele Vorteile. Leo würde sofort sehen, wenn sich jemand näherte und auch bei einer kleineren Überschwemmung, schließlich war der Bach in der Nähe und die Lichtung lag auf abschüssigem Gelände, wäre sie in Sicherheit. Außerdem war ein Baumhaus einfach eine coole Sache. Wir hatten wohl alle den gleichen Gedanken und verständigten uns durch einen überzeugten Blick und ein kurzes allgemeines Nicken.

„Opa“, fragte ich dann, „kannst du uns bitte erklären, wie man so etwas baut? Denn gerade habe ich mir gedacht, dass eigentlich ein Baumhaus wirklich viel besser wäre als das, was wir geplant haben.“

Das ließ sich mein Großvater nicht zweimal sagen, er mag es sehr, wenn man ihn braucht. So verbrachte er die nächste Stunde damit, uns einen genauen Bauplan für das Baumhaus aufzuzeichnen. „Denn“, so erklärte er, „es ist ganz wichtig, dass man einen Baum wählt, der nicht morsch ist, da kennt ihr euch ja aus, hoffe ich.“

Wir nickten, obwohl wir uns keineswegs sicher waren, ob wir das hinkriegen würden.

„Das Haus muss stabil sein, darf aber wiederum auch nicht zu schwer geraten.“

Wir lauschten gespannt, hatten aber gleichzeitig ein mulmiges Gefühl bei der Vorstellung, das alles allein machen zu müssen.

Schließlich kam Großmutter mit Kuchen und Saft herein. Ich wurde langsam unruhig, weil ich mir Sorgen um Leo machte, die sicher schon ungeduldig auf uns wartete. Opa lieh uns seinen Handkarren, den wir mit Brettern und Werkzeug schwer beluden, und so machten wir uns am frühen Nachmittag wieder auf den Weg in den Wald.

Ich hatte sogar heimlich Kuchen in meiner Tasche verschwinden lassen. Leo würde sich freuen.

Als wir nach umständlicher Schiebe- und Schlepparbeit schließlich bei der Stelle, wo wir Leo zurückgelassen hatten, angekommen waren, war sie nicht da. Wir riefen ihren Namen und suchten die ganze Umgebung ab, aber sie blieb verschwunden.

„Vielleicht sind wir verrückt und haben uns das alles nur eingebildet“, seufzte ich, denn ich war sehr enttäuscht, nachdem wir uns das alles schon so schön ausgemalt hatten.

„Vielleicht macht sie nur einen Spaziergang und kommt bald wieder“, meinte Wendel, denn er und die anderen waren mindestens so traurig wie ich.

Lustlos luden wir die Bretter und das Werkzeug ab.

„Wir müssen erst einen geeigneten Baum suchen, wenn wir wirklich ein Baumhaus bauen wollen“, rief Georg.

So verbrachten wir die nächste halbe Stunde damit, die umliegenden Bäume auf ihre Baumhaustauglichkeit zu überprüfen. Schließlich entschieden wir uns für eine junge, kräftige Eiche. Sie entsprach in ihrem Wuchs der Beschreibung, die uns Opa gegeben hatte, und sie stand mit ihrem Stamm so nahe an dem felsigen Berghang, als würde sie sich an ihn lehnen. So konnte man die Bretter, die den Boden der Hütte bilden sollten, an den Steinen fixieren, sodass sie einen stabilen Untergrund hätten. Voll Eifer machten wir uns also ans Werk.

Ich bin recht geschickt im Umgang mit Werkzeug, denn Opa lässt mich immer in seiner Werkstatt hämmern, sägen und basteln, wenn ich dazu Lust habe. Georg und Wendel erwiesen sich als nicht sehr brauchbar, doch Benni überraschte uns alle. Nicht nur, dass er Opas Bauplan genau lesen konnte, was mir nicht so gut gelang. Er legte auch ein unwahrscheinliches Tempo beim Sägen und Hämmern vor und schlug vor, ein behelfsmäßiges Gerüst an die Eiche zu bauen, auf dem wir stehen konnten, um am Baumhaus zu arbeiten. Das war etwas, auf das wir anderen nie gekommen wären.

