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Im Hause des Kommerzienrates

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20

Käthe wanderte lange ziellos durch den Park, durch alle Laubgänge und Alleen in die entlegensten Partien hinein. So aufgeregt, wie sie war, mochte sie der Tante Diakonus nicht unter die Augen treten; sie wusste, die alte Frau würde teilnahmsvoll fragen, und dann musste sie beichten, und wahrscheinlicherweise gehörte die alte Freundin auch zu denen, die ihre Verbindung mit dem Kommerzienrat wünschten – sie machten ja in dem Punkte alle Front gegen sie, Flora, Henriette, der Doktor. Egoisten waren sie alle, das wusste sie nun. Aber sie ließ sich nicht in den glänzenden Käfig sperren; sie flog ihnen davon. Das dachte sie bitter, mit finsterem Trotze und blieb einen Augenblick mit müden Füßen vor der Ruine stehen, bis wohin sie sich verirrt hatte. Die Sonne stand schon tief – es war Abendsonnenlicht, das die Lüfte, den dunklen Tannenwald im Hintergrunde und den flutenden Wasserring um die Ruine von zwei Seiten her mit Purpur- und Goldtinten glühend tränkte und färbte. Wie ein Gebild aus schwarzem Marmor hob sich die Hügelform mit dem Turme von dem glitzernden Grunde, und die vollblätterige Nussbaumgruppe stand vor ihr wie eine vielzackige dunkle Silhouette, durch deren Geäst nur da und dort die Farbengluten tropften.

Mit einem feindseligen Blick starrte das junge Mädchen über das Wasser hinüber. Dort oben, wo die schwere, dunkelrote Seidengardine hinter der mächtigen Spiegelscheibe wie ein unheimlicher Blutstrom niederrollte, stand der vielberufene Geldschrank.  Bis dahin hatte sie ihn gefürchtet; heute hasste sie diese vier engen eisernen Wände, die ihr Ich, ihr warmschlagendes Herz aus dem Dasein löschten und sich selbst an die Stelle eines jungen Mädchens mit idealen Hoffnungen und Wünschen und tiefer Sehnsucht nach wahrem, stillem Lebensglück drängten. Wer auch kam und um ihre Hand freite, er liebäugelte mit dem eisernen Ungetüm, das sich an ihre Fersen heftete; jeder Blick, der begehrend auf sie fiel, galt der Millionärin, jeder warme Händedruck dem Papiergespenst, »das immer neue Summen aus der Welt an sich zog.« Und das bedachte der Herr Kommerzienrat von Römer auch – der reiche Mann wollte noch reicher werden. Wahrlich, heimtückischer war das Nagen des Wurmes auch nicht, das allmählich von innen eine köstliche Frucht verzehrte, als dieser ewig bohrende, das Selbstgefühl vernichtende Gedanke, den Flora boshaft lachend in die Seele der jungen Schwester geschleudert.

Und dort unten, an der Basis des Turmes gähnte die dunkle Kellerluke, wo die kostbaren Weine des reichen Mannes feurig gegen die einzwängenden Fassdauben und Flaschen pochten. Der Kommerzienrat hatte erst kürzlich wieder die Präsidentin und seine drei Schwägerinnen hinuntergeführt. Die Eisenbahn hatte wieder einmal zahllose Fässer und Körbe herangerollt, und sie alle fanden Platz in den mächtigen Gewölben, die ihre Steinbögen weit und tief in den Leib des Hügels hineintrieben.

Es wehte eine herrlich kühle, reine und trockene Luft da unten; die Steinfliesen des Fußbodens blinkten wie poliert; kein Staubkörnchen, nicht das dünnste Spinnwebfädchen hing an den Steinrippen, die sich oben zur Kuppel kreuzten, und das Kellergerät, das Trinkgeschirr, die grünen Römer, die Champagnergläser, alles funkelte und gleißte; man sah, dass hier dienende Hände ohne Unterlass fegten und spülten, strenger und peinlicher als im glänzenden Salon. Und da, wo die edelsten Sorten, Fass an Fass, lagerten, wo nur ein schwacher Schein des Tageslichtes hoch oben an der Gewölbdecke dämmerte, da standen auch in der dunkelsten Ecke die zwei Tonnen mit dem historischen Schießpulver, so frisch und unversehrt, dass Käthe neulich lachend gemeint hatte, die ehrwürdigen Reliquien würden wahrscheinlich von Zeit zu Zeit erneuert, wie der berühmte Tintenfleck auf der Wartburg. Diese Ecke aber war und blieb ihr unheimlich; sie begriff nicht, wie der reiche Mann sie Tag und Nacht unter seinen Füßen dulden konnte; und wenn sie sich auch nur die gespenstige Ahnfrau der Baumgarten mit umherleuchtender Fackel hin- und herirrend dachte, dann sträubte sich ihr das Haar.

