Majestätische Berge

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

«Ein freyes und glückseliges Volk»

«Wenn man ein freyes und glückseliges Volk sehen will, so muß man in die Schweitz reisen.» Mit diesen Worten leitete Johann Michael von Loën einen Bericht über die Eidgenossenschaft ein, die er 1719 und dann wieder im Gefolge der erwähnten hessischen Prinzessin 1724 bereist hatte. Es sei erstaunlich, wie Menschen mit derart grossen Unterschieden punkto Religion, Sitte und Sprache seit dem ersten Bund von 1315 eine so «unverbrüchliche Vereinigung» und eine so «mächtige Republick» haben erschaffen können. «Keine Länder in der Welt sind besser zu einer freyen Republick gelegen. Die Natur hat sie gleichsam mit unersteiglichen Mauren umgeben. Ihre eigne Nachbarn beschützen sie durch ihre Eifersucht, indem es einem jeden nachtheilig seyn würde dem andern einen Flecken davon zu gönnen.» Einige meinten freilich, dass es die «natürliche Armuth» sei, welche die Schweizer vor Einfällen auswärtiger Feinde schütze. Denn sie hätten ausser einigen Eisenbergwerken und ihren Weiden in den Tälern wenig Schätze.

«Allein diejenigen, welche so urtheilen, kennen den wahren Werth der Länder nicht. Die ganze Schweitz, auch in den wildesten Gebürgen, ist voller Menschen; diese sind die wahren Reichthümer eines Landes. Was kann man nicht mit ihnen ausrichten, zumahl mit solchen, die frisch, gesund, arbeitsam, redlich und beherzt, wie die Schweitzer, sind?»12

Über die Schweizer zirkulierten allerdings noch andere Urteile, welche von Loën seinen Lesern nicht vorenthielt. Sie galten – besonders bei den Franzosen – als «unhöfliches, rohes und grobes Volk», kurz: als dumme Bauern («gros paisans»). Er selbst war positiver gestimmt und hob ihren Witz hervor, der sich ihrer freien Denkungsart verdanke. Doch die Freiheit hatte in seinen Augen auch Schattenseiten. Sie mache das gemeine Volk «ein wenig trotzig und ungesittet, auch hin und wieder wollüstiger und üppiger, als man es in diesen Ländern vermuthen sollte».13 Es ist nicht sicher, wann genau von Loën den Schweizer Bericht und jenen über die Prinzessin zu Papier brachte. Wahrscheinlich geschah es in den 1740er-Jahren und vielleicht zuerst in französischer Sprache, die im Adel und in gebildeten Kreisen weit über Frankreich hinaus verbreitet war. In seinen gesammelten «Kleinen Schriften» erschienen die Texte erstmals 1749. Von Loën war ein sehr produktiver Autor. Das Neue Gelehrte Europa, eine in Wolfenbüttel gedruckte Galerie von Intellektuellenbiografien bemerkte 1753: «Der Hr. von Loen ist gegenwärtig in der gelehrten Welt eine Person, auf welche aller Augen gerichtet sind.» Der preussische König und Aufklärungsfreund Friedrich II. berief ihn als Regierungspräsidenten von zwei Grafschaften. Früher hatte von Loën solche Berufungen abgelehnt und sittenkritische Romane verfasst. Jetzt sagte er zu, blieb aber weiterhin stolz, einem neuen Zeitalter der Vernunft anzugehören und für das Wohl der Gesellschaft zu arbeiten. Dazu eigneten sich in seinen Augen die Staatsform einer reformfreudigen, zentralistischen Monarchie, aber auch – wie mit dem Schweizer Beispiel belegt – demokratisch-republikanische Verfassungen.14


Abb. 2: Johann Michael von Loën (1694–1776), deutscher Autor und Staatsmann der Aufklärung. Frontispiz seiner «Kleinen Schriften», Ausgabe 1750.