Als ich um halb fünf auf meine Armbanduhr schaute, weil uns die Bretter ausgegangen waren und ich wissen wollte, ob es sich noch lohnen würde, neue zu holen, war der Boden der Hütte bereits fertig und die vier Eckpfeiler standen auch schon. Wir waren sehr stolz und ich machte mich mit Benni auf den Weg, denn im Sommer ist es ja lange hell. Ich beschloss, zudem etwas zu essen mitzunehmen, denn den Kuchen, der eigentlich für Leo bestimmt gewesen war, hatten wir schon aufgegessen. Die Großeltern würden sich keine Sorgen machen und die anderen hatten mit ihren Handys zu Hause Bescheid gegeben.

Als wir nach einer Dreiviertelstunde wieder an der Stelle beim Bach angelangt waren, lag Georg mit seiner Mini-Spielkonsole unter einem Baum und bearbeitete die Tasten. Wendel saß daneben und sah zu, aber sein abwesender Blick sagte mir, dass er in Gedanken ganz woanders war. Von Leo gab es noch immer keine Spur. Ich stellte die große Kühltasche, die mir Oma gut gefüllt auf den Handwagen geladen hatte, unter einen Busch am Bachufer. Dann luden wir die Bretter ab und balancierten sie über die Steine auf die andere Seite. Wir beschlossen, noch ein bisschen weiterzubauen, obwohl wir schon sehr hungrig waren, doch die Arbeit am Baumhaus machte so viel Spaß.

Als es schon fast sieben war, hatten wir die Wände fertig mit Brettern zugenagelt. Es gab jeweils eine Aussparung für ein Fenster und für eine Tür.

Total müde und hungrig trotteten wir zu dem Platz unter dem Busch. Aber was war das? Die Kühltasche war weg. Wir starrten ungläubig auf die leere Stelle.

„Da wird doch das Huhn in der Pfanne verrückt!“, brüllte Georg und sauste wie ein geölter Blitz los.

Dann erkannten auch wir anderen die Schleifspur, die vom Busch weg in den Wald führte. Mein Verdacht bestätigte sich kurz darauf. Leo saß, mit den Resten unseres Abendessens beschäftigt, auf einem Baumstamm ganz in der Nähe.

Sie lächelte zufrieden und satt, als sie uns kommen sah. „Seid ihr schon fertig mit meinem Haus?“, fragte sie mit Unschuldsmiene.

„Du bist total unmöglich!“, schrie Georg, der wie immer sein aufbrausendes Temperament kaum zügeln konnte.

„Lass sie, sie versteht es nicht besser“, versuchte ich, ihn zu beruhigen, denn ich war froh, dass Leo überhaupt wieder aufgetaucht war. Auch Wendel und Benni freuten sich augenscheinlich, sie zu sehen, und ich wusste, es ging Georg nicht anders, er konnte es nur nicht zugeben. Stattdessen wühlte er aufgeregt in der Kühltasche herum und schimpfte vor sich hin.

„Wo bist du denn gewesen?“, fragte ich Leo neugierig.

Sie gähnte und kratzte sich am Kopf. „Ich war so müde und habe mir ein kühles Plätzchen im Moos gesucht, um zu schlafen. Als ich aufwachte, war ich furchtbar hungrig. Wie ihr wisst, kann ich ...“

„... unser Essen riechen“, beendeten wir ihren Satz im Chor.

Erst jetzt, wo die kleine, dicke, schmutzige Gestalt wieder vor uns stand, wurde mir klar, was sie uns bedeutete. Es war ein wirkliches Abenteuer, in das wir durch sie hineingeraten waren. Ein Abenteuer mit unbestimmtem Ausgang und jeder, dem wir jemals davon erzählen würden, wäre total beeindruckt. Es war richtig cool.

„Ach, Schwamm drüber, vergessen wir das Ganze“, sagte ich. „Wir können ja auch zu Hause noch etwas essen.“

„Ja, ihr schon, aber was wird aus mir?“, meldete sich Leo prompt, sie schob wieder ihre Unterlippe vor, was ihr ein sehr kindliches Aussehen verlieh. „Ihr geht nach Hause zu euren Eltern, bekommt eine schöne Mahlzeit, schlaft in euren schönen Betten, habt es gemütlich und warm, aber was wird aus mir? Ich bleibe hier zurück im dunklen Wald!“

Wir schauten uns betroffen an und mir war, als spielte ein zufriedenes Lächeln um ihren Mund, als sie unsere erschrockenen Gesichter bemerkte.