Ihr Blick stieg an den geschwärzten Quadern empor – ein einziger Funke, der von dem Kellerlicht wegsprang – und das alte wie für die Ewigkeit gekittete Turmgefüge barst auseinander, und alles, was Menschenhände an Schätzen in dem Mauerviereck gierig zusammengerafft, es stürmte, in Atome zerstückelt, gen Himmel. Auch die eisernen Wände zersprangen, und die Papiere, an denen der Fluch der Bedürftigen hing, zerstoben und zerflatterten nach allen Winden.

Dem jungen Mädchen graute vor der eigenen Seele, durch die der Gedanke huschte, es möchte so sein, auf dass ihr Ich erlöst werde von der goldenen Maske, nach der die Gelddurstigen strebten. Entsetzt vor dem Bilde der Zerstörung, das die eigene Phantasie heraufbeschworen, hatte sie die Augen bedeckt, und nun ließ sie die Hände sinken und sah tiefaufatmend in die blaugoldigen Lüfte, in welchen, hoch über dem Turme, Henriettens Taubenscharen kreisten, und dort vor dem Fenster des scheinbar schiefhängenden Mauerstückes, das auf seinem Rücken den letzten herrlichen Kolonnadenrest trug, hing der Amselbauer des dort hausenden Dieners. Rosmarin und Goldlack standen auf dem Sims, und darüber her fiel eine Gardine maiengrüner und maienduftender Hopfenranken. Das Vögelchen sang aus allen Kräften in das Gelärm der flügelklatschenden Tauben hinein, und den grasigen Abhang herab waren geräuschlos die Rehe gekommen und äugten über das Wasser hinweg nach dem großen schlanken Menschenkind, das eben so hässlich, so verzweiflungsvoll geträumt hatte.

Die Rehe und die Tauben kannten sehr gut das junge Mädchen, das stets in den Taschen Brot und Körner mitbrachte, aber heute hatte sie nur ein stummes Abschiedwinken mit der Hand für sie, ob auch das Taubenvolk sich jetzt auf den Rasen niederstürzte und seine Kecksten rekognoszierend und bettelnd auf die Brücke vorausschickte. Käthe ging weiter am Flussufer hin, und bald mischte sich ferner Kinderjubel mit dem Rauschen des Wassers. Die kleinen Schülerinnen der Tante Diakonus spielten noch im Garten, und trotz der tiefen Niedergeschlagenheit, trotz der Seelenschmerzen, deren Wesen und Ursprung sie zum Teil nicht einmal begriff, weckten diese Laute ein warmes Freudengefühl in Käthe. Ach nein, die kleinen Geschöpfe da drüben mit den unschuldigen Augen und den jungen fröhlichen Herzen sahen nicht die Millionärin in ihr; sie wussten noch nichts von dem eisernen Geldschranke; sie nahmen unbefangen und dankbar das gereichte Vesperbrot und fragten nicht, wer es bezahlt habe. In den jungen Seelen lebte sie als die Tante Käthe, um deren Liebesbeweise man sich stritt und zankte, welcher man sehnsüchtig entgegenlief und in deren Ohr das ängstliche Bekenntnis kleiner Vergehen oder die weinende Klage über ein erlittenes Unrecht vertrauensvoll geflüstert wurden. Nein, dort wurde sie geliebt, aufrichtig geliebt um ihrer selbst willen.

Sie verdoppelte ihre Schritte; je näher sie dem Hause kam, desto mehr wurde ihr zu Sinne, als kehre sie heim aus der Irre. Dort trat die Magd zwischen den zwei gewaltigen Pappeln hervor, die zu beiden Seiten der Brücke standen, und wanderte, den Henkelkorb am Arme, nach der Stadt, um die Abendeinkäufe zu machen – das war auch eine treue Seele, die nicht um des Geldes willen an der Herrschaft hing; ihr gutmütiges, offenes Gesicht gehörte so recht in das gemütliche Heimwesen am Flusse.