Karriere in einem kulturell aufgeschlossenen deutschen Fürstenstaat machte auch von Loëns Grossneffe, ein anderer Frankfurter, auf den nun wirklich viele Augen blickten: Johann Wolfgang Goethe. In Dichtung und Wahrheit (1811) würdigte Goethe den Schwager seiner Grossmutter als mutigen Mann, der mit kritischen und vorurteilsfreien Schriften viel bewirkt und sich auch Unannehmlichkeiten eingehandelt habe.15 Goethe selbst war der Schweizer Bergwelt vor allem aus Gründen des ästhetisch-emotionalen Naturerlebnisses und seiner damit verbundenen Naturforschung zugetan. Er hatte sie drei Mal während mehreren Monaten besucht: 1775, 1779 und 1797. Beim letzten Mal gehörte er zu den berühmtesten Autoren seiner Zeit. Tagebücher, Briefe, Gedichte, Zeichnungen und weitere Dokumente zeugen von diesen streckenweise zu Fuss zurückgelegten Reisen. Auch Texte, welche die Alpen nicht nennen, könnten von ihnen inspiriert gewesen sein, wie etwa die kleine Abhandlung Über den Granit. In ihr verband Goethe die Betrachtung des menschlichen Herzens mit der Beobachtung dieses «ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der Natur».


Abb. 3: «Scheideblick vom Gotthard nach Italien». Zeichnung von Johann Wolfgang Goethe vom 22. Juni 1775.

«Auf einem hohen nackten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend, kann ich mir sagen: Hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht, keine neuere Schicht, keine aufgehäufte zusammengeschwemmte Trümmer haben sich zwischen dich und den festen Boden der Urwelt gelegt.»16

Eine sehr bekannte, weil umstrittene Äusserung über die politischen Verhältnisse in der Schweiz legte Goethe einer Romanfigur in den Mund. Die Passage wurde 1796 geschrieben und erschien 1808 in Briefe aus der Schweiz, die einer Edition der Leiden des jungen Werthers angehängt und als von diesem stammend ausgegeben wurde:

«Frei wären die Schweizer? frei diese wohlhabenden Bürger in den verschlossenen Städten? frei diese armen Teufel an ihren Klippen und Felsen? Was man dem Menschen nicht alles weiß machen kann! besonders wenn man so ein altes Märchen in Spiritus aufbewahrt. Sie machten sich einmal von einem Tyrannen los und konnten sich in einem Augenblick frei denken; nun erschuf ihnen die liebe Sonne aus dem Aas des Unterdrückers einen Schwarm von kleinen Tyrannen durch eine sonderbare Wiedergeburt; nun erzählen sie das alte Märchen immer fort, man hört bis zum Überdruß: sie hätten sich einmal frei gemacht und wären frei geblieben; und nun sitzen sie hinter ihren Mauern, eingefangen von ihren Gewohnheiten und Gesetzen, ihren Fraubasereien [Geschwätz] und Philistereien [Kleingeistigkeit], und da draußen auf den Felsen ist auch wohl der Mühe wert, von Freiheit zu reden, wenn man das halbe Jahr vom Schnee wie ein Murmeltier gefangengehalten wird.»17

Laut Forschung ist die wahre Absicht des Autors in dieser Passage schwer zu ermitteln. Schon die Stereotypie des Diskurses könnte zum Widerspruch gereizt haben. Tatsächlich war die Botschaft von der Schweizer Freiheit seit den 1760er-Jahren in der Reiseliteratur fast gebetsmühlenartig wiederholt und verbreitet worden. Das war auch die Zeit, als das lange, barock anmutende Lehrgedicht von Albrecht von Haller über die Alpen (1732) wirklich berühmt wurde. Nicht wenige bemühten sich jetzt, es auswendig herzusagen. Mit der Zeit jedoch wurde der Blick einiger Autoren kritischer. Einerseits kannte man das idealisierte Land nun besser als früher, andererseits erhöhte die zunehmende Politisierung der Aufklärung die Massstäbe. Die altertümliche Gerichtspraxis in der Eidgenossenschaft sorgte bei Aufklärern für Unmut. So besonders im Fall von Anna Göldin, die 1782 unter dem Vorwurf der Hexerei verhaftet und – weil man das offiziell nicht mehr sagen durfte – wegen Giftmords verklagt und hingerichtet wurde. Das aristokratische Regiment in den Städten und die Geschlechterherrschaft in den Länderorten gerieten nun vermehrt in die Kritik, besonders seit die 1789 ausgebrochene Revolution in Frankreich nach grundsätzlichen Massnahmen und Entscheidungen rief. Während sich die einen auf die Seite der überzeugten Erneuerer schlugen und die Freiheit in der Schweiz als bisher nicht verwirklichte Fiktion geisselten, konnten konservative Geister diese Freiheit jetzt umso mehr als übertrieben empfinden.18 Ohnehin liessen sich viele Behauptungen über die Machtverteilung schlecht überprüfen. Wenn es einen Ort gab, wo man die republikanisch-freiheitliche Verfassung im Vollzug beobachten und sinnlich erleben konnte, dann waren es die periodischen Versammlungen der politisch berechtigen Landleute, die sogenannten Landsgemeinden.