„Wir kommen morgen schon ganz früh und bringen ein richtig tolles Frühstück für dich mit!“, beeilte ich mich zu sagen.

„Einverstanden, aber bringt eine ordentliche Mahlzeit mit und nicht so winzige Portionen wie heute!“

„Das ist doch ...“, setzte Georg an, doch Wendel und Benni klopften ihm beschwichtigend auf den Arm und er verschluckte den Rest des Satzes.

Als wir wenig später auf dem Heimweg nebeneinanderher gingen, waren wir sehr schweigsam. Jeder war tief in seine Gedanken versunken. Nachdem wir auf den Hof meines Großvaters eingebogen waren, sah ich, dass Großmutter vor der Haustür stand und nach uns Ausschau hielt.

„Hallo“, rief sie uns schon von Weitem entgegen, „heute seid ihr aber spät dran!“ Es klang zwar kein bisschen vorwurfsvoll, dennoch wusste ich, dass sie sich Sorgen um uns gemacht hatte.

Die anderen verabschiedeten sich eilig. Georg schwang sich auf sein Rad, er hatte es am weitesten nach Hause.

Die Großmutter legte ihren Arm um meine Schulter und wieder einmal bemerkte ich, dass ich schon fast genauso groß war wie sie. „Na, wie war es, geht es voran mit eurer Hütte?“

„Ja. Das Baumhaus wird super, aber es ist sehr viel Arbeit und wir brauchen noch mehr Bretter und ganz viel Essen für morgen, Oma“, sprudelte ich heraus.

 

„Das lässt sich sicher machen“, lächelte sie, „aber jetzt gehst du dich erst einmal waschen und dann schlafen.“ Ich war viel zu müde, um zu widersprechen.

Als ich wenig später gemütlich in meinem Bett lag, musste ich an Leo denken. Das Fenster stand offen und die kühle Nachtluft streifte mein Gesicht. Fröstelnd zog ich die Decke bis zur Nasenspitze hoch. Was machte sie wohl da draußen im Wald so alleine? Ob sie Angst hatte? Ob sie fror?

Ich sprang aus dem Bett, lief ans Fenster und starrte angestrengt zum Wald hinüber. Aber es war schon zu dunkel, als dass ich noch etwas hätte erkennen können. Doch dann erschien ein fahler Halbmond hinter den Baumwipfeln und tauchte alles in diffuses silbriges Licht.

Und plötzlich sah ich ein großes schwarzes Tier, das langsam aus dem Wald heraustrat, und an seiner Seite schritt eine kleine, dickliche Gestalt.

Ich warf das Fenster zu, zog die Vorhänge vor und kletterte zitternd unter meine Decke. Mein Herz hämmerte bis zum Hals. Fest kniff ich die Augen zusammen, während meine Gedanken wild durcheinanderjagten. Aber irgendwie muss ich trotzdem eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, war es heller Tag.

*


*

Kapitel 4

Ein seltsames Geräusch hatte mich geweckt und es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, woher es kam. Jemand warf Steine gegen die Scheiben. Ich sprang aus dem Bett und zog die Vorhänge auf, da standen Georg, Benni und Wendel und winkten wie verrückt. Als ich das Fenster aufriss, hörte ich Georg schon schreien: „Was ist los, du ratzt noch friedlich vor dich hin? Komm, mach, beeil dich gefälligst ein bisschen, du weißt ja, was wir ihr versprochen haben.“

„Pst ...“, machte Wendel und blickte sich ängstlich um.

Ich fuhr in meine Kleider und rannte zu Großmutter in die Küche hinunter. „Setz dich hin und iss in Ruhe, euer Baumhaus rennt euch nicht davon“, begrüßte sie mich.

Halbherzig biss ich ein paarmal von einem Marmeladenbrot ab, das sie mir gestrichen hatte, und nahm einen Schluck vom Tee.

„Viel zu heiß!“, stöhnte ich, schnappte mir meinen Rucksack, den Oma schon gepackt hatte, gab ihr im Vorbeirennen noch einen Kuss auf die Wange und weg war ich.

Wir hatten es ziemlich eilig, zu der Stelle im Wald zu kommen, wo die Eiche mit unserem halbfertigen Baumhaus stand und wo wir uns am Vorabend von Leo verabschiedet hatten.