Von den Kindern war nichts zu sehen, als Käthe über die Brücke kam – sie spielten hinter dem Hause; dafür machte sich der Haushahn umso breiter auf dem Rasenplatze; er schlug mit den farbenglänzenden Flügeln und krähte, dass es weit über das Feld hingellte; die Hühner unterbrachen ihr Scharren und schielten mit schiefgehaltenem Kopfe nach der Mädchenhand, die ihnen oft Futter hinstreute, und der Hofhund begnügte sich mit einem begrüßenden Schwanzwedeln. Er war jetzt gut Freund mit Käthe, bellte sie nie an und hatte sich mit der Zeit so viel Bildung angeeignet, die gelbe Henne nunmehr auch unangefochten vor seiner Nase hinspazieren zu lassen.

Die Haustür stand weit offen, und die Magd war ausgegangen; mithin befand sich die Tante im Hause. Käthe stieg eben die Stufen seitwärts hinauf, als sie im Flure den Doktor sprechen hörte. Wie festgewurzelt blieb sie stehen.

»Nein, Tante, der Lärm belästigt mich. Meine Kopfnerven machen mir augenblicklich zu schaffen«, sagte er. »Wenn ich mich für Momente in den grünen Winkel hier flüchte, so will ich ausruhen; ich brauche Ruhe, Ruhe.« – War er es wirklich, der gelassene Mann, in dessen Stimme so viel nervöse Ungeduld, so viel zitternde Pein mitsprach? »Es ist ein Opfer, das ich von Dir verlange, Tante, ich weiß es, aber trotz alledem bitte ich Dich dringend, diese Unterrichtsstunden für die wenigen Monate, die ich noch hier sein werde, auszusetzen. Für diese Zeit will ich herzlich gern ein Zimmer in der Stadt mieten und eine Lehrerin bezahlen, damit Deinen Schülerinnen kein Nachteil erwächst –«

»Um Gott, Leo, Du brauchst ja nur zu wünschen«, unterbrach ihn die Tante erschrocken. »Wie konnte ich denn ahnen, dass Dir dieser Verkehr plötzlich so unangenehm ist? Nicht ein Laut mehr soll Dich stören – dafür lasse mich sorgen! Mich dauert nur eines dabei – Käthe –«

»Immer dieses Mädchen!« brauste der Doktor auf, als verliere er bei dieser leisen Klage den letzten Rest von Geduld und Selbstbeherrschung. »An mich denkst Du nicht.«

»Aber ich bitte Dich, Leo, was ficht Dich an? Ich glaube gar, Du bist eifersüchtig auf die Liebe und Zuneigung Deiner alten Tante«, rief die alte Frau erstaunt und ungläubig lachend.

Er schwieg; das junge Mädchen draußen hörte, wie er einige Schritte nach der Haustür machte.

»Meine arme Käthe! Es ist völlig undenkbar, dass ihr geräuschlos wohltuendes Walten, ihre ganze Erscheinung irgendeinem Menschen auf Gottes Erde unangenehm sein könnte«, sagte die Tante, leisen Trittes ihm nachgehend. »Ich habe noch kein Mädchen gesehen, das so prächtig Kindesunschuld und Frauenwürde, Verstandesschärfe und Innigkeit des Gemütes in sich vereinte. Das zieht mich unwiderstehlich zu ihr hin, und ich meine, so ungerecht dürfte auch mein Leo nicht sein, dass er neben seiner vergötterten Braut kein anderes weibliches Wesen gelten ließe.«

 

Käthe schrak zusammen – der Doktor brach in ein sardonisches Gelächter aus, so laut und erschütternd, dass sie sich davor entsetzte. Unwillkürlich hob sie den Fuß zur Flucht – nein, sie blieb. Das spöttische Lachen galt ihr – sie wollte wissen, wie der Doktor die gute Meinung der Tante, die ihr Allerdings die Glut der Beschämung in die Wangen trieb, widerlegen werde.

»Du bist sonst eine so kluge, klarsehende Frau, Tante, aber hier lässt Dich Dein Scharfblick kläglich im Stich«, sagte er, das Lachen in jäher, unheimlicher Weise abbrechend. »Immerhin! Ich werde selbstverständlich Deine Ansichten nicht anfechten – wer vermag sich denn selbst in das Gesicht zu schlagen? Ich habe Dich nur um eines zu bitten: dass unser Zusammenleben bis zu meiner Abreise sich genau wieder so gestalte, wie es vordem war – wir wollen allein sein. Du hast Dich früher ohne die Gesellschaft junger Damen vollkommen zufrieden gefühlt; suche Dich für die wenigen Monate meines Hierseins wieder in die ungestörte Einsamkeit zu finden – ich will niemand hier aus- und eingehen sehen.«

»Also auch Käthe nicht?«

Ein starkes Aufknirschen des über die Steinfliesen hingestreuten Sandes drinnen ließ das junge Mädchen vermuten, dass der Doktor ungeduldig mit dem Fuße auftrete. »Tante, soll ich denn durchaus gezwungen werden –« rief er erbittert, seine Stimme war kaum zu erkennen.