Landsgemeindedemokratie

Im Jahr 1777 war die allgemeine Landsgemeinde in Glarus auf Sonntag, den 27. Juli, angesetzt. Infolge starker Regenfälle und Überschwemmungen wurden jedoch viele Landleute aufgehalten, sodass sich nur etwa ein Drittel auf der grossen Wiese zwischen dem Hauptort und Schwanden einfand. Der Landammann beorderte die Anwesenden daher in die Kirche und liess darüber befinden, ob man das jährliche politische Grossereignis aus gegebenem Anlass auf den folgenden Tag verschieben sollte. Eigentlich war die Teilnahme für die erwachsenen Männer verpflichtend. Zugleich fragte er die gut tausendköpfige Versammlung, ob einige ausländische Reisende – drei Engländer und ein Franzose – diese Landsgemeinde besuchen durften. Beim Franzosen handelte es sich um den 22-jährigen Louis Ramond de Carbonnières, der einen Bericht dazu hinterlassen hat: «Eine brausende und schmeichelhafte Akklamation kündigte uns die Einwilligung dieser Republikaner an», stellte er zufrieden fest.19

Im Verlaufe des Sonntags trafen dann mehr und mehr Stimmberechtigte ein, und am nächsten Morgen begaben sich alle auf die Landsgemeindewiese. Dort war ein vierfacher Ring von Bänken mit einem Durchmesser von ungefähr hundert Metern («plus des trois cents pieds») aufgestellt. Auf den innersten Bänken sassen die Räte, auf den anderen die gemeinen Männer, alle mit Waffen und ohne für fremde Augen erkennbare Rangunterschiede. Der Landammann stand aufrecht, gestützt auf ein «Freiheitsschwert», mit dem man angeblich einst die Österreicher vertrieben hatte, neben ihm ein Gerichtsdiener und zwei Weibel in den Standesfarben. Die Frauen kamen nicht an den Ring heran, die Knaben konnten hingegen im Innern auf dem Boden sitzen. Der Landammann eröffnete die Versammlung mit einer Rede zur aktuellen Erneuerung der Allianz zwischen der Eidgenossenschaft und Frankreich, die zwei Monate vorher nicht ohne Nebengeräusche abgeschlossen worden war. Sie wurde jetzt von den Glarnern mit grossem Beifall und ohne Auszählung der Stimmen ratifiziert. Nachher zogen sich während neun Stunden viele Wahl- und Sachgeschäfte hin. Ramond de Carbonnières scheint sich aber – wie er eigens hervorhob – nicht im Mindesten gelangweilt zu haben. Die schnörkellosen Reden, der an die Antike gemahnende demokratische Entscheidungsprozess und die alpine Landschaft hatten ihn zur Gänze gefangen genommen.

 

«Welches Gebäude besässe die Majestät dieses Tales, das von den natürlichen Bollwerken des Landes geschützt, mit Alphütten übersät und von Viehherden bedeckt ist, welche diesen Republikanern die Annehmlichkeiten ihres Landes vor Augen führen und in allen Herzen immer aufs Neue die Liebe zum Heimatland entfachen? Ich war durchdrungen von dem, was ich sah, und konnte diese erhabene Verbindung von Grösse und Einfachheit nicht genug bewundern.»20