Sie watete gerade am Bachufer im flachen Wasser herum, als wir kamen, und Georg raunte mir zu: „Wird auch höchste Zeit, dass die sich mal ihre Füße wäscht.“

„Das habe ich gehört!“, rief Leo, aber es klang sehr fröhlich.

Die Elfe verbrachte den restlichen Tag damit, unser mitgebrachtes Essen zu verputzen und es dann unter einem Gebüsch schlafend zu verdauen. Wir plagten uns inzwischen mit dem Dach für das Baumhaus ab. Es war viel schwerer als befürchtet, die langen Bretter hochzuhieven und sie dann dort festzunageln. Es erforderte unsere ganze Kraft. Die Rampe, die wir gebaut hatten, war nicht hoch genug und so kletterten wir waghalsig auf der Eiche und dem Felsen hinter der Hütte herum. Ich war froh, dass uns von den Erwachsenen keiner sehen konnte. Zweimal musste ich mit dem Handkarren zum Hof der Großeltern zurück, um neues Material zu holen.

„So“, seufzte der Großvater bei der zweiten Fuhre, „jetzt habe ich dann bald keine Bretter mehr.“

Die Großmutter hatte mir in ihrer fürsorglichen Art frischen Kuchen mitgegeben. Die ganze Zeit, die ich mit den Brettern durch den Wald fuhr, freute ich mich schon darauf, ihn zu essen. Jeder von uns hatte zwar heute Morgen eine Menge Nahrung in seinem Rucksack von daheim mitgebracht, doch der Appetit der kleinen Elfe schien unstillbar. So war für uns wieder fast nichts übrig geblieben und bei jedem Bissen, den wir nahmen, hatte uns Leo vorwurfsvoll angestarrt, sodass uns bald der Hunger vergangen war. Doch jetzt am Nachmittag knurrte mein Magen.

„Das ist ja wie in einem Diätferienlager“, dachte ich missmutig. Ich beschloss, falls Leo immer noch schlafen sollte, denn außer essen und schlafen hatte sie den ganzen Tag über nichts gemacht, den Kuchen heimlich mit den anderen zu teilen und rasch zu essen.

Da die Elfe, als ich ankam, nirgends zu sehen war, hielt ich die Plastikdose hoch und rief mit gedämpfter Stimme: „Kommt, den verputzen wir schnell, bevor sie aufwacht, sonst bleibt wieder nichts für uns über!“

„Zu spät“, mischte sich eine inzwischen vertraute schrille Stimme direkt hinter mir ein. „Das würde dir so passen, ich möchte auch was von der süßen Speise. Du weißt ja hoffentlich inzwischen, dass ich euer Essen riechen kann, und das hier riecht besonders köstlich.“

Missmutig sahen wir also dabei zu, wie Leo den Großteil des Kuchens verputzte.

„Die erinnert mich an ein gefräßiges Walross“, flüsterte Benni an meinem Ohr.

„Wenn sie so weiterisst, schaut sie auch bald so aus“, brummte ich.

Georg schwieg, was verdächtig war, denn normalerweise ist er derjenige, der den Mund nicht halten kann. Ich blickte besorgt zu ihm hinüber, doch da platzte es auch schon aus ihm heraus: „Vielleicht bist du gar keine Elfe, sondern ein böses Alien, das beschlossen hat, uns auszuhungern. Und wenn wir dann ganz schwach geworden sind, tötest du uns und frisst unsere Gehirne.“

„Pfui!“, schrie Leo und spuckte dabei Kuchenbrösel durch die Luft. „Was bist du dumm! Es würde sich gar nicht lohnen, dein Gehirn zu essen.“

Alle lachten, nur ich musste plötzlich daran denken, was ich gestern Nacht beobachtet hatte. Eben, als sie laut mit Georg geschimpft und dabei den Mund so weit aufgerissen hatte, hatte sie zwei Reihen winziger, spitzer Zähne entblößt, die mich stark an das Gebiss eines jungen Hundes erinnerten. Mir war ziemlich unbehaglich zumute, doch den anderen schien nichts aufgefallen zu sein.