»Behüte Gott – alles wie Du willst, Leo!« unterbrach ihn die alte Frau erschrocken und doch ihr schmerzliches Bedauern nicht verbergend. »Ich werde mich bemühen, die Verbannung so schonend wie möglich einzuleiten, damit sie nicht allzu wehe tut. … Aber, mein Himmel, wie erregt Du bist. Leo, und wie fieberisch Deine Hand brennt! Du bist krank. Du opferst Dich für Deine Patienten. Nun, wenigstens hier in Deinem Heim werde ich Dir Ruhe verschaffen – darauf verlasse Dich! Darf ich Dir nicht ein Glas Limonade mischen?«

Er dankte mit beruhigter Stimme und verabschiedete sich. Käthe hörte, wie die Tante nach der Küche ging, wahrscheinlich, um das verspätete Vesperbrot herzurichten. Gleich darauf trat der Doktor unter die Haustüre.

21

Da, dicht neben der Türeinfassung, lehnte das junge Mädchen an der Wand; mit blassem Gesicht, die Zähne fest zusammengebissen, starrte sie neben dem herabsteigenden Manne weg in die leere Luft – sie wollte ihn nicht sehen.

Er schrak bei ihrem Anblick zusammen und blieb einen Moment wortlos vor ihr stehen, die unbeweglich wie ein Wachsbild in ihrer Stellung verharrte. »Käthe!« rief er leise, ängstlich zögernd wie jemand, der einen in einem schweren Traum Befangenen zu erwecken sucht.

Sie richtete sich in ihrer ganzen Höhe und schlanken Schönheit auf und stieg langsam die Stufen herab. »Was wünschen Sie, Herr Doktor?« fragte sie, drunten auf dem Rasen stehend, über die Schulter nach ihm zurück. Auch diese Bewegung hätte noch den Eindruck des Automatenhaften gemacht, wäre nicht der empört flammende Blick gewesen, den sie jetzt auf den Doktor richtete.

Er errötete heiß wie ein Mädchen und trat zu ihr. »Sie haben gehört –« fragte er unsicher, aber gespannt in jeder Gesichtslinie.

»Ja«, unterbrach sie ihn bitter lächelnd, »jedes Wort, und habe damit selbst schlagend bewiesen, wie recht Sie tun, Ihr Haus von fremden Eindringlingen zu säubern – die Wände haben Ohren.« – Sie ging noch einige Schritte vom Hause weg, als könne sie nicht entfernt genug von der Schwelle stehen, die sie nicht mehr betreten sollte.

Er hatte sich währenddem gefasst; er warf seinen Hut auf einen Gartentisch in Käthes Nähe und richtete seine hohe Gestalt aus der vorgeneigten Stellung empor, die er im ersten Zusammenschrecken angenommen. Aus seinen Wangen war die Röte gewichen, aber es sah aus, als atme er auf, als sei es ihm erwünscht, dass eine solche Wendung eingetreten, dass ihm der Zufall zu Hilfe gekommen sei. »Die Furcht belauscht zu werden hat keinen Teil an dem, was ich vorhin meiner Tante ausgesprochen. Dieses stille Haus hat keine Geheimnisse, und das, was man in seine Brust verschließen muss, wird auch nicht laut zwischen Wänden, die keine Ohren haben«, sagte er mit ruhigem Ernste. »Sie haben jedes Wort gehört – dann wissen Sie auch, dass mich nur der Wunsch nach momentanem Ausruhen bestimmt, ungestörte Stille zu fordern. Ich muss es leider gleich von vornherein aufgeben, diesen meinen rohen Egoismus entschuldigend zu motivieren. Sie können sich sicher nicht denken, dass es Seelen gibt, die fortgesetzt gleichsam auf der Flucht sind vor Gedanken und – Gestalten, aber vielleicht wird es Ihnen leichter, sich den schmerzlichen Zorn, die Qual eines Verfolgten vorzustellen, der erschöpft dem schützenden Heim zueilt und gerade da sich vor denen sieht, die er flieht.«