So ausführlich die Schilderungen von Ramond de Carbonnières waren, sie erschienen nicht als selbstständiger Reisebericht, sondern in einem Buch über die Schweiz, das man als zweistimmig bezeichnen kann. Der Engländer William Coxe, der ein Jahr vorher das Land als Begleiter eines jungen Herzogs besucht hatte, publizierte 1779 eine Beschreibung der Schweiz in Form von Briefen. Sie wurde bald von Ramond de Carbonnières ins Französische übersetzt, allerdings in sehr freier Form. Er fügte längere «Bemerkungen» und «Reiseabschnitte» des Übersetzers hinzu. Manchmal dienten die Zusätze zur Bestätigung von Coxe, oft aber auch zu einer impliziten oder expliziten Kritik. Wenn man die beiden in dieser Publikation von 1781 vereinten Autoren einordnen will, liesse sich der Engländer als vernunftbetont charakterisieren, der Franzose als gefühlsbetont. Die Unterschiede deuteten sich etwa bei ihrer Rousseau-Lektüre an. Jean-Jacques Rousseau hatte seinen berühmten Liebesroman Julie ou la Nouvelle Héloïse am Genfersee und in den angrenzenden Walliser Bergen situiert. Der 1761 erstmals erschienene Roman schlug alle Verkaufsrekorde und lenkte die Fantasie des europäischen Publikums auf die Alpen. Nicht wenige pilgerten mit dem Buch in der Hand an die Orte des fiktiven Geschehens. So auch die beiden Autoren. Coxe schrieb dazu zwei Seiten, Ramond de Carbonnières wollte mehr bieten und wies in Zusätzen auf einen besonderen Aussichtspunkt und einen weiteren Erinnerungsort hin.21


Abb. 4: Die Landsgemeinde in Trogen, Appenzell Ausserrhoden, vom 24. April 1814. Sie wurde wie andere Landsgemeinden auch von ausländischen Reisenden besucht. Druckgrafik nach einer Zeichnung von Johann Jakob Mock.

Der Autor und sein Übersetzer stammten nicht nur aus verschiedenen Ländern, sondern auch aus verschiedenen Milieus. Ramond de Carbonnières hatte Jurisprudenz studiert und gehörte in seiner Studentenzeit in Strassburg zu einem Literaturzirkel, in dem wichtige Protagonisten des deutschen Sturm und Drang verkehrten. Er war ebenfalls literarisch tätig. Später wurde er Kardinalssekretär, Politiker und ein bekannter Erforscher der Pyrenäen. Coxe schlug dagegen eine geistliche Laufbahn ein. Sie führte ihn über das King’s College in Cambridge und eine Tätigkeit als Reisebegleiter des Adels auf ein Erzdekanat einer englischen Diözese. Seine Darstellung der Glarner Landsgemeinde war deutlich nüchterner als diejenige seines Übersetzers. Er stellte einfach fest, dass die Regierung «entirely democratical» und der Landammann «the chief of the republic» sei und machte Angaben über den Wahlmodus, die politische Berechtigung und die gewöhnlichen Geschäfte. Trotz «den natürlichen Defekten einer demokratischen Verfassung» erhielt die Landsgemeinde auch von seiner Seite viel Zustimmung. «Allgemeine Freiheit (liberty), allgemeine Unabhängigkeit und Befreiung von willkürlichen Steuern sind Segnungen, welche jenen Mangel an Verfeinerungen zur Genüge kompensieren, die durch Reichtum und Luxus eingeführt werden.» Allerdings könne eine solche Art von «allgemeiner Demokratie» nur in kleinen Staaten funktionieren, wo es keine sehr reichen Personen gebe.22

Ob republikanische Verfassungen nicht nur in kleinen, sondern auch in grossen Staaten praktikabel seien, wurde mit der angelaufenen Amerikanischen Revolution und der bald einsetzenden Französischen Revolution zu einer höchst aktuellen Frage. Aber schon die Frage, ob die Landsgemeinde wirklich demokratisch sei, war umstritten.23 Immerhin hatte sich ihr Ansehen gegenüber früheren Zeiten wesentlich verbessert. Es ist bekannt, dass das 16. und das 17. Jahrhundert – auch auf der ideellen Ebene – der Monarchie gehört hatten. Die meisten Staatstheoretiker hielten die Demokratie damals für eine ineffiziente und ungerechte Pöbelherrschaft, kaum besser als Anarchie. Lokalisiert wurde diese «schlechte» Verfassung vor allem in den Zentralalpen: in Graubünden und in den eidgenössischen Länderorten mit ihren Landsgemeinden.24 Als sich dann im 18. Jahrhundert die Koordinaten des europäischen Diskurses verschoben, als die Monarchie kritisiert und die Demokratie aufgewertet wurde, waren es gerade jene Gebiete, die sich zur politischen Idealisierung eigneten. Einerseits wegen ihres Rufs als historische Bezwinger des Adels, andererseits wegen ihrer aktuellen Staatsform. An dieser hatte sich zwar wenig verändert, doch plötzlich war die Umgebung positiv gestimmt. Auch die seit Langem gerühmte Freiheit nahm einen anderen Klang an.