„Das Baumhaus ist fertig“, wechselte ich daher das Thema, um mich wieder auf andere Gedanken zu bringen. „Du hast jetzt ein Dach über dem Kopf, kannst heute Nacht ruhig schlafen und musst nicht umherwandern.“ Das war eine Bemerkung, die nur ich und sie verstehen würden, wenn ich mich gestern Abend nicht getäuscht hatte.

Leo schaute mich mit ihren dunklen Augen lange an, dann lächelte sie und schüttelte fast unmerklich ihren Kopf. „Ja, es ist schön geworden, aber ich muss noch einiges daran machen. Ihr könnt jetzt nach Hause gehen.“ Das war der Gipfel, sie hatte bis jetzt keinen einzigen Handgriff getan und nun redete sie so, als wäre sie Bob der Baumeister persönlich!

Müde beluden wir den Karren mit den Werkzeugen und den Holzabfällen.

„Wie soll es denn jetzt weitergehen?“, fragte Georg Leo schließlich, bevor wir uns auf den Heimweg machten.

„Morgen früh, um dieselbe Zeit wie bisher, erwarte ich euch hier, wir werden dann besprechen, wie es weitergeht. Und vergesst nicht, etwas zu essen mitzubringen. Ihr könnt ja für euch auch was einpacken. So, nun wünsche ich euch eine gute Nacht und, Felix, mach nur immer dein Fenster fest zu!“

„Was hat sie denn damit gemeint?“, wollten die anderen auf dem Heimweg von mir wissen.

„Hab keine Ahnung“, log ich, aber mir war nicht wohl in meiner Haut. Ich glaube, die Großeltern merkten beim Abendessen auch, wie einsilbig ich war, und machten sich ihre Gedanken.

Als ich schon im Bett lag, kam Opa zu mir ins Zimmer und setzte sich neben mich. „Es ist so ein schöner lauer Abend, magst du nicht ein bisschen das Fenster aufmachen?“, meinte er mit einem Blick auf die fest geschlossenen Vorhänge.

„Nein“, murmelte ich, „mir ist sonst kalt.“

Besorgt fühlte er meine Stirn. „Du wirst doch nicht krank, oder?“, fuhr er mit forschendem Blick fort. „Ich kann mich doch auf dich verlassen? Ihr macht im Wald keinen Blödsinn, oder?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ganz bestimmt nicht!“ Ich versuchte, fröhlich zu klingen.

„Ich glaube, ich komm euch morgen einmal besuchen.“ Damit stand Opa auf, an der Tür sagte er noch: „Schlaf recht gut und träum was Schönes.“ Dann schloss er sie leise hinter sich.

Obwohl ich furchtbar müde war, konnte ich jetzt natürlich nicht einschlafen. Eigentlich wusste ich, dass man alles mit seinen Eltern besprechen sollte, und wenn die nicht da waren, so wie jetzt in den Ferien, dann mit den Großeltern. Aber würde mir überhaupt jemand glauben? Ich hatte Angst, dass der Zauber womöglich vorbei wäre, sobald man einen Erwachsenen einweihte, das hatte ich einmal irgendwo gelesen. Und obwohl mir Leo mittlerweile ein wenig unheimlich war, fand ich unser Abenteuer mit ihr so spannend, dass ich auf keinen Fall wollte, dass es zu Ende war. Dass der Großvater uns besuchen kommen wollte, war mir daher gar nicht recht. Ich wusste nur nicht, wie ich ihn davon abhalten sollte.

Irgendwann schlief ich doch ein und träumte lauter wirres Zeug. Ich weiß nur noch, es ging um ein großes schwarzes, zotteliges Tier, das sich ans Fußende meines Bettes gelegt hatte, und ich glaubte mich zu erinnern, dass es dort Wache hielt. Doch viel mehr wusste ich am nächsten Morgen nicht.


*

Kapitel 5

Ich wachte schon sehr früh vom Signal meines Handys auf. Wendel hatte mir eine SMS geschickt. Er schrieb:

Ich komm heute nicht. Anna ist langweilig, wenn wir

den ganzen Tag im Wald sind. Mutter will, dass ich sie

mitnehme. :-(

Ich schrieb zurück:

Bring sie einfach mit. Es ist schon alles egal. Opa will

auch kommen und das Baumhaus sehen. :-((

Wenig später trafen wir uns wieder bei uns auf dem Hof. Meine Oma freute sich, als sie Anna sah. Ich glaube, sie wünscht sich heimlich eine Enkelin. Wie ich darauf komme, weiß ich zwar nicht genau, aber ich denke, es ist so. Sie begann mit Wendels Schwester ein Gespräch, während ich die Gelegenheit nutzte und mit den anderen ein Stück zur Seite trat, außer Hörweite.