Sie sah mit ihren klugen Augen scheu prüfend zu ihm empor, der ihr während des Sprechens nähergetreten war. Ja, es war ihm tiefer Ernst mit dem, was er sagte; er schilderte nicht nur die Qual eines solchen Verfolgten, er empfand sie auch in diesem Augenblicke wirklich und leibhaftig, das sah sie an seinem seltsam verstörten Blicke, an dem fahlen Erbleichen, das sein Gesicht gleichsam überschauerte; allein – vor seiner Braut floh er doch nicht, auch auf die unschuldigen Kinder konnte sich das Gesagte unmöglich beziehen; sonst aber verkehrte niemand hier – außer ihr; mithin verhielt es sich in Wirklichkeit so, wie sie sich bereits tiefverletzt eingestanden: sie war ihm als Zeugin verschiedener Auftritte zwischen ihm und Flora lästig und unerträglich geworden; er mochte ihr wenigstens in seinem Hause nicht mehr begegnen, und die Unterrichtsstunden wurden nur sistiert, um ihr jeden Vorwand zum ferneren Aus- und Eingehen abzuschneiden. Diese Überzeugung machte ihre lieblichen Züge in dem Ausdrucke eisig lächelnden Unglaubens förmlich erstarren.

»Sie haben gar keine Verpflichtung, Ihre strenge Maßregel zu motivieren – Sie sind Herr hier, und das genügt«, versetzte sie frostig. »Aber welche unbegrenzte Verehrung müssen Sie für die Frau Baronin Steiner hegen, dass Sie ihr die heißersehnte Ruhe opfern und ihren ungebärdigen Enkel samt Gouvernante in das Haus nehmen wollen!« – Das war eine herbe Zurechtweisung aus dem Mädchenmunde, der allerdings stets fest zu sprechen gewohnt war, noch nie aber gezeigt hatte, bis zu welcher Schneidigkeit die weiche Glockenstimme sich schärfen konnte. »Ach nein, tun Sie das nicht!« rief sie in plötzlicher leidenschaftlicher Steigerung und streckte die Hand gegen ihn aus, als er überrascht und betreten die Lippen zu einer Entgegnung öffnete; »ich möchte nicht, dass Sie sich aus leidiger Höflichkeit zu einer Bemäntelung herbeiließen, und anders sprächen, als Sie denken. – Weiß ich doch nur zu gut, welche Beweggründe Sie leiten!« Sie kämpfte sichtlich zornige Tränen nieder. »Ich habe einige Mal ungeschickter Weise Ihren Weg gekreuzt und begreife vollkommen die Erbitterung, mit welcher Sie vorhin sagten: ›Immer dieses Mädchen!‹ … Ich kann mir ja selbst dieses Ungeschick nie verzeihen, obgleich ich in Wahrheit nur ein einziges Mal schuldig gewesen bin, d. h. mit Vorbedacht mich eingemischt habe. Sie aber gehen noch unerbittlicher mit mir ins Gericht – Sie verfolgen mich dafür.«

Doktor Bruck widersprach mit keinem Worte, allein es war, als schließe er gewaltsam die Lippen gegen die Versuchung, zu sprechen. Seine Augen sahen seitwärts mit einem festen, ausdrucksvollen Blick auf sie nieder, und die Rechte, die er auf den Gartentisch gestützt hatte, zog sich wie im Krampfe zusammen. In dieser Stellung, in allen Linien seines schönen Gesichts lag das Grundgepräge dieses Männercharakters, die Verschlossenheit, die Willenskraft, die sich nur im äußersten Falle eine Erklärung abringen lässt.

»Ich bin mit innerem Widerstreben hierher zurückgekehrt«, hob sie wieder an. »Die alte Dame da drüben« – sie zeigte in der Richtung nach der Villa Baumgarten – »hat mit ihrem Präsidentenstolz meine Kindheit vergiftet, wo es ihr irgend möglich war, und die bitteren Tränen, die sie mit ihrer fortgesetzten Impertinenz meiner armen Lukas damals erpresst, kann ich ihr nie vergessen. Sie wissen, wie mir bei meiner Ankunft vor dem Zusammentreffen mit meiner geistesstolzen Schwester Flora bangte, und wie ich angesichts der Villa am liebsten Kehrt gemacht und zur selben Stunde die Rückreise in mein Dresdener Heim angetreten hätte – wäre ich doch gegangen! Neben dem Beamtenstolze und der geistigen Überhebung macht sich nun auch der unerträgliche Geldhochmut breit – es weht eine von Goldstaub und Anmaßung erfüllte Luft dort drüben, in der auch das lebensfrischeste Denken und Empfinden verkümmern muss. Meiner ganzen Natur nach bin ich unfähig, in einem solchen Boden Fuß zu fassen, aber hier« – mit gehobenem Arme deutete sie über Haus und Garten hin – »hier war ich heimisch; hier hätte ich selbst meine Dresdener Heimat vergessen können, warum – ich weiß es ja selbst nicht.«