Denkmäler der Freiheit

In der ständischen Gesellschaft der frühen Neuzeit sprach man von Freiheit meist im Plural und in einem partikulären und korporatistischen Sinn. Die «Rechte und Freiheiten» (jura et libertates) bezeichneten einen speziellen Status und Privilegien von lokalen, regionalen und anderen Körperschaften. Über diese Freiheiten konnte man reden, ohne die Gleichheit mitzudenken. Der Begriff galt für Adels- und Fürstenherrschaften ebenso wie für die wenigen Landschaften mit republikanisch-demokratischen Verfassungen. Von dieser älteren Verwendung unterschied sich die Freiheit im modernen Sinn, als allgemeinen männlich-individuellen Anspruch, der mit der Aufklärung ins Zentrum der Debatte rückte und sich mit dem Aufkommen einer Staatsbürgergesellschaft verfestigte.25 Die Intellektuellen, die in den Alpen ihre bürgerlichen Ideale suchten, hatten den letzteren Freiheitsbegriff verinnerlicht und trafen auf Einheimische, die zunächst mehrheitlich einer älteren Sprache verhaftet blieben. Nicht selten fiel schon die praktische Verständigung schwer, und auch in den Landsgemeindeorten war Freiheit eben nicht gleich Freiheiten. Besonders gut lässt sich die politische Aufladung der neuen Konzeption beobachten, wenn sie mit materiellen Symbolen operierte wie bei den kurzen Alpenauftritten von Louis-Sébastien Mercier und Guillaume-Thomas Raynal.

Louis-Sébastien Mercier, ein höchst umtriebiger Literat und Journalist aus Paris, bekannt für seinen utopischen Roman L’an 2440 und seine epischen Sittengemälde der französischen Hauptstadt (Tableaux), flüchtete 1781 in die Schweiz, weil er fürchtete, wegen seinen Publikationen verfolgt zu werden. Dort betätigte er sich weiterhin schriftstellerisch und besuchte mehrere Städte, unter anderem Luzern. Das Neuste, was man in diesem noch ziemlich mittelalterlich anmutenden Ort am Alpenrand besichtigen konnte, war ein grosses Relief der Zentralschweiz. Darauf liess sich die abwechslungsreiche Landschaft bis ins Detail erkennen: die Verästelungen des Vierwaldstättersees, der Übergang vom leicht hügeligen Mittelland über die Voralpen zum Hochgebirge mit seinen eigenwilligen Gipfelformen, dazu die vielen Fliessgewässer und die winzigen Strassen und Siedlungen der Menschen. Das minutiös nach der Natur angefertigte Relief zeigte ein Gebiet von rund 3500 Quadratmetern mit einer Berglandschaft, die noch niemand aus dieser erhöhten Perspektive überblickt hatte. Es stand in einem Zimmer von Franz Ludwig Pfyffer. Der gewesene Militärunternehmer in französischen Diensten und einflussreiche Staatsmann hatte sich seit drei Jahrzehnten mit der topografischen Vermessung des Raums und mit der Anfertigung dieser Suisse miniature befasst. Sie wurde, wie zahlreiche Erwähnungen in Reiseberichten bezeugen, ein enormer frühtouristischer Erfolg. Besonders begeistert und politisch äusserte sich Mercier über das modellierte Gipfelmeer:

«Das Auge entdeckt, dass der Despotismus in diesen hoch gelegenen Gegenden nie seine Unverschämtheit ausbreiten kann, denn indem er um einige Toisen [Masseinheit von 1,8 Metern] höher steigt, tritt der Unterdrückte das Haupt seines Unterdrückers nieder. Die Bergler sind geboren, um frei zu sein, und man kommt dort nicht im Entferntesten auf den Gedanken, dass es Menschen geben könnte, die mit dem Vorrecht geboren wurden, gebieterisch über andere zu herrschen.»26