„So, und was machen wir jetzt?“, flüsterte ich aufgeregt.

„Warum hat der denn seine blöde Schwester mit?“, fragte Georg mit einem finsteren Blick auf Wendel.

„Mein Opa will uns auch besuchen kommen“, murmelte ich.

„Was ist denn jetzt los?!“, schimpfte Georg. „Sind denn alle verrückt geworden?“

„Na, halten die Herren einen Kriegsrat ab?“ Das war der Großvater. Wir hatten ihn gar nicht kommen gehört. „Ich wollte euch nur sagen, den Besuch in eurem Baumhaus muss ich leider auf einen anderen Tag verschieben, mir ist nämlich etwas dazwischengekommen. Ich fahre heute in die Stadt wegen einer dringenden Besorgung. Passt schön auf euch auf und macht mir keine Dummheiten! Ich verlass mich auf euch.“ Er zwinkerte uns zu, dann ging er davon.

„Hapü ... das ist ja gerade noch einmal gut gegangen!“, stöhnte ich.

„Jetzt müssen wir nur noch mit deiner blöden Schwester fertig werden“, schimpfte Georg.

„Ich bin nicht blöd!“, fauchte Anna, die plötzlich neben uns stand.

„Na, Kinder“, sagte die Großmutter, die auch dazugekommen war. „Streitet euch nicht, sonst kann ich euch nicht in den Wald lassen. Der Gedanke, dass dort den ganzen Tag gestritten wird, ist für mich so furchtbar, dass ich euch dabehalten muss. Ihr könntet mir ja in der Küche helfen.“ Sie lächelte uns an.

„Nein, wir vertragen uns!“, rief ich rasch und nahm Anna bei der Hand. „Komm, wir gehen.“

Sie befreite sich sofort aus meinem Griff und schimpfte: „Spinnst du? Ich bin doch kein Baby!“

„Da ist dein Rucksack, ich habe heute extra viel eingepackt. Bei der guten Waldluft entwickelt ihr ja alle scheinbar einen Riesenhunger“, lachte die Oma. „Passt schön auf, vor allem auf Anna.“

Missmutig machten wir uns auf den Weg. Ich überlegte fieberhaft, wie ich Leo warnen konnte, aber selbst wenn mir das gelingen sollte, würden wir sie dann den ganzen Tag nicht sprechen können. Und was sollten wir mit Anna beim Baumhaus spielen? Es war zum Aus-der-Haut-Fahren.

 

Anna schien von unseren Nöten nichts zu bemerken, sie plapperte ständig irgendeinen Blödsinn vor sich hin, wie schön das Wetter sei und wie schön die Vögel sängen und wie gespannt sie auf unser Baumhaus wäre. Georgs Miene verfinsterte sich mit jedem Meter, den wir zurücklegten, da hatte ich plötzlich eine gute Idee. Ich tat so, als würde ich über eine Wurzel stolpern, und warf mich der Länge nach hin. Dann blieb ich ein bisschen am Boden liegen, der Dramatik wegen. Sofort kamen alle zu mir gelaufen, allen voran Anna. Wendel hatte mir einmal erzählt, sie wolle später Ärztin werden und habe schon alle Haustiere kuriert. Vor allem Emmy, das alte, kranke Meerschwein, war nur dank ihrer Fürsorge noch am Leben, wie sie nicht müde wurde, uns immer wieder zu versichern.

Ich richtete mich auf und hielt mir jammernd mein rechtes Bein. „Aua, aua, ich hoffe nur, ich habe mir nichts gebrochen.“ Georg und ich tauschten einen kurzen Blick und schon wusste er Bescheid. In dem allgemeinen Hin und Her um mein verletztes Bein bemerkte keiner, dass er sich in Richtung Baumhaus davonschlich.