Wie lieblich stand sie im schneeweißen Kleide da, den flechtengeschmückten Kopf sinnend gesenkt! »Die alte prächtige Frau hat mir’s angetan, glaub’ ich«, setzte sie mit einem hellen Aufblicke hinzu, »ihre edle, einfache Erscheinung verhilft mir immer wieder zu innerem Gleichgewicht; sie geht leise und geräuschlos ihren Weg, und wenn man auch nie einen eigentlichen Widerspruch von ihren Lippen hört, nie ein eigensinniges Beharren bemerkt, so weicht sie doch nicht um eine Linie von dem, was sie für gut und recht hält, ab. Das tut wohl im Hinblicke auf so viel inhaltslose Vornehmtuerei, auf so viel lügenhafte Aufbauschung und Aufgeblasenheit und auch – so manche beklagenswerte Schwäche, in die leider selbst der männliche Geist verfallen kann.« Die Brauen finster faltend, warf sie einen kleinen, blütenschweren Zweig, den sie unterwegs gepflückt und bisher spielend zwischen den Fingern gedreht hatte, verächtlich weit von sich.

Diese eine Bewegung reizte und empörte den vor ihr stehenden Mann sichtlich. Ein düsteres Feuer glomm in seinen Augen auf – er hatte sie verstanden. »Sie haben vorhin eine Tugend der ›alten, prächtigen Frau‹ aufzuzählen vergessen: die Milde und Vorsicht im Richten«, sagte er scharf und strafend. »Nie würde sie ein so unbedingt verdammendes Urteil in der unfehlbaren Weise aussprechen, wie Sie eben getan, weil sie weiß, wie leicht man missversteht, und dass gar manchmal – wie es sich denn auch in dem von Ihnen betonten Fall verhält – gerade hinter der vermeinten Schwäche sich ein Aufbieten aller inneren Kraft verbirgt.« Er sprach in heftiger Steigerung; die schlichte Gelassenheit, die er nicht einmal bei dem mächtigen Wechsel seiner Lebensstellung auch nur momentan eingebüßt, war von ihm gewichen.

Wohl senkte Käthe in der ersten Bestürzung die Wimpern tief auf die heißen Wangen, aber sie fühlte sich im Recht; er war namenlos schwach gegen sich selbst, in seiner Liebesleidenschaft, wie in seiner Abneigung – das letztere hatte sie ja eben an sich selbst erfahren müssen. Sie warf trotzig den Kopf zurück.

In diesem Augenblicke kamen die kleinen Schülerinnen im Haschespiele um die Hausecke gelaufen. Käthe erblicken und jubelnd auf sie losstürmen war Eins. Dass der Doktor mit seinem tiefverfinsterten Gesicht neben dem Mädchen stand und die Hände abwehrend ausstreckte, kümmerte die fröhliche Schar nicht – im Nu war die schlanke, weiße Gestalt umringt; die kleinen Hände stießen und drängten sich gegenseitig weg, jedes wollte die Ärmchen um »die schöne Tante« legen, oder wenigstens eine ihrer Hände erhaschen.

Trotz ihrer inneren Bewegung hätte Käthe beinahe hell aufgelacht; denn so fest sie auch auf ihren Füßen stand, sie schwankte unter dem Anpralle der elastischen Kinderleiber und konnte sich ihrer kaum erwehren, der Doktor aber ergrimmte, wie sie ihn noch nie gesehen. Er schalt die Kleinen zudringlich, schob sie unsanft weiter und gebot ihnen mit harter Stimme, sich wieder hinter das Haus zu verfügen und dort zu warten, bis man sie entlasse.

Die Kinder schlichen betrübt und eingeschüchtert davon.

Käthe biss sich auf die Unterlippe, und ihr umflorter Blick verfolgte die kleinen Mädchen, bis sie hinter der Hausecke verschwunden waren. »Wie gern ginge ich mit ihnen, um sie zu beruhigen, aber ich werde natürlich nicht um einen Schritt auf dem Terrain zurückgehen, das ich bereits für immer verlassen habe«, sagte sie mit einem Gemisch von Schmerz und heftigem Zürnen.