Fast zur gleichen Zeit wie Mercier flüchtete der Abbé Guillaume-Thomas Raynal in die Schweiz, und zwar aus ähnlichen Gründen. Die von ihm herausgegebene Histoire des deux Indes, in welcher er den Kolonialismus, die Sklaverei und die Eliten in den Mutterländern kritisierte, wurde 1781 in Paris vom Henker öffentlich verbrannt. Dies kam Raynal offenbar zupass. Die Zensur machte ihn weitherum berühmt, sodass er auf seinen Reisen ständig Einladungen von besten Gesellschaften erhielt. Schon vor der Buchverbrennung scheint er auf die Idee gekommen zu sein, ein weiteres Zeichen zu setzen und den drei ersten Eidgenossen auf der Urner Rütliwiese ein Freiheitsdenkmal zu stiften. Dafür wollte er eine ansehnliche Summe auslegen, «mit so grosser Hochachtung ist er gegen unsere Freyheits Erretter durchgedrungen», wie eine Zeitschrift in Zürich meinte. Doch die Antwort aus Uri liess das Argument nicht gelten. Solange jeder Rechtschaffene, wenn er mit dem Schiff am Rütli vorbeifahre, ehrfürchtig den Platz des ersten Bundes besichtigte, dabei der Vorväter gedenke und Gott für die Freiheit danke, solange brauche es da «kein steinernes Denkmal». Auch in Kreisen der Aufklärer gingen die Meinungen über den Plan auseinander. Vorgesehen war zuerst ein neun Meter hoher Obelisk mit einem vergoldeten Tellenapfel an der Spitze. Goethe teilte einem Schweizer Freund mit, dieses Denkmal werde sich in der gewaltigen Natur armselig ausmachen; er hoffe, dass es nicht zustande käme. Die Chancen waren gering. Erst als sich der angesehene Franz Ludwig Pfyffer dafür einsetzte (so konnte er den Reisenden neben seinem Relief ein weiteres Angebot machen), gelang die Realisierung in veränderter Form. Statt auf der symbolisch bedeutsamen Urner Wiese, wurde ein redimensioniertes Denkmal auf einem Inselchen in der Nähe von Luzern errichtet, wo der Schiffsverkehr vorbeikam. Die mehrheitlich lateinische, von einer französischen Akademie abgesegnete Inschrift pries die drei Eidgenossen und die von ihnen errungene «libertas». Aber nicht sehr lange – 1796 schlug ein Blitz in den Tellenapfel und zerstörte das Monument. Obwohl es sich bei Reisenden einiger Beliebtheit erfreut hatte, wurde es nicht mehr aufgebaut.27


Abb. 5: Vierwaldstättersee mit dem Denkmal des Abbé Raynal. Das Monument wurde errichtet «zu Ehren der drei ersten Gründer der helvetischen Freiheit», heisst es auf der Umrissradierung von Christian von Mechel 1786.

Wie also sahen die Alpen der Aufklärung aus? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sie in den 1770er- und 1780er-Jahren als Altar für einen modernen Freiheitskult und als hochgelegener Hort des europäischen Republikanismus erschienen. Die Inkubationszeit für diese symbolische Raumaneignung hatte lange gedauert, doch nach dem Siebenjährigen Krieg nahm der freiheitlich-republikanische Diskurs massiv zu. Obwohl es davon verschiedenste Varianten gab, erreichte er insgesamt eine Intensität, die einen auch nachträglich staunen lässt. Dass der Kult gerade hier stattfand, hatte teilweise historische Gründe. Das eidgenössische und bündnerische Berggebiet stand seit dem Spätmittelalter und vermehrt seit dem 16. Jahrhundert im Ruf der Adelsfeindschaft und Volksherrschaft, was von der neuen Gesellschaftskritik positiv gewertet wurde. Wichtig war auch die landschaftliche Ausstattung: Der Diskurs fand vor den Kulissen einer Berg- und Seenlandschaft statt, für die es in der europäischen Elite eine wachsende Nachfrage gab. Die zunehmende Neugier auf ungewöhnliche Landschaften und die davon ausgelösten Emotionen zeigten sich an den fast von Jahr zu Jahr steigenden Zahlen der Reisenden. Das erneuerte Verhältnis zur Natur hatte seinerseits ideelle Bezüge. Vielfach hörte man die Meinung, dass die Bevölkerung in dieser Umgebung die Unschuld und natürlichen Sitten aus der Kindheit der Menschheit bewahrt hätten, also noch nicht von der künstlichen und korrupten Zivilisation befallen worden seien.