Zumindest Anna nicht, denn sie untersuchte mich genau und meinte dann: „Bist du sicher, dass dir da etwas wehtut?“

„Ja, ja, au, aua ... Und wie!“

„Komisch, ich könnte schwören, mit deinem Bein ist alles in Ordnung. Ich schätze, außer ein paar blauen Flecken hast du nichts abbekommen.“

Wendel half mir hoch und auf ihn gestützt humpelte ich nun im Schneckentempo in Richtung Waldlichtung. Anna war voller Misstrauen, sie verließ sich mehr auf ihre medizinischen Fähigkeiten als auf mein wehleidiges Getue. Und wie alle Mädchen hat sie die Gabe, sofort zu spüren, wenn etwas faul ist. Sie war nun auf der Hut und beobachtete uns genau. Aber ich war zu vertieft in meine Rolle und auch die anderen ließen sich nichts anmerken.

„Wo ist denn Georg hin?“, wollte Anna plötzlich wissen.

Wir taten erstaunt. „Ja, wo ist er denn? Georg! Georg!“, riefen wir theatralisch.

„Sicher ist er schon vorausgelaufen“, meinte Wendel.

„Also, ich glaube euch kein Wort mehr. Du kannst mit der Komödie aufhören, Felix, deinem Bein geht es gut, so viel weiß ich jedenfalls.“ Wir warfen uns besorgte Blicke zu. „Ihr verheimlicht mir etwas, aber ich werde schon noch herausfinden, was es ist. Verlasst euch drauf!“

Da tauchte Georg plötzlich wieder auf.

„Wo bist du gewesen?“, fauchte Anna ihn an.

Georg spielte das Unschuldslamm. „Ich musste mal ... ähem ...“ Er räusperte sich auffällig. „... mein Geschäft machen ... groß ... wenn du es genau wissen willst.“ Brüllendes Gelächter folgte.

Anna wurde rot, sagte aber nichts mehr.

Als wir am Bachufer auf der Lichtung ankamen, war die Stimmung immer noch sehr frostig. Von Leo war nichts zu sehen, das war zumindest positiv. Vorsichtig hüpften wir über die Steine auf die andere Seite des Baches und nun waren wir doch sehr gespannt, wie Anna unser Baumhaus finden würde.

Aber was war das? Selbst bei genauem Hinschauen war es fast nicht zu erkennen. Dort, wo gestern noch rohe Bretter gewesen waren, war nun alles grün, das ganze Baumhaus war über und über mit Moos und Pflanzen bedeckt.

„Schöööön! Wie habt ihr das nur gemacht?“, rief Anna begeistert. Schon kletterte sie die Leiter hinauf und wir hörten von unten ihre Jubelrufe: „Toll, das ist ja wie Zauberei, das kann man gar nicht glauben, wenn man es nicht selbst gesehen hat!“

Wir Jungen warfen uns irritierte Blicke zu, kletterten rasch die Leiter hinauf und starrten ungläubig hinein. Sogar im Inneren der Hütte war alles mit dichten, weichen Moospolstern bedeckt. An den Fenstern wuchsen Gräser herab, die wie zarte Vorhänge aussahen. Sogar der Felsen, der die Rückwand des Hauses bildete, war überzogen mit weichem dunkelgrünem Moos.

Staunend blickten wir uns um.

„Ist das super!“, rief Benni.

Anna stutzte. „Ihr habt das auch noch nicht gesehen, oder?“

„Doch, doch ... wir ... wir ... wir haben das ja gemacht“, beeilte sich Wendel zu versichern.

Anna zupfte ein Moospolster von der Felswand ab. „Ich bin doch nicht dumm! Das Moos ist überall festgewachsen und die Pflanzen und das Gras auch, so was könnt ihr nicht. Das passiert nur, wenn etwas lange irgendwo steht und dann von selber zuwächst. Wie ist das möglich, wenn ihr erst vorgestern mit dem Bauen angefangen habt?“

Wir machten betretene Gesichter. „Was ist hier los? Wenn ihr mir jetzt nicht sofort sagt, was hier los ist, ruf ich Mama an!“ Anna fischte geschickt Wendels Handy aus seiner Hosentasche und fuchtelte damit drohend vor unseren Gesichtern herum.

Bevor wir überhaupt reagieren konnten, hörten wir eine vertraute schrille Stimme von unten. „Das wird nicht nötig sein, ich habe das nämlich alles gemacht.“ Leo stand am Fuße der Leiter und schaute zu uns herauf.

Wir erstarrten, bevor mehrere Dinge gleichzeitig passierten. Anna streckte den Kopf aus der Tür, um zu schauen, wer da mit uns redete, und sah Leo. Genauso wie Leo Anna sah. Instinktiv hielten wir uns die Ohren zu, denn in jedem Film und in jedem Buch hätten die beiden sofort losgeschrien, und zwar auf diese seltsame, durchdringende Art, in der Mädchen immer kreischen. Doch wider Erwarten blieben sie ganz still und starrten sich nur an.

Weil ich ganz nahe bei Anna kniete, bemerkte ich, dass sie blass geworden war, und ich konnte an ihrem Hals deutlich sehen, dass ihr Herz ziemlich rasch schlug. Ich denke, sie war sehr erschrocken. Darum legte ich meinen Arm um sie, was mir natürlich in späteren Zeiten viel Spott und Hänseleien eingetragen hatte. Aber es war wie ein Reflex, in diesem Augenblick wollte ich sie nur beschützen.

„Darf ich vorstellen? Das da unten ist Leo und das ist Anna, die Schwester von Wendel“, sagte ich mit möglichst beruhigender Stimme.

Anna holte hörbar Luft. Dann schüttelte sie sich wie ein nasser Hund und schaute uns der Reihe nach an „Das also wolltet ihr vor mir geheim halten!“, rief sie mit triumphierender Stimme.

„Ja“, antwortete Georg, „und es wäre wohl besser gewesen, wenn uns das gelungen wäre.“

Inzwischen war Leo langsam die Leiter hochgeklettert. Sie stand nun am Eingang zur Hütte und es schien, als gehorche das Baumhaus einem geheimen Zauber, denn als sie hereinkam, wurde es plötzlich viel größer und geräumiger und wir hatten alle bequem Platz.

Die Elfe setzte sich in unsere Mitte. „Wo sind die Speisen?“, fragte sie und schien die Anwesenheit von Anna gar nicht mehr zu bemerken.

„Gehen wir also zur Tagesordnung über“, ätzte Georg und kletterte hinunter, um unsere Rucksäcke heraufzuholen.

Anna wollte sich nützlich machen, um damit ihre Verlegenheit zu überspielen, und begann, das mitgebrachte Essen in sechs gleich große Portionen aufzuteilen, allerdings hatte sie nicht mit Leo gerechnet.

„Was tust du da?“ Leos Stimme war um einiges lauter als sonst und die Elfe war mit drohend in die Hüften gestemmten Armen aufgestanden.

„Ich teile alles gerecht auf“, lautete Annas unschuldige Antwort.

„Ich bestimme, was hier gerecht ist!“

„Warum?“ Erstaunt blickte Wendels Schwester das kleine Wesen an.

„Weil ich wachsen muss.“

„Ich auch.“

Leo betrachtete Anna von Kopf bis Fuß. „Mag sein, aber ich habe eure Speisen viel nötiger als ihr.“ Sprachʼs, setzte sich wieder und begann, in Hochgeschwindigkeit zu essen.

Anna schüttelte den Kopf und nahm sich auch etwas. Doch Leo starrte sie mit vollem Mund so lange finster an, bis sie es wieder zurücklegte und murmelte: „Eigentlich bin ich noch gar nicht hungrig.“

„Gestern hieß es, du sagst uns heute, wie es weitergehen soll. Und ich schätze, Anna müssen wir auch einiges erklären“, ergriff ich das Wort.

„Das übernehme ich, schließlich bin ich ihr Bruder“, mischte sich Wendel ein.

„Halt!“ Leo hatte die Hand gehoben und heftig kauend rief sie: „Ich werde das alles zur rechten Zeit machen. Zuerst will ich jedoch etwas ruhen. Ihr könnt ja einstweilen eure Spiele spielen oder noch besser: Gestern sah ich nicht weit von hier eine Waldhimbeerhecke, geht doch und pflückt mir ein paar Beeren.“

Missmutig kletterten wir aus dem Baumhaus, und als wir außer Hörweite waren, begannen wir fast gleichzeitig, aufgeregt durcheinanderzureden.

„Das ist wirklich eine Frechheit, wir sind doch keine Sklaven!“, schimpfte Georg.