»Beruhigen!« antwortete der Doktor in persiflierendem Tone. »Möchten Sie mich nicht auch noch zum Unmenschen stempeln, wie ich vorhin als Schwächling bezeichnet wurde? – Trösten Sie sich – solch’ ein Kindergemüt trägt die Beruhigungsmittel in sich selber; Lachen und Weinen wohnen eng zusammen. Hören Sie, wie dort drüben bereits wieder gekichert wird?« – Er zeigte mit einem flüchtig um seine Lippen spielenden Lächeln über die Schulter zurück. »Ich wette, das gilt mir und meiner Strenge. Ich habe um Ihretwillen die ausgelassene Schar in die Schranken gewiesen – ich konnte das nicht sehen; wie mögen Sie es dulden, dass man Sie heftig attackiert? Die Kinder sind schlecht erzogen –«

 

»Weil sie mich lieb haben? Gott sei Dank, dass es so ist! Ja, Gott sei Dank, dass ich wenigstens da noch glauben darf!« rief sie, die festverschränkten Hände auf die Brust pressend. »Oder wollen Sie mich vielleicht auch angesichts dieser Zuneigung glauben machen, dass der Zärtlichkeitsbeweis einzig und allein meinem Geldschranke gelte? – Ach nein, auf dieser trostvollen Überzeugung stehe ich fest; da lasse ich mich nicht auch weghetzen – darauf verlassen Sie sich!« Wie herzzerschneidend klang diese bittere Verwahrung von den jungen Lippen!

Er trat erstaunt zurück.

»Welche seltsame Idee –«

»Ach, ist es Ihnen wirklich so verwunderlich, dass ich endlich aufgerüttelt bin aus meiner mehr als kindischen Vertrauensseligkeit, die da gemeint hat, warmes Fühlen und braves, redliches Wollen gelten auch etwas in der Welt? Nicht wahr, es hat lange genug gedauert, bis der schwerfällige deutsche Michel in meiner Seele die Augen aufgeschlagen hat, um zu sehen, dass er sich unsterblich lächerlich mache mit seinen altmodischen Ansichten von gut und schlecht, von Wahrheit und Lüge?« Sie wurde ganz blass und schauerte in sich zusammen. »Es ist etwas Schreckliches um die plötzliche Erkenntnis, dass man eigentlich gar nicht mehr existiert als das, was man ach eingebildet hat zu sein, als ein junges Menschenkind mit der Berechtigung, dereinst auf seine Art glücklich zu werden.«

Er wandte schweigend die Augen von ihr weg, und sie fuhr nach einem tiefen Atemholen fort: »Sie haben mich bei unserer ersten Begegnung gefragt, wie ich mein plötzliches Reichwerden auffasse; ich bin erst in diesem Augenblicke fähig, Ihnen darauf die richtige Antwort zu geben. Ich komme mir vor, wie verunglückt in diesem Geldmeere; es strecken wohl viele die Hand aus, aber nicht, um mich meiner selbst wegen an sich zu ziehen, sondern nur, weil die Goldwogen mir folgen.«

Der Doktor fuhr wie entsetzt empor. »Um Gott, wie kommen Sie zu dieser grauenhaften Vorstellung?«

Sie lachte herzerschütternd auf. »Das fragen Sie noch? Zwingt man mich nicht täglich, stündlich, diese grauenhafte Vorstellung mit der Gottesluft zu atmen, mit jedem Tranke zu schlürfen? Da soll man mich in meinem lieben Dresdener Heim nur kajolieren, weil ich der ›Goldfisch‹ bin; meine Lehrer nähren das schwache Fünkchen des musikalischen Talentes in mir nur um des reichen sicheren Honorars willen, das ich zahle, und der Vormund freit um die Mündel, weil er sie – am besten zu taxieren versteht.«

Sie hatte, indem sie vor sich hinsprach, den Blick ziellos über den Abendhimmel schweifen lassen; jetzt sah sie den Doktor an – er hatte eine Bewegung gemacht, als gehe ein elektrischer Schlag durch seinen Körper. »Ist das bereits Tatsache?« stammelte er und strich sich wiederholt über die Augen, wie wenn ihn ein Schwindel überkomme. »Und es macht Ihnen wohl tiefen Kummer, sich vorstellen zu müssen, dass auch Moritz so denke?« setzte er nach einem augenblicklichen Schweigen gepresst hinzu.

Betroffen horchte sie auf – seine Stimme klang so auffallend matt und gebrochen. »Mehr noch verletzt es mich, dass sich jedes für berechtigt hält, in dieser Angelegenheit mitzusprechen«, entgegnete sie, und ihre schöne, kraftvolle Gestalt majestätisch aufrichtend, stand sie da, die verkörperte Abwehr gegen fremde Anmaßung. Sie schüttelte den Kopf mit einem bitteren Spottlächeln. »Solch ein armer Goldfisch, wie muss er sich allen Ernstes wehren, wenn er nicht in den Händen der Egoisten zum erbärmlichen Spielball werden will, und ich will nicht – absolut nicht! Sehen Sie sich vor, Herr Doktor! Sie gehören auch zu denen, die meinen, ein verwaistes junges Mädchen müsse sich dirigieren lassen, wie der Vorteil, das Behagen anderer sein Kommen und Gehen erheische. Hier verbannen Sie mich, und dort möchten Sie mir eine Kette um den Fuß legen, damit ich bleibe. Ich möchte wissen, was Sie zu dieser Willkür berechtigt, oder nein« – ihre Lippen zuckten im Kampfe mit aufquellenden Tränen – »ich möchte mit Henriette fragen: ›Was habe ich Ihnen getan?‹«

Das letzte dieser in leidenschaftlicher Klage herausgestoßenen Worte erlosch ihr auf den Lippen – der Doktor hatte ihr Handgelenk umfasst. Seine kalten Finger drückten wie Eisen.

»Kein Wort mehr, Käthe!« raunte er ihr in Lauten zu, die sie erschreckten. »Ich weiß zum Glück, dass nicht eine Spur von komödienhafter Falschheit in Ihnen lebt, sonst müsste ich glauben, Sie hätten die raffinierteste Folterqual ersonnen, um mir ein streng behütetes Geheimnis zu entreißen;« er ließ ihre Hand fallen; »aber auch ich will nicht – absolut nicht!«

Er schlug die Arme über der Brust zusammen und entfernte sich um einige Schritte, als wolle er rasch nach dem Hause gehen, aber plötzlich wandte er sich dem wie erstarrt dastehenden Mädchen wieder zu. »Es interessiert mich übrigens, zu erfahren, inwiefern ich Ihnen eine Kette um den Fuß legen möchte, damit Sie bleiben«, sagte er ruhiger. Er kam zurück und blieb vor ihr stehen.

Käthe errötete tief; einen Augenblick zögerte sie in mädchenhafter Scheu, dann aber versetzte sie entschlossen: »Sie wünschen, dass ich die – Herrin in der Villa Baumgarten werde –«

»Ich – ich?« Er drückte die geballten Hände gegen die Brust und brach in jenes hohnvolle Lachen aus, das sie schon vorhin bei seiner Unterredung mit der Tante erschreckt hatte. »Und wie begründen Sie diese Beschuldigung? Warum soll ich wünschen, Sie als Herrin der Villa Baumgarten zu sehen?« fragte er, sich mühsam bezwingend.

»Weil Sie, wie Flora sagt, Henriette nicht so ohne Weiteres ihrem Schicksale überlassen wollen«, antwortete sie mit der ganzen entschlossenen Aufrichtigkeit, die auf eine entschiedene Frage kein Ausweichen zulässt. »Sie finden, dass ich meine arme Schwester mit hingebender Liebe pflege, und um ihr das Haus des Kommerzienrates, unser ehemaliges Vaterhaus, auch als fernere Heimat zu sichern, soll ich die schwesterliche Liebe und Hingebung noch weiter betätigen, indem ich – die Frau des Kommerzienrates werde.«

»Und Sie glauben, dass ich an der Spitze einer derartigen Familienintrige stehe? Sie glauben das ernstlich? Haben Sie vergessen, dass ich mich gleich zu Anfang dieser aufopfernden Pflege und Ihrem längeren Bleiben in Römers Hause widersetzt habe?«

»Seitdem hat sich vieles geändert«, entgegnete sie rasch und bitter. »Sie werden im September M. für immer verlassen; dann kann es Ihnen gleichgültig sein, wer in der Villa schaltet und waltet; Ihr Behagen wird nicht mehr gestört durch eine unsympathische Persönlichkeit –«

»Käthe!« stieß er heraus.

»Herr Doktor?« Sie hielt, den Kopf stolz hebend, seinen flammenden Blick ruhig aus. »Der Gedanke eines solchen Arrangements liegt eigentlich sehr nahe, und nur einem so langsam kapierenden Wesen wie mir konnte es passieren, so lange blind an all’ dem vorüberzugehen«, setzte sie scheinbar gelassen hinzu. Es war etwas Überlegenes in ihrem Tone und Wesen, als sei sie plötzlich um Jahre an Erfahrung und Erkenntnis gereift. »Dann käme kein fremdes Element in den Familienkreis; die ganzen häuslichen Einrichtungen könnten bleiben, wie sie sind, Bequemlichkeiten und Gewohnheiten in der Villa, wie drüben im Turme würden nicht alteriert; nichts, nicht einmal mein eiserner Spind in Moritzens ›Schatzkammer‹ brauchte von seiner Stelle gerückt zu werden; das ist so praktisch gedacht